Ferruccio Busoni an Philipp Jarnach arrow_backarrow_forward

Berlin · 17. Juni 1923

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Der Berg kommt zum Propheten (Illustration Busonis)

L. Ph.

So musste der Berg zum Propheten
kommen, was untrüglich darthut,
dass des eisen Glaube Berge versetzte.
Der Berg – kein Eisberg – empfand
die Kühle; aber der Berg – auch
kein Vulcan – konnte sich be-
herrschen. Er humpselte Bei Beaumont 1987 (365) konventionalisierend übersetzt mit: „rolled“. – gleich
einem Ta[…] mindestens 2 Zeichen: unleserlich. nk – den Weg von Berlin
nach Weilheim, und traf den
Propheten, wie er auf Notenpapier
Zauberformeln kritzelte, die
aussahen wie hebräische Schrift.
Der Berg […] 1 Zeichen: unleserlich. stand verwirrt; denn
er empfing vor Tagen ein
Schreiben aus München, in dem
er des ausgesprochenen Anti-
semitismus angeklagt wird.
Nachdem er unverdienter-
massen, jahrzehntelang, des
Judenthums verdächtigt wurde, –
„welche Wendung nach Gottes
Fügung“
! Bei Beaumont 1987 (365) Absatzwechsel nicht hier, sondern bereits vor diesem Satz.

Der Berg kommt zum Propheten (Illustration Busonis)

L. Ph.

So musste der Berg zum Propheten kommen, was untrüglich dartut, dass dessen Glaube Berge versetzte. Der Berg – kein Eisberg – empfand die Kühle; aber der Berg – auch kein Vulkan – konnte sich beherrschen. Er humpselte – gleich einem Tank – den Weg von Berlin nach Weilheim und traf den Propheten, wie er auf Notenpapier Zauberformeln kritzelte, die aussahen wie hebräische Schrift. Der Berg stand verwirrt; denn er empfing vor Tagen ein Schreiben aus München, in dem er des ausgesprochenen Antisemitismus angeklagt wird. Nachdem er unverdientermaßen, jahrzehntelang, des Judentums verdächtigt wurde – „welche Wendung nach Gottes Fügung“!

Aber er kann sich verteidigen. Insofern, als er einen Tag vor diesem Brief die Herren Prof. Weißmann, Prof. Kestenberg und Generalmusikdirektor O. Klemperer bei sich als Besucher hatte. Dieses zionistische Triumvirat (das sich als ein Triumvi-Rat erwies) stellt meinen früheren Ruf reinlich wieder her. Dazu kommt meine Prädilektion für Wagner, der auch koscher war. Zu Busonis (hier ironisch verkleideter) Abneigung gegenüber Richard Wagner vgl. u. a. Stuckenschmidt 1967, S. 14. Diese Rehabilita-Zion ist beruhigend, auch für den jüdischen Münchner Briefschreiber. – Das hat mit seinem Singen Herr Guttmann getan! Vgl. die Schlussverse von Heinrich Heines Gedicht Die Lore-Ley: „Und das hat mit ihrem Singen / die Lore-Ley getan.“

Wieder hatte ich einen leichten Rückfall, und der Sommer ist von einer Schüchternheit, die durchaus etwas Arisches hat. Der blonde Sommer, er traut sich nicht herein, obwohl er – ohne anzuklopfen – bewillkommt würde.

Der unzweifelhaft christliche Roman der Frau Gisella ist in 65 Fortsetzungen zu seinem Ende gediehen. Der Titel von Gisella Selden-Goths Fortsetzungsroman Der Neue Ton spielt auch in eine Liste von „100 besten Büchern“ hinein, die Busoni auf Wunsch von Gottfried Galston im Juni 1923 anfertigte und an deren Ende es heißt: „Das hundert u. erste: ‚der neue Ton‘.“ (ohne Autorennennung). Damit ist indes gewiss nicht Selden-Goths Roman selbst gemeint, sondern der Titel „verweist auf Zukünftiges“ (Weindel 1996, S. 79). Sie bekommt ein uneheliches Kind und macht mit ihrem Mann eine Hochzeitsreise. Es endet also gut.

Ich wünsche (mit Neid), dass Sie dort besseres Wetter genießen als hier. Ich sitze in der Bücherei mit einem geheizten Petroleumofen. Ich wünsche (ditto), dass Sie die Einfallspillen haben, die mein Arzt nicht verordnen kann. Die Apotheker sagen, sie müssten sie aus dem Auslande verschreiben; in Amerika gäbe es davon Überfluss; sie müssten aber in Dollar bezahlt werden. (Ich glaube aber, dass man Einfall mit Abfall verwechsele.)

Ein krauser Brief. Ein grauser Brief. (Aber immerhin ein Brief.)

Mit freundschaftlichen Grüßen

Ihr Busoni

17. Juni 1923
                                                                
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N.Mus.Nachl. 30,75
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Aber er kann sich vertheidigen.
Insofern, als er einen Tag vor
diesem Brief die Herren
Prof. Weissmann, Prof. Kestenberg und
GeneralMusikdirektor O. Klemperer
bei sich als Besucher hatte.
Dieses zïonistische Triumvirat,
(das sich als ein Triumvi=Rath
erwies) befestigtstellt meinen früheren
Ruf reinlich In der Übersetzung bei Beaumont 1987 (365) ist „reinlich“ ausgelassen. wieder her. Dazu
kommt meine Predilektion für
Wagner, der auch koscher war. Zu Busonis (hier ironisch verkleideter) Abneigung gegenüber Richard Wagner vgl. u. a. Stuckenschmidt 1967, S. 14.
Diese Rehabilita=Zïon ist beruhi⸗
gend, und auch für den jüdischen
Münchner Briefschreiber. – Das hat
mit seinem Singen Herr Gutmann
gethan! Vgl. die Schlussverse von Heinrich Heines Gedicht Die Lore-Ley: „Und das hat mit ihrem Singen / die Lore-Ley getan.“ ~

Wieder hatte ich einen
leichten Rückfall, und daer
Sommer ist von einer Schüchtern-
heit, die durchaus etwas Arisches
hat. Der blonde Sommer, In der Übersetzung bei Beaumont 1987 (365) unbestimmt („a blond summer“). er traut
sich nicht herein, obwohl er
– ohne anzuklopfen – bewillkommt
würde.

                                                                
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Der […] 1 Zeichen: unleserlich. unzweifelhaft christliche Roman
der Frau Gisella ist in 65 Fort-
setzungen zu seinem Ende gediehen. Der Titel von Gisella Selden-Goths Fortsetzungsroman Der Neue Ton spielt auch in eine Liste von „100 besten Büchern“ hinein, die Busoni auf Wunsch von Gottfried Galston im Juni 1923 anfertigte und an deren Ende es heißt: „Das hundert u. erste: ‚der neue Ton‘.“ (ohne Autorennennung). Damit ist indes gewiss nicht Selden-Goths Roman selbst gemeint, sondern der Titel „verweist auf Zukünftiges“ (Weindel 1996, S. 79).
Sie bekommt ein uneheliches Kind
und macht mit ihrem Mann eine
Hochzeitsreise. Es endet also gut. –

– Ich wünsche (mit Neid) dass Sie
dort besseres Wetter geniessen, als
hier. Ich sitze in der Bücherei
mit einem geheizten Petroleum-
ofen. Ich wünsche (ditto) dass
Sie die Einfallspillen haben, die
mein Arzt nicht verordnen kann.
Die Apotheker sagen, sie müssten
sie aus dem Auslande verschreiben;
in America gäbe es davon Überfluss;
sie müssten aber in Dollar bezahlt
werden. (Ich glaube aber, dass
man Einfall mit Abfall verwechsele.)

Ein krauser Brief. Ein grauser Brief.
(Aber immerhin ein Brief.) ~

Mit freundschaftlichen Grüssen

Ihr Busoni

17. Juni 1923
                                                                
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bibliothek
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17 Juni 1923
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Kulturbesitz
                                                                
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,75 | N.Mus.Nachl. 30,76 |

Nachweis Kalliope

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
3 Blatt, 3 beschriebene Seiten
Kollation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben. Die Signaturenvergabe der ersten beiden Blätter geht fehl (irrtümliche Zuordnung zu einem früheren Brief); sowohl aus den Papiereigenschaften (Falz, Beschädigung am oberen Rand) als auch aus dem Briefinhalt ergibt sich eine eindeutige Zuordnung zum dritten, auf den 17. Juni 1923 datierten Blatt (vgl. so bereits Beaumont 1987, S. 365 f.).
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand Gerda Busonis, die auf der Rückseite mit Bleistift das Datum notiert hat
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)

Zusammenfassung
Busoni imaginiert einen Besuch bei Jarnach in Polling; ist brieflich aus München mit Antisemitismus-Vorwürfen belegt worden; hat Besuch von Adolf Weißmann, Leo Kestenberg und Otto Klemperer empfangen; scherzt über weitere ihn entlastende Umstände; hat einen „Rückfall“ erlitten; erwähnt Gisella Selden-Goths Fortsetzungroman Der Neue Ton; wünscht sich „Einfallspillen“.
Incipit
So musste der Berg zum Propheten kommen

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
24. Januar 2022: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition
Frühere Ausgaben
Beaumont 1987, S. 365 f.