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                Ferruccio Busoni 
                    Entwurf
                        einer neuen Ästhetik
 der Tonkunst
Zweite, erweiterte Ausgabe Im 
                        Insel-Verlag
                     zu 
                        Leipzig
                    
                 | 
                
                Ferruccio Busoni 
                    Entwurf
                         einer neuen Ästhetik
                         der Tonkunst
                Zweite, erweiterte Ausgabe Im 
                        Insel-Verlag
                     zu 
                        Leipzig
                    
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                                                                <titlePage xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0">
                
                <docAuthor rend="align(center)">Ferruccio Busoni</docAuthor>
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                    <titlePart type="main">Entwurf
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                        <lb/>der Tonkunst</titlePart>
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                <figure place="center">
                    <figDesc>Schiffsvignette des Insel-Verlags</figDesc>
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                <docEdition>Zweite, erweiterte Ausgabe</docEdition>
                <docImprint>Im <publisher>
                        <orgName key="E0600018">Insel-Verlag</orgName>
                    </publisher> zu <pubPlace>
                        <placeName key="E0500007">Leipzig</placeName>
                    </pubPlace>
                </docImprint>
                
            </titlePage>
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                <ab rend="align(center)">Dem Musiker in Worten
                <lb/>
                    <persName key="E0300086">Rainer Maria Rilke</persName>
                
                <note type="commentary" resp="#E0300314">Die Aufnahme des <hi rend="italic">Entwurfs</hi> als Nr. 202 in die äußerst erfolgreiche <soCalled>50-Pfennig-Reihe</soCalled> des <orgName key="E0600018">Insel-Verlags</orgName> geht auf die Vermittlung <persName key="E0300086">Rainer Maria Rilkes</persName> zurück, mit dessen <title key="E0400116">Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke</title> die Reihe die Insel-Bücherei 1912 begründet worden war. Vgl. den Brief des Verlegers <persName key="E0300123">Anton Kippenberg</persName> an Busoni vom <date when-iso="1914-03-13">13. März 1914</date> (<idno type="D-B">Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2550</idno>).</note>
                <lb/>verehrungsvoll und freundschaftlich
                <lb/>dargeboten</ab>
                
            </div> | 
                                                
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                            „Was sucht Ihr? Sagt! Und was erwartet Ihr?“
                        „Der mächtige Zauberer“.„Ich weiß es nicht; ich will das Unbekannte!
 Was mir bekannt, ist unbegrenzt. Ich will
 darüber noch. Mir fehlt das letzte Wort.“
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                            „Was sucht Ihr? Sagt! Und was erwartet Ihr?“
                        „Der mächtige Zauberer“.„Ich weiß es nicht; ich will das Unbekannte!
 Was mir bekannt, ist unbegrenzt. Ich will
 darüber noch. Mir fehlt das letzte Wort.“
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                                                                <epigraph xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" rend="block right small">
                <cit>
                    <quote rend="align(left)">
                        <l>
                            <q rend="dq-du">Was sucht Ihr? Sagt! Und was erwartet Ihr?</q>
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                        <q rend="dq-du"><l>Ich weiß es nicht; ich will das Unbekannte!</l>
                            <l>Was mir bekannt, ist unbegrenzt. Ich will</l>
                            <l>darüber noch. Mir fehlt das letzte Wort.</l></q>
                    </quote>
                    <bibl rend="align(right)"><title key="E0400048" rend="dq-du">Der mächtige Zauberer</title>.
                    </bibl>
                </cit>
            </epigraph>
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                    „Ich fühlte … daß ich kein englisches und kein lateinisches
                        Hugo von Hofmannsthal,
                        „Ein Brief“.Buch schreiben werde: und dies aus dem einen Grund …
 nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben,
 sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder
 die lateinische, noch die englische, noch die italienische und
 spanische ist, sondern eine Sprache, von deren Worten mir
 auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die
 stummen Dinge zu mir sprechen und in welcher ich vielleicht
 einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verant⸗
 worten werde.“
 Der literarischen Gestaltung nach recht locker aneinander 
                    gefügt, sind diese Aufzeichnungen in Wahrheit das Er⸗
 gebnis von lange und langsam gereiften Überzeugungen.
 In ihnen wird ein größtes Problem mit scheinbarer Un⸗befangenheit aufgestellt, ohne daß der Schlüssel zu seiner
 letzten Lösung gegeben werde, weil das Problem auf Men⸗
 schenalter hinaus nicht – wenn überhaupt – lösbar ist.
 Aber es begreift in sich eine unaufgezählte Reihe min⸗derer Probleme, auf die ich das Nachdenken derjenigen
 lenke, die es betrifft. Denn recht lange schon hatte man in
 der Musik ernstlichem Suchen nicht sich hingegeben.
 Wohl entsteht zu jeder Zeit Geniales und Bewunderungs⸗wertes, und ich stellte mich stets in die erste Reihe, die vor⸗
 überziehenden Fahnenträger freudig zu begrüßen; aber mir
 will es scheinen, daß die mannigfachen Wege, die beschritten
 werden, zwar in schöne Weiten führen, aber nicht – nach
 oben.
 Der Geist eines Kunstwerkes, das Maß der Empfindung,
                    das Menschliche, das in ihm ist – sie bleiben durch wechselnde
 Zeiten unverändert an Wert; die Form, die diese drei auf⸗
 nahm, die Mittel, die sie ausdrückten, und der Geschmack,
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                    „Ich fühlte … daß ich kein englisches und kein lateinisches
                         Buch schreiben werde: und dies aus dem einen Grund …
                         nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben,
                         sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder
                         die lateinische, noch die englische, noch die italienische und
                         spanische ist, sondern eine Sprache, von deren Worten mir
                         auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die
                         stummen Dinge zu mir sprechen und in welcher ich vielleicht
                         einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.“Hugo von Hofmannsthal,
                        „Ein Brief“. Der literarischen Gestaltung nach recht locker aneinandergefügt, sind diese Aufzeichnungen in Wahrheit das Ergebnis von lange und langsam gereiften Überzeugungen. In ihnen wird ein größtes Problem mit scheinbarer Unbefangenheit aufgestellt, ohne dass der Schlüssel zu seiner
                     letzten Lösung gegeben werde, weil das Problem auf Menschenalter hinaus nicht – wenn überhaupt – lösbar ist. Aber es begreift in sich eine unaufgezählte Reihe minderer Probleme, auf die ich das Nachdenken derjenigen
                     lenke, die es betrifft. Denn recht lange schon hatte man in
                     der Musik ernstlichem Suchen nicht sich hingegeben. Wohl entsteht zu jeder Zeit Geniales und Bewunderungswertes, und ich stellte mich stets in die erste Reihe, die vorüberziehenden Fahnenträger freudig zu begrüßen; aber mir
                     will es scheinen, dass die mannigfachen Wege, die beschritten
                     werden, zwar in schöne Weiten führen, aber nicht – nach
                     oben. Der Geist eines Kunstwerkes, das Maß der Empfindung,
                     das Menschliche, das in ihm ist – sie bleiben durch wechselnde
                     Zeiten unverändert an Wert; die Form, die diese drei aufnahm, die Mittel, die sie ausdrückten, und der Geschmack,
                    
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                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d2-1916" corresp="#d2-1907">
                
                <cit rend="align(right) small">
                    <quote rend="align(left) dq-du">Ich fühlte … daß ich kein englisches und kein lateinisches
                        <lb/>Buch schreiben werde: und dies aus dem einen Grund …
                        <lb/>nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben,
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                        <lb/>die lateinische, noch die englische, noch die italienische und
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                        <title key="E0400006" rend="dq-du">Ein Brief</title>.
                    </bibl>
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                <p>Wohl entsteht zu jeder Zeit Geniales und Bewunderungs
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                <p type="pre-split">Der Geist eines Kunstwerkes, das Maß der Empfindung,
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                    den die Epoche ihres Entstehens über sie ausgoß, sie sind
                    vergänglich und rasch alternd.
 Geist und Empfindung bewahren ihre Art, so im Kunst⸗werk wie im Menschen; technische Errungenschaften, bereit⸗
 willigst erkannt und bewundert, werden überholt, oder der
 Geschmack wendet sich von ihnen gesättigt ab. –
 Die vergänglichen Eigenschaften machen das „Moderne“
                    eines Werkes aus; die unveränderlichen bewahren es
 davor, „altmodisch“ zu werden. Im „Modernen“ wie im
 „Alten“ gibt es Gutes und Schlechtes, Echtes und Unechtes.
 Absolut Modernes existiert nicht – nur früher oder später
 Entstandenes; länger blühend oder schneller welkend. Immer
 gab es Modernes, und immer Altes. –
 Die Kunstformen sind um so dauernder, je näher sie sich
                    an das Wesen der einzelnen Kunstgattung halten, je reiner
 sie sich in ihren natürlichen Mitteln und Zielen bewahren.
 Die Plastik verzichtet auf den Ausdruck der menschlichen
                    Pupille und auf die Farben; die Malerei degradiert, wenn
 sie die darstellende Fläche verläßt und sich zur Theaterde⸗
 koration oder zum Panoramabild kompliziert; –
 die Architektur hat ihre Grundform, die von unten nach
                    oben zu schreiten muß, durch statische Notwendigkeit vor⸗
 geschrieben; Fenster und Dach geben notgedrungen die mitt⸗
 lere und abschließende Ausgestaltung; diese Bedingungen
 sind an ihr bleibend und unverletzbar; –
 die Dichtung gebietet über den abstrakten Gedanken, den
                    sie in Worte kleidet; sie reicht an die weitesten Grenzen und
 hat die größere Unabhängigkeit voraus:
 aber alle Künste, Mittel und Formen erzielen beständig
                    das eine, nämlich die Abbildung der Natur und die
 Wiedergabe der menschlichen Empfindungen.
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                    den die Epoche ihres Entstehens über sie ausgoss, sie sind
                     vergänglich und rasch alternd. Geist und Empfindung bewahren ihre Art, so im Kunstwerk wie im Menschen; technische Errungenschaften, bereitwilligst erkannt und bewundert, werden überholt, oder der
                     Geschmack wendet sich von ihnen gesättigt ab. – Die vergänglichen Eigenschaften machen das „Moderne“
                     eines Werkes aus; die unveränderlichen bewahren es
                     davor, „altmodisch“ zu werden. Im „Modernen“ wie im
                     
                    „Alten“ gibt es Gutes und Schlechtes, Echtes und Unechtes.
                     Absolut Modernes existiert nicht – nur früher oder später
                     Entstandenes; länger blühend oder schneller welkend. Immer
                     gab es Modernes, und immer Altes. – Die Kunstformen sind umso dauernder, je näher sie sich
                     an das Wesen der einzelnen Kunstgattung halten, je reiner
                     sie sich in ihren natürlichen Mitteln und Zielen bewahren. Die Plastik verzichtet auf den Ausdruck der menschlichen
                     Pupille und auf die Farben; die Malerei degradiert, wenn
                     sie die darstellende Fläche verlässt und sich zur Theaterdekoration oder zum Panoramabild kompliziert; – die Architektur hat ihre Grundform, die von unten nach
                     oben zu schreiten muss, durch statische Notwendigkeit vorgeschrieben; Fenster und Dach geben notgedrungen die mittlere und abschließende Ausgestaltung; diese Bedingungen
                     sind an ihr bleibend und unverletzbar; – die Dichtung gebietet über den abstrakten Gedanken, den
                     sie in Worte kleidet; sie reicht an die weitesten Grenzen und
                     hat die größere Unabhängigkeit voraus: aber alle Künste, Mittel und Formen erzielen beständig
                     das eine, nämlich die Abbildung der Natur und die
                     Wiedergabe der menschlichen Empfindungen. | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d3-1916" corresp="#d3-1907"><p type="split">
                    
                    den die Epoche ihres Entstehens über sie ausgo<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>, sie sind
                    <lb/>vergänglich und rasch alternd.</p>
                
                <p>Geist und Empfindung bewahren ihre Art, so im Kunst
                    <lb break="no"/>werk wie im Menschen; technische Errungenschaften, bereit
                    <lb break="no"/>willigst erkannt und bewundert, werden überholt, oder der
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                    <lb/>gab es Modernes, und immer Altes. –</p>
                
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                    <lb/>sind an ihr bleibend und unverletzbar; –</p>
                
                <p>die Dichtung gebietet über den abstrakten Gedanken, den
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                <p rend="indent">aber alle Künste, Mittel und Formen erzielen beständig
                    <lb/>das eine, nämlich die Abbildung der Natur und die
                    <lb/>Wiedergabe der menschlichen Empfindungen.</p>
                
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                Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und
                    reife Künste; ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher
 geworden; sie haben durch Jahrtausende den Weg gefunden
 und beschreiben, wie ein Planet, regelmäßig ihren Kreis.1
 Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar
                    gehen gelernt hat, aber noch geführt werden muß. Es ist
 eine jungfräuliche Kunst, die noch nichts erlebt und gelitten
 hat.
 Sie ist sich selbst noch nicht bewußt dessen, was sie kleidet,
                    der Vorzüge, die sie besitzt, und der Fähigkeiten, die in ihr
 schlummern: wiederum ist sie ein Wunderkind, das schon viel
 Schönes geben kann, schon viele erfreuen konnte und dessen
 Gaben allgemein für völlig ausgereift gehalten werden.
 Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische
                    Musik, ist kaum vierhundert Jahre alt, sie lebt im Zustande
 der Entwicklung; vielleicht im allerersten Stadium einer
 noch unabsehbaren Entwicklung, und wir sprechen von Klas⸗
 sikern und geheiligten Traditionen!2
                    
                    Spricht doch bereits
 ein Cherubini, in seinem Lehrbuch des Kontrapunktes, von
 „den Alten“.
 Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Ge⸗setze vorgeschrieben – – – wir wenden die Gesetze der
 Erwachsenen auf ein Kind an, das die Verantwortung noch
 nicht kennt!
 1.
                                
                        Dessenungeachtet können und werden an ihnen Geschmack und
                            2.
                                
                        „Tradition“Eigenschaft sich immer verjüngen und erneuern. –
 ist die nach dem Leben abgenommene Gipsmaske, die – durch den
                             Lauf vieler Jahre und die Hände ungezählter Handwerker gegangen –
                             schließlich ihre Ähnlichkeit mit dem Original nur mehr erraten läßt.
                     | 
                
                Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und
                     reife Künste; ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher
                     geworden; sie haben durch Jahrtausende den Weg gefunden
                     und beschreiben, wie ein Planet, regelmäßig ihren Kreis.1
                 Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar
                     gehen gelernt hat, aber noch geführt werden muss. Es ist
                     eine jungfräuliche Kunst, die noch nichts erlebt und gelitten
                     hat. Sie ist sich selbst noch nicht bewusst dessen, was sie kleidet,
                     der Vorzüge, die sie besitzt, und der Fähigkeiten, die in ihr
                     schlummern: Wiederum ist sie ein Wunderkind, das schon viel
                     Schönes geben kann, schon viele erfreuen konnte und dessen
                     Gaben allgemein für völlig ausgereift gehalten werden. Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische
                     Musik, ist kaum vierhundert Jahre alt, sie lebt im Zustande
                     der Entwicklung; vielleicht im allerersten Stadium einer
                     noch unabsehbaren Entwicklung, und wir sprechen von Klassikern und geheiligten Traditionen!2
                    
                    Spricht doch bereits
                     ein Cherubini, in seinem Lehrbuch des Kontrapunktes, von
                     
                    „den Alten“. Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Gesetze vorgeschrieben – – – wir wenden die Gesetze der
                     Erwachsenen auf ein Kind an, das die Verantwortung noch
                     nicht kennt! 1.
                        
                        Dessenungeachtet können und werden an ihnen Geschmack und
                             Eigenschaft sich immer verjüngen und erneuern. –2.
                        
                        „Tradition“ 
                             ist die nach dem Leben abgenommene Gipsmaske, die – durch den
                             Lauf vieler Jahre und die Hände ungezählter Handwerker gegangen –
                             schließlich ihre Ähnlichkeit mit dem Original nur mehr erraten lässt.
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                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d4-1916" corresp="#d4-1907">
                
                <p>Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und
                    <lb/>reife Künste; ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher
                    <lb/>geworden; sie haben durch Jahrtausende den Weg gefunden
                    <lb/>und beschreiben, wie ein Planet, regelmäßig ihren Kreis.
                    
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                        <p>Dessenungeachtet können und werden an ihnen Geschmack und
                            <lb/>Eigenschaft sich immer verjüngen und erneuern. –</p>
                    </note>
                </p>
                
                <p>Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar
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                    <lb/>Schönes geben kann, schon viele erfreuen konnte und dessen
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                <p>Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische
                    <lb/>Musik, ist kaum vierhundert Jahre alt, sie lebt im Zustande
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                        <soCalled rend="dq-du">Tradition</soCalled>
                            <lb/>ist die nach dem Leben abgenommene Gipsmaske, die – durch den
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                    Spricht doch bereits
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                <p>Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Ge
                    <lb break="no"/>setze vorgeschrieben – – – wir wenden die Gesetze der
                    <lb/>Erwachsenen auf ein Kind an, das die Verantwortung noch
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                So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft
                    ist an ihm schon erkennbar, die es vor allen seinen älteren
 Gefährten auszeichnet. Und diese wundersame Eigenschaft
 wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze sonst
 über den Haufen geworfen würden. Das Kind – es schwebt!
 Es berührt nicht die Erde mit seinen Füßen. Es ist nicht
 der Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. Seine
 Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die
 Natur selbst. Es ist frei.
 Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie völlig be⸗griffen noch gänzlich empfunden haben. Sie können sie nicht
 erkennen noch anerkennen.
 Sie verleugnen die Bestimmung dieses Kindes und fesseln
                    es. Das schwebende Wesen muß geziemend gehen, muß,
 wie jeder andere, den Regeln des Anstandes sich fügen;
 kaum, daß es hüpfen darf – indessen es seine Lust wäre,
 der Linie des Regenbogens zu folgen und mit den Wolken
 Sonnenstrahlen zu brechen.
 Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre
                    Bestimmung. Sie wird der vollständigste aller Natur⸗
 widerscheine werden durch die Ungebundenheit ihrer Un⸗
 materialität. Selbst das dichterische Wort steht ihr an Un⸗
 körperlichkeit nach; sie kann sich zusammenballen und kann
 auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste
 Stürmen sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen
 wahrnehmbar sind – welche andere Kunst hat das? –, und
 ihre Empfindung trifft die menschliche Brust mit jener In⸗
 tensität, die vom „Begriffe“ unabhängig ist.
 Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschrei⸗ | 
                
                So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft
                     ist an ihm schon erkennbar, die es vor allen seinen älteren
                     Gefährten auszeichnet. Und diese wundersame Eigenschaft
                     wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze sonst
                     über den Haufen geworfen würden. Das Kind – es schwebt!
                     Es berührt nicht die Erde mit seinen Füßen. Es ist nicht
                     der Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. Seine
                     Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die
                     Natur selbst. Es ist frei. Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie völlig begriffen noch gänzlich empfunden haben. Sie können sie nicht
                     erkennen noch anerkennen. Sie verleugnen die Bestimmung dieses Kindes und fesseln
                     es. Das schwebende Wesen muss geziemend gehen, muss,
                     wie jeder andere, den Regeln des Anstandes sich fügen;
                     kaum, dass es hüpfen darf – indessen es seine Lust wäre,
                     der Linie des Regenbogens zu folgen und mit den Wolken
                     Sonnenstrahlen zu brechen. Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre
                     Bestimmung. Sie wird der vollständigste aller Naturwiderscheine werden durch die Ungebundenheit ihrer Unmaterialität. Selbst das dichterische Wort steht ihr an Unkörperlichkeit nach; sie kann sich zusammenballen und kann
                     auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste
                     Stürmen sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen
                     wahrnehmbar sind – welche andere Kunst hat das? –, und
                     ihre Empfindung trifft die menschliche Brust mit jener Intensität, die vom „Begriffe“ unabhängig ist. Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschrei⸗ | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d6-1916" corresp="#d6-1907">
                
                <p>So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft
                    <lb/>ist an ihm schon erkennbar, die es vor allen seinen älteren
                    <lb/>Gefährten auszeichnet. Und diese wundersame Eigenschaft
                    <lb/>wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze sonst
                    <lb/>über den Haufen geworfen würden. Das Kind – es schwebt!
                    <lb/>Es berührt nicht die Erde mit seinen Füßen. Es ist nicht
                    <lb/>der Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. Seine
                    <lb/>Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die
                    <lb/>Natur selbst. Es ist frei.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d7-1916" corresp="#d7-1907">
                
                <p>Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie völlig be
                    <lb break="no"/>griffen noch gänzlich empfunden haben. Sie können sie nicht
                    <lb/>erkennen noch anerkennen.</p>
                
                <p>Sie verleugnen die Bestimmung dieses Kindes und fesseln
                    <lb/>es. Das schwebende Wesen mu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> geziemend gehen, mu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>,
                    <lb/>wie jeder andere, den Regeln des Anstandes sich fügen;
                    <lb/>kaum, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> es hüpfen darf – indessen es seine Lust wäre,
                    <lb/>der Linie des Regenbogens zu folgen und mit den Wolken
                    <lb/>Sonnenstrahlen zu brechen.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="pre-split" xml:id="d8-1916" corresp="#d8-1907">
                
                <p>Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre
                    <lb/>Bestimmung. Sie wird der vollständigste aller Natur
                    <lb break="no"/>widerscheine werden durch die Ungebundenheit ihrer Un
                    <lb break="no"/>materialität. Selbst das dichterische Wort steht ihr an Un
                    <lb break="no"/>körperlichkeit nach; sie kann sich zusammenballen und kann
                    <lb/>auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste
                    <lb/>Stürmen sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen
                    <lb/>wahrnehmbar sind – welche andere Kunst hat das? –, und
                    <lb/>ihre Empfindung trifft die menschliche Brust mit jener In
                    <lb break="no"/>tensität, die vom <soCalled rend="dq-du">Begriffe</soCalled> unabhängig ist.</p>
                <p type="pre-split">Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschrei
                    
                    </p></div> | 
                                                
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                    ben, mit der Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit
                    der aufeinanderfolgenden Momente; dort, wo der Maler
 oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick,
 eine „Situation“ darstellen kann und der Dichter ein Tem⸗
 perament und dessen Regungen mühsam durch angereihte
 Worte mitteilt.
 Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das
                    Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ablehnung der
 Programmusik aus und gelangen zu der Frage nach den
 Zielen der Tonkunst.
 Absolute Musik!
                                                                Bereits im 18. Jahrhundert entstanden, war der Begriff „absolute Musik“ Gegenstand musikästhetischer Diskurse des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Wesentlich geprägt wurde die Formulierung 1854 durch Hanslicks musikästhetische Schrift Vom Musikalisch-Schönen, nach welcher diejenige Musik als „absolut“ zu bezeichnen ist, die sich unabhängig von außermusikalischen Elementen konstituiert und lediglich aus ihrer kompositorischen Anlage heraus legitimiert. Darüber hinaus ist nach Hanslick nur Instrumentalmusik „absolut“ – eine Definition, die für Busonis Verständnis von absoluter Musik nicht hinreicht (Freiheit von den Bedingungen der Materie).
                    
                    Was die Gesetzgeber darunter meinen,
                    ist vielleicht das Entfernteste vom Absoluten in der Musik.
 „Absolute Musik“ ist ein Formenspiel ohne dichterisches Pro⸗
 gramm, wobei die Form die wichtigste Rolle abgibt. Aber
 gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt,
 die doch den göttlichen Vorzug erhielt zu schweben und von
 den Bedingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde
 endet die Darstellung eines Sonnenunterganges mit dem
 Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erhält eine vier⸗
 eckige Abgrenzung; die einmal gewählte Zeichnung der
 Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann
 sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich ver⸗
 hauchen wie die Himmelserscheinung selbst, und der Instinkt
 bestimmt den schaffenden Musiker, diejenigen Töne zu ver⸗
 wenden, die in dem Innern des Menschen auf dieselbe
 Taste drücken und denselben Widerhall erwecken, wie die
 Vorgänge in der Natur.
 Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes, welches
                    an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis
 von Tonika und Dominante, an Durchführungen und Kodas.
 | 
                                                            
                    
                    ben, mit der Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit
                     der aufeinanderfolgenden Momente; dort, wo der Maler
                     oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick,
                     eine „Situation“ darstellen kann und der Dichter ein Temperament und dessen Regungen mühsam durch angereihte
                     Worte mitteilt. Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das
                     Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ablehnung der
                     Programmmusik aus und gelangen zu der Frage nach den
                     Zielen der Tonkunst. Absolute Musik!
                                                                Bereits im 18. Jahrhundert entstanden, war der Begriff „absolute Musik“ Gegenstand musikästhetischer Diskurse des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Wesentlich geprägt wurde die Formulierung 1854 durch Hanslicks musikästhetische Schrift Vom Musikalisch-Schönen, nach welcher diejenige Musik als „absolut“ zu bezeichnen ist, die sich unabhängig von außermusikalischen Elementen konstituiert und lediglich aus ihrer kompositorischen Anlage heraus legitimiert. Darüber hinaus ist nach Hanslick nur Instrumentalmusik „absolut“ – eine Definition, die für Busonis Verständnis von absoluter Musik nicht hinreicht (Freiheit von den Bedingungen der Materie).
                    
                    Was die Gesetzgeber darunter meinen,
                     ist vielleicht das Entfernteste vom Absoluten in der Musik.
                     
                    „Absolute Musik“ ist ein Formenspiel ohne dichterisches Programm, wobei die Form die wichtigste Rolle abgibt. Aber
                     gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt,
                     die doch den göttlichen Vorzug erhielt, zu schweben und von
                     den Bedingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde
                     endet die Darstellung eines Sonnenunterganges mit dem
                     Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erhält eine viereckige Abgrenzung; die einmal gewählte Zeichnung der
                     Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann
                     sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich verhauchen wie die Himmelserscheinung selbst, und der Instinkt
                     bestimmt den schaffenden Musiker, diejenigen Töne zu verwenden, die in dem Innern des Menschen auf dieselbe
                     Taste drücken und denselben Widerhall erwecken wie die
                     Vorgänge in der Natur. Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes, welches
                     an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis
                     von Tonika und Dominante, an Durchführungen und Kodas. | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d8-1916" corresp="#d8-1907"><p type="split">
                    
                    ben, mit der Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit
                    <lb/>der aufeinanderfolgenden Momente; dort, wo der Maler
                    <lb/>oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick,
                    <lb/>eine <soCalled rend="dq-du">Situation</soCalled> darstellen kann und der Dichter ein Tem
                    <lb break="no"/>perament und dessen Regungen mühsam durch angereihte
                    <lb/>Worte mitteilt.</p>
                
                <p>Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das
                    <lb/>Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ablehnung der
                    <lb/>Programm<reg>m</reg>usik aus und gelangen zu der Frage nach den
                    <lb/>Zielen der Tonkunst.</p>
                
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                <p>Absolute Musik!
                    
                    <note type="commentary" resp="#E0300318">Bereits im 18. Jahrhundert entstanden, war der Begriff <q>absolute Musik</q> Gegenstand musikästhetischer Diskurse des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Wesentlich geprägt wurde die Formulierung 1854 durch <persName key="E0300014">Hanslicks</persName> musikästhetische Schrift <title key="E0400007">Vom Musikalisch-Schönen</title>, nach welcher diejenige Musik als <soCalled>absolut</soCalled> zu bezeichnen ist, die sich unabhängig von außermusikalischen Elementen konstituiert und lediglich aus ihrer kompositorischen Anlage heraus legitimiert. Darüber hinaus ist nach <persName key="E0300014">Hanslick</persName> nur Instrumentalmusik <soCalled>absolut</soCalled> – eine Definition, die für <persName key="E0300017">Busonis</persName> Verständnis von absoluter Musik nicht hinreicht (Freiheit von den Bedingungen der Materie).</note>
                    
                    Was die Gesetzgeber darunter meinen,
                    <lb/>ist vielleicht das Entfernteste vom Absoluten in der Musik.
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                    <soCalled rend="dq-du">Absolute Musik</soCalled> ist ein Formenspiel ohne dichterisches Pro
                    <lb break="no"/>gramm, wobei die Form die wichtigste Rolle abgibt. Aber
                    <lb/>gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt,
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                    <lb/>Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erhält eine vier
                    <lb break="no"/>eckige Abgrenzung; die einmal gewählte Zeichnung der
                    <lb/>Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann
                    <lb/>sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich ver
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                    <lb/>Taste drücken und denselben Widerhall erwecken<orig>,</orig> wie die
                    <lb/>Vorgänge in der Natur.</p>
                
                <p>Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes, welches
                    <lb/>an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis
                    <lb/>von Tonika und Dominante, an Durchführungen und Kodas.</p>
                
                </div> | 
                                                
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                Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart
                    tiefer abmüht, den gewandteren ersten nachzuahmen, höre
 einen unnötigen Kampf auskämpfen, um dahin zu gelangen,
 wo man schon am Anfang stand. Diese Musik sollte viel⸗
 mehr die architektonische heißen, oder die symmetrische, oder
 die eingeteilte, und sie stammt daher, daß einzelne Ton⸗
 dichter ihren Geist und ihre Empfindung in eine solche Form
 gossen, weil es ihnen oder der Zeit am nächsten lag. Die
 Gesetzgeber haben Geist, Empfindung, die Individualität
 jener Tonsetzer und ihre Zeit mit der symmetrischen Musik
 identifiziert und schließlich – da sie weder den Geist, noch
 die Empfindung, noch die Zeit wiedergebären konnten – die
 Form als Symbol behalten und sie zum Schild, zur Glaubens⸗
 lehre erhoben. Die Tondichter suchten und fanden diese Form
 als das geeignetste Mittel, ihre Gedanken mitzuteilen; sie
 entschwebten – und die Gesetzgeber entdecken und verwahren
 Euphorions auf der Erde zurückgebliebene Gewänder:
                                                                
                        J. W. Goethe, Faust II; es spricht Mephistopheles in Gestalt des alten Weibes Phorkyas; Kontext dieser Stelle ist die Totenklage der Helena über ihren Sohn Euphorion.
 
                    „Noch immer glücklich aufgefunden!Die Flamme freilich ist verschwunden,
 Doch ist mir um die Welt nicht leid.
 Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen,
 Zu stiften Gold= und Handwerksneid;
 Und kann ich die Talente nicht verleihen,
 Verborg ich wenigstens das Kleid.“
 Ists nicht eigentümlich, daß man vom Komponisten in
                    allem Originalität fordert und daß man sie ihm in der
 Form verbietet? Was Wunder, daß man ihn – wenn er
 wirklich originell wird – der Formlosigkeit anklagt. Mo⸗
 zart! den Sucher und den Finder, den großen Menschen
 mit dem kindlichen Herzen, ihn staunen wir an, an ihm
 | 
                
                Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart
                     tiefer abmüht, den gewandteren ersten nachzuahmen, höre
                     einen unnötigen Kampf auskämpfen, um dahin zu gelangen,
                     wo man schon am Anfang stand. Diese Musik sollte vielmehr die architektonische heißen, oder die symmetrische, oder
                     die eingeteilte, und sie stammt daher, dass einzelne Tondichter ihren Geist und ihre Empfindung in eine solche Form
                     gossen, weil es ihnen oder der Zeit am nächsten lag. Die
                     Gesetzgeber haben Geist, Empfindung, die Individualität
                     jener Tonsetzer und ihre Zeit mit der symmetrischen Musik
                     identifiziert und schließlich – da sie weder den Geist, noch
                     die Empfindung, noch die Zeit wiedergebären konnten – die
                     Form als Symbol behalten und sie zum Schild, zur Glaubenslehre erhoben. Die Tondichter suchten und fanden diese Form
                     als das geeignetste Mittel, ihre Gedanken mitzuteilen; sie
                     entschwebten – und die Gesetzgeber entdecken und verwahren
                     Euphorions auf der Erde zurückgebliebene Gewänder:
                                                                
                        J. W. Goethe, Faust II; es spricht Mephistopheles in Gestalt des alten Weibes Phorkyas; Kontext dieser Stelle ist die Totenklage der Helena über ihren Sohn Euphorion.
                 
                    „Noch immer glücklich aufgefunden!Die Flamme freilich ist verschwunden,
 Doch ist mir um die Welt nicht leid.
 Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen,
 Zu stiften Gold- und Handwerksneid;
 Und kann ich die Talente nicht verleihen,
 Verborg ich wenigstens das Kleid.“
 Ist’s nicht eigentümlich, dass man vom Komponisten in
                     allem Originalität fordert und dass man sie ihm in der
                     Form verbietet? Was Wunder, dass man ihn – wenn er
                     wirklich originell wird – der Formlosigkeit anklagt. Mozart! den Sucher und den Finder, den großen Menschen
                     mit dem kindlichen Herzen, ihn staunen wir an, an ihm
                    
                     | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d9-1916" corresp="#d9-1907">
                
                <p>Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart
                    <lb/>tiefer abmüht, den gewandteren ersten nachzuahmen, höre
                    <lb/>einen unnötigen Kampf auskämpfen, um dahin zu gelangen,
                    <lb/>wo man schon am Anfang stand. Diese Musik sollte viel
                    <lb break="no"/>mehr die architektonische heißen, oder die symmetrische, oder
                    <lb/>die eingeteilte, und sie stammt daher, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> einzelne Ton
                    <lb break="no"/>dichter ihren Geist und ihre Empfindung in eine solche Form
                    <lb/>gossen, weil es ihnen oder der Zeit am nächsten lag. Die
                    <lb/>Gesetzgeber haben Geist, Empfindung, die Individualität
                    <lb/>jener Tonsetzer und ihre Zeit mit der symmetrischen Musik
                    <lb/>identifiziert und schließlich – da sie weder den Geist, noch
                    <lb/>die Empfindung, noch die Zeit wiedergebären konnten – die
                    <lb/>Form als Symbol behalten und sie zum Schild, zur Glaubens
                    <lb break="no"/>lehre erhoben. Die Tondichter suchten und fanden diese Form
                    <lb/>als das geeignetste Mittel, ihre Gedanken mitzuteilen; sie
                    <lb/>entschwebten – und die Gesetzgeber entdecken und verwahren
                    <lb/>Euphorions auf der Erde zurückgebliebene Gewänder:
                    
                    <note type="commentary" resp="#E0300314">
                        <persName key="E0300124">J. W. Goethe</persName>, <title key="E0400107">Faust II</title>; es spricht Mephistopheles in Gestalt des alten Weibes Phorkyas; Kontext dieser Stelle ist die Totenklage der Helena über ihren Sohn Euphorion.</note>
                </p>
                
                <quote rend="indent dq-du">
                    <l>Noch immer glücklich aufgefunden!</l>
                    <l>Die Flamme freilich ist verschwunden,</l>
                    <l>Doch ist mir um die Welt nicht leid.</l>
                    <l>Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen,</l>
                    <l>Zu stiften Gold<pc>=</pc> und Handwerksneid;</l>
                    <l>Und kann ich die Talente nicht verleihen,</l>
                    <l>Verborg ich wenigstens das Kleid.</l>
                </quote>
                
                <p type="pre-split">Ist<reg>’</reg>s nicht eigentümlich, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> man vom Komponisten in
                    <lb/>allem Originalität fordert und da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> man sie ihm in der
                    <lb/>Form verbietet? Was Wunder, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> man ihn – wenn er
                    <lb/>wirklich originell wird – der Formlosigkeit anklagt. <persName key="E0300010">Mo
                        <lb break="no"/>zart</persName>! den Sucher und den Finder, den großen Menschen
                    <lb/>mit dem kindlichen Herzen, ihn staunen wir an, an ihm
                    
                    </p></div> | 
                                                
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                    hängen wir; nicht aber an seiner Tonika und Dominante,
                    seinen Durchführungen und Kodas.
 Solche Befreiungslust erfüllte einen Beethoven, den
                    romantischen Revolutionsmenschen, daß er einen kleinen
 Schritt in der Zurückführung der Musik zu ihrer höheren
 Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der großen Auf⸗
 gabe, einen großen Schritt in seinem eigenen Weg. Die
 ganz absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen
 Augenblicken geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der
 Hammerklavier=Sonate. Überhaupt kamen die Tondichter
 in den vorbereitenden und vermittelnden Sätzen (Vorspielen
 und Übergängen) der wahren Natur der Musik am nächsten,
 wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse außer acht
 lassen zu dürfen und selbst unbewußt frei aufzuatmen schienen.
 Selbst einen so viel kleineren
                    Schumann ergreift an solchen
 Stellen etwas von dem Unbegrenzten dieser Pan=Kunst
 – man denke an die Überleitung zum letzten Satze der 
                        D=
 Moll=Sinfonie –, und Gleiches kann man von Brahms
 und der Introduktion zum Finale seiner
                    ersten Sinfonie be⸗
 haupten.
 Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten,
                    wird ihre Haltung steif und konventionell wie die eines
 Mannes, der in ein Amtszimmer tritt.
 Neben Beethoven ist
                    Bach der „Ur=Musik“ am ver⸗wandtesten. Seine Orgelfantasien (und nicht die Fugen)
 haben unzweifelhaft einen starken Zug von Landschaftlichem
 (dem Architektonisch Entgegenstehenden), von Eingebungen,
 die man „Mensch und Natur“ überschreiben möchte;1
                    
                    bei
 1.
                                
                        Seine Passions=Rezitative haben das „Menschlich=Redende“, nicht
                            „Richtig=Deklamierte“.
 | 
                                                            
                    
                    hängen wir; nicht aber an seiner Tonika und Dominante,
                     seinen Durchführungen und Kodas. Solche Befreiungslust erfüllte einen Beethoven, den
                     romantischen Revolutionsmenschen, dass er einen kleinen
                     Schritt in der Zurückführung der Musik zu ihrer höheren
                     Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der großen Aufgabe, einen großen Schritt in seinem eigenen Weg. Die
                     ganz absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen
                     Augenblicken geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der
                     
                    Hammerklavier-Sonate. Überhaupt kamen die Tondichter
                     in den vorbereitenden und vermittelnden Sätzen (Vorspielen
                     und Übergängen) der wahren Natur der Musik am nächsten,
                     wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse außer Acht
                     lassen zu dürfen und selbst unbewusst frei aufzuatmen schienen.
                     Selbst einen so viel kleineren
                    Schumann ergreift an solchen
                     Stellen etwas von dem Unbegrenzten dieser Pan-Kunst
                     – man denke an die Überleitung zum letzten Satze der 
                        d-Moll-Sinfonie –, und Gleiches kann man von Brahms
                     und der Introduktion zum Finale seiner
                    ersten Sinfonie behaupten. Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten,
                     wird ihre Haltung steif und konventionell wie die eines
                     Mannes, der in ein Amtszimmer tritt. Neben Beethoven ist
                    Bach der „Ur-Musik“ am verwandtesten. Seine Orgelfantasien (und nicht die Fugen)
                     haben unzweifelhaft einen starken Zug von Landschaftlichem
                     (dem Architektonisch-Entgegenstehenden), von Eingebungen,
                     die man „Mensch und Natur“ überschreiben möchte;1
                    
                    bei
                    
                     1.
                        
                        Seine Passions-Rezitative haben das „Menschlich-Redende“, nicht
                             
                            „Richtig-Deklamierte“. | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d9-1916" corresp="#d9-1907" type="split"><p type="split">
                    
                    hängen wir; nicht aber an seiner Tonika und Dominante,
                    <lb/>seinen Durchführungen und Kodas.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="pre-split" xml:id="d10-1916" corresp="#d10-1907">
                
                <p>Solche Befreiungslust erfüllte einen <persName key="E0300001">Beethoven</persName>, den
                    <lb/>romantischen Revolutionsmenschen, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> er einen kleinen
                    <lb/>Schritt in der Zurückführung der Musik zu ihrer höheren
                    <lb/>Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der großen Auf
                    <lb break="no"/>gabe, einen großen Schritt in seinem eigenen Weg. Die
                    <lb/>ganz absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen
                    <lb/>Augenblicken geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der
                    <lb/>
                    <title key="E0400003">Hammerklavier<pc>=</pc>Sonate</title>. Überhaupt kamen die Tondichter
                    <lb/>in den vorbereitenden und vermittelnden Sätzen (Vorspielen
                    <lb/>und Übergängen) der wahren Natur der Musik am nächsten,
                    <lb/>wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse außer <choice><orig>a</orig><reg>A</reg></choice>cht
                    <lb/>lassen zu dürfen und selbst unbewu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>t frei aufzuatmen schienen.
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                        <choice><orig>D</orig><reg>d</reg></choice><pc>=</pc>
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                    <lb break="no"/>haupten.</p>
                
                <p>Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten,
                    <lb/>wird ihre Haltung steif und konventionell wie die eines
                    <lb/>Mannes, der in ein Amtszimmer tritt.</p>
                
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                <p type="pre-split">Neben <persName key="E0300001">Beethoven</persName> ist
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                    <lb break="no"/>wandtesten. Seine Orgelfantasien (und nicht die Fugen)
                    <lb/>haben unzweifelhaft einen starken Zug von Landschaftlichem
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                    <lb/>die man <soCalled rend="dq-du">Mensch und Natur</soCalled> überschreiben möchte;
                    
                    <note place="bottom" n="1">
                        <p>Seine Passions<pc>=</pc>Rezitative haben das <soCalled rend="dq-du">Menschlich<pc>=</pc>Redende</soCalled>, nicht
                            <lb/>
                            <soCalled rend="dq-du">Richtig<pc>=</pc>Deklamierte</soCalled>.</p>
                    </note>
                    
                    bei
                    
                    </p></div> | 
                                                
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                    ihm gestaltet es sich am unbefangensten, weil er noch über
                    seine Vorgänger hinwegschritt – (wenn er sie auch bewun⸗
 derte und sogar benutzte) – und weil ihm die noch junge
 Errungenschaft der temperierten Stimmung vorläufig un⸗
 endlich neue Möglichkeiten erstehen ließ.
 Darum sind Bach und Beethoven1
                    
                    als ein Anfang
                    aufzufassen und nicht als unzuübertreffende Abgeschlossen⸗
 heiten. Unübertrefflich werden wahrscheinlich ihr Geist und
 ihre Empfindung bleiben; und das bestätigt wiederum das
 zu Beginn dieser Zeilen Gesagte. Nämlich, daß die Emp⸗
 findung und der Geist durch den Wechsel der Zeiten an Wert
 nichts einbüßen, und daß derjenige, der ihre höchsten Höhen
 ersteigt, jederzeit über die Menge ragen wird.
 Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucks⸗form und ihre Freiheit.
                    Wagner, ein germanischer Riese,
 der im Orchesterklang den irdischen Horizont streifte, der die
 Ausdrucksform zwar steigerte, aber in ein System brachte
 (Musikdrama, Deklamation, Leitmotiv), ist durch die selbst⸗
 geschaffenen Grenzen nicht weiter steigerungsfähig. Seine
 Kategorie beginnt und endet mit ihm selbst; vorerst, weil er
 sie zur höchsten Vollendung, zu einer Abrundung brachte;
 sodann, weil die selbstgestellte Aufgabe derart war, daß
 sie von einem Menschen allein bewältigt werden konnte.
 1.
                                
                        Als die charakteristischen Merkmale von Beethovens Persönlichkeit
                        möchte ich nennen: den dichterischen Schwung, die starke menschliche Emp⸗
 findung (aus welcher seine revolutionäre Gesinnung entspringt) und
 eine Vorverkündung des modernen Nervosismus. Diese Merkmale sind
 gewiß jenen eines „Klassikers“ entgegengesetzt. Zudem ist
                        Beethoven
 kein „Meister“ im Sinne Mozarts oder des späteren
                        Wagner, eben
 weil seine Kunst die Andeutung einer größeren, noch nicht vollkommen
 gewordenen, ist. (Man vergleiche den nächstfolgenden Absatz.)
 | 
                                                            
                    
                    ihm gestaltet es sich am unbefangensten, weil er noch über
                     seine Vorgänger hinwegschritt – (wenn er sie auch bewunderte und sogar benutzte) – und weil ihm die noch junge
                     Errungenschaft der temperierten Stimmung vorläufig unendlich neue Möglichkeiten erstehen ließ. Darum sind Bach und Beethoven1
                    
                    als ein Anfang
                     aufzufassen und nicht als unzuübertreffende Abgeschlossenheiten. Unübertrefflich werden wahrscheinlich ihr Geist und
                     ihre Empfindung bleiben; und das bestätigt wiederum das
                     zu Beginn dieser Zeilen Gesagte. Nämlich, dass die Empfindung und der Geist durch den Wechsel der Zeiten an Wert
                     nichts einbüßen, und dass derjenige, der ihre höchsten Höhen
                     ersteigt, jederzeit über die Menge ragen wird. Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucksform und ihre Freiheit.
                    Wagner, ein germanischer Riese,
                     der im Orchesterklang den irdischen Horizont streifte, der die
                     Ausdrucksform zwar steigerte, aber in ein System brachte
                     (Musikdrama, Deklamation, Leitmotiv), ist durch die selbstgeschaffenen Grenzen nicht weiter steigerungsfähig. Seine
                     Kategorie beginnt und endet mit ihm selbst; vorerst, weil er
                     sie zur höchsten Vollendung, zu einer Abrundung brachte;
                     sodann, weil die selbstgestellte Aufgabe derart war, dass
                     sie von einem Menschen allein bewältigt werden konnte.
                    
                     1.
                        
                        Als die charakteristischen Merkmale von Beethovens Persönlichkeit
                         möchte ich nennen: den dichterischen Schwung, die starke menschliche Empfindung (aus welcher seine revolutionäre Gesinnung entspringt) und
                         eine Vorverkündung des modernen Nervosismus. Diese Merkmale sind
                         gewiss jenen eines „Klassikers“ entgegengesetzt. Zudem ist
                        Beethoven
                         kein „Meister“ im Sinne Mozarts oder des späteren
                        Wagner, eben
                         weil seine Kunst die Andeutung einer größeren, noch nicht vollkommen
                         gewordenen, ist. (Man vergleiche den nächstfolgenden Absatz.)
                         | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d10-1916" corresp="#d10-1907"><p type="split">
                    
                    ihm gestaltet es sich am unbefangensten, weil er noch über
                    <lb/>seine Vorgänger hinwegschritt – (wenn er sie auch bewun
                    <lb break="no"/>derte und sogar benutzte) – und weil ihm die noch junge
                    <lb/>Errungenschaft der temperierten Stimmung vorläufig un
                    <lb break="no"/>endlich neue Möglichkeiten erstehen ließ.</p>
                
                <p>Darum sind <persName key="E0300012">Bach</persName> und <persName key="E0300001">Beethoven</persName>
                    
                    <note place="bottom" n="1">
                        <p>Als die charakteristischen Merkmale von <persName key="E0300001">Beethovens</persName> Persönlichkeit
                        <lb/>möchte ich nennen: den dichterischen Schwung, die starke menschliche Emp
                        <lb break="no"/>findung (aus welcher seine revolutionäre Gesinnung entspringt) und
                        <lb/>eine Vorverkündung des modernen Nervosismus. Diese Merkmale sind
                        <lb/>gewi<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> jenen eines <soCalled rend="dq-du">Klassikers</soCalled> entgegengesetzt. Zudem ist
                        <persName key="E0300001">Beethoven</persName>
                        <lb/>kein <soCalled rend="dq-du">Meister</soCalled> im Sinne <persName key="E0300010">Mozarts</persName> oder des späteren
                        <persName key="E0300006">Wagner</persName>, eben
                        <lb/>weil seine Kunst die Andeutung einer größeren, noch nicht vollkommen
                        <lb/>gewordenen, ist. <ref target="#d11-1916">(Man vergleiche den nächstfolgenden Absatz.)</ref>
                        </p>
                    </note>
                    
                    als ein Anfang
                    <lb/>aufzufassen und nicht als unzuübertreffende Abgeschlossen
                    <lb break="no"/>heiten. Unübertrefflich werden wahrscheinlich ihr Geist und
                    <lb/>ihre Empfindung bleiben; und das bestätigt wiederum das
                    <lb/>zu Beginn dieser Zeilen Gesagte. Nämlich, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> die Emp
                    <lb break="no"/>findung und der Geist durch den Wechsel der Zeiten an Wert
                    <lb/>nichts einbüßen, und da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> derjenige, der ihre höchsten Höhen
                    <lb/>ersteigt, jederzeit über die Menge ragen wird.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="pre-split" xml:id="d11-1916" corresp="#d12-1907">
                
                <p type="pre-split">Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucks
                    <lb break="no"/>form und ihre Freiheit.
                    <persName key="E0300006">Wagner</persName>, ein germanischer Riese,
                    <lb/>der im Orchesterklang den irdischen Horizont streifte, der die
                    <lb/>Ausdrucksform zwar steigerte, aber in ein System brachte
                    <lb/>(Musikdrama, Deklamation, Leitmotiv), ist durch die selbst
                    <lb break="no"/>geschaffenen Grenzen nicht weiter steigerungsfähig. Seine
                    <lb/>Kategorie beginnt und endet mit ihm selbst; vorerst, weil er
                    <lb/>sie zur höchsten Vollendung, zu einer Abrundung brachte;
                    <lb/>sodann, weil die selbstgestellte Aufgabe derart war, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>
                    <lb/>sie von einem Menschen allein bewältigt werden konnte.
                    
                    </p></div> | 
                                                
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                    „Er gibt uns zugleich mit dem Problem auch die Lösung“,
                    
                    wie ich einmal von Mozart sagte.
                    
                    Die Wege, die uns Beet⸗
 hoven eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt
 werden. Sie mögen – wie alles im Weltsystem – nur
 einen Kreis bilden; dieser ist aber von solchen Dimensionen,
 daß der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade Linie
 erscheint. Wagners Kreis überblicken wir vollständig. –
 Ein Kreis im großen Kreise.
 Der Name Wagner führt zur Programmusik zurück.
                    Sie ist als ein Gegensatz zur sogenannten „absoluten“
 Musik aufgestellt worden, und die Begriffe haben sich so ver⸗
 härtet, daß selbst die Verständigen sich an den einen oder
 den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, außer und
 über den beiden liegende Möglichkeit anzunehmen. In
 Wirklichkeit ist die Programmusik ebenso einseitig und
 begrenzt wie das als absolute Musik verkündete, von Hans⸗
 lick verherrlichte Klang=Tapetenmuster
                                                                
                        Busoni verweist mit dieser (erst der Fassung von 1916 hinzugefügten) polemischen Formulierung auf Eduard Hanslicks musikästhetische Schrift Vom Musikalisch-Schönen. Hanslick postuliert darin eine sich ausschließlich in Musik äußernde und den Geist anregende „Schönheit“ als oberstes kompositorisches Prinzip. Besonders die häufig als Formalismus missverstandene Formulierung 
                            „Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik“ (1. Auflage, 1854)
                         und die mit der zentralen Kategorie der Schönheit einhergehende stilistische Einschränkung mögen bei Busoni auf Unwillen gestoßen sein. Das „Klang-Tapetenmuster“ ist als bissige Anspielung auf die bei Hanslick als Vorbild für musikalische Schönheit angeführte Form der „Arabeske“ zu verstehen..
                    
                    Anstatt architektoni⸗
 scher und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika= und
 Dominantenverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zu⸗
 weilen gar philosophische Programm als wie eine Schiene
 sich angeschnürt.
 Jedes Motiv – so will es mir scheinen – enthält wie
                    ein Samen seinen Trieb in sich. Verschiedene Pflanzen⸗
 samen treiben verschiedene Pflanzenarten, an Form, Blät⸗
 tern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben voneinander
 abweichend.1
 1.
                                
                        
                            Vincent d’Indy in „César Franck.“»– – – Beethoven , dont les esquisses thématiques ou élémentaires
                                 sont innombrables, mais qui, sitôt les thèmes trouves, semble par cela
                                 même en avoir établi tout le développement –« | 
                                                            
                    
                    „Er gibt uns zugleich mit dem Problem auch die Lösung“,
                    
                     wie ich einmal von Mozart sagte.
                    
                    Die Wege, die uns Beethoven eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt
                     werden. Sie mögen – wie alles im Weltsystem – nur
                     einen Kreis bilden; dieser ist aber von solchen Dimensionen,
                     dass der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade Linie
                     erscheint. Wagners Kreis überblicken wir vollständig. –
                     Ein Kreis im großen Kreise. Der Name Wagner führt zur Programmmusik zurück.
                     Sie ist als ein Gegensatz zur sogenannten „absoluten“
                     Musik aufgestellt worden, und die Begriffe haben sich so verhärtet, dass selbst die Verständigen sich an den einen oder
                     den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, außer und
                     über den beiden liegende Möglichkeit anzunehmen. In
                     Wirklichkeit ist die Programmmusik ebenso einseitig und
                     begrenzt wie das als absolute Musik verkündete, von Hanslick verherrlichte Klang-Tapetenmuster
                                                                
                        Busoni verweist mit dieser (erst der Fassung von 1916 hinzugefügten) polemischen Formulierung auf Eduard Hanslicks musikästhetische Schrift Vom Musikalisch-Schönen. Hanslick postuliert darin eine sich ausschließlich in Musik äußernde und den Geist anregende „Schönheit“ als oberstes kompositorisches Prinzip. Besonders die häufig als Formalismus missverstandene Formulierung 
                            „Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik“ (1. Auflage, 1854)
                         und die mit der zentralen Kategorie der Schönheit einhergehende stilistische Einschränkung mögen bei Busoni auf Unwillen gestoßen sein. Das „Klang-Tapetenmuster“ ist als bissige Anspielung auf die bei Hanslick als Vorbild für musikalische Schönheit angeführte Form der „Arabeske“ zu verstehen..
                    
                    Anstatt architektonischer und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika- und
                     Dominantenverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zuweilen gar philosophische Programm als wie eine Schiene
                     sich angeschnürt. Jedes Motiv – so will es mir scheinen – enthält wie
                     ein Samen seinen Trieb in sich. Verschiedene Pflanzensamen treiben verschiedene Pflanzenarten, an Form, Blättern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben voneinander
                     abweichend.1
                 1.
                        
                        
                            Vincent d’Indy in „César Franck.“„– – – Beethoven , dont les esquisses thématiques ou élémentaires
                                 sont innombrables, mais qui, sitôt les thèmes trouvés, semble par cela
                                 même en avoir établi tout le développement –“ | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d11-1916" corresp="#d12-1907"><p type="split">
                    
                    <q rend="dq-du">Er gibt uns zugleich mit dem Problem auch die Lösung</q>,
                    
                    <lb/>wie ich einmal von <persName key="E0300010">Mozart</persName> sagte.
                    
                    Die Wege, die uns <persName key="E0300001">Beet
                        <lb break="no"/>hoven</persName> eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt
                    <lb/>werden. Sie mögen – wie alles im Weltsystem – nur
                    <lb/>einen Kreis bilden; dieser ist aber von solchen Dimensionen,
                    <lb/>da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade Linie
                    <lb/>erscheint. <persName key="E0300006">Wagners</persName> Kreis überblicken wir vollständig. –
                    <lb/>Ein Kreis im großen Kreise.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d12-1916" corresp="#d13-1907">
                
                <p>Der Name <persName key="E0300006">Wagner</persName> führt zur Programm<reg>m</reg>usik zurück.
                    <lb/>Sie ist als ein Gegensatz zur sogenannten <soCalled rend="dq-du">absoluten</soCalled>
                    <lb/>Musik aufgestellt worden, und die Begriffe haben sich so ver
                    <lb break="no"/>härtet, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> selbst die Verständigen sich an den einen oder
                    <lb/>den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, außer und
                    <lb/>über den beiden liegende Möglichkeit anzunehmen. In
                    <lb/>Wirklichkeit ist die Programm<reg>m</reg>usik ebenso einseitig und
                    <lb/>begrenzt wie das als absolute Musik verkündete, von <persName key="E0300014">Hans
                        <lb break="no"/>lick</persName> verherrlichte Klang<pc>=</pc>Tapetenmuster
                    
                    <note type="commentary" resp="#E0300318">
                        <persName key="E0300017">Busoni</persName> verweist mit dieser (erst der Fassung von 1916 hinzugefügten) polemischen Formulierung auf <persName key="E0300014">Eduard Hanslicks</persName> musikästhetische Schrift <title key="E0400007">Vom Musikalisch-Schönen</title>. <persName key="E0300014">Hanslick</persName> postuliert darin eine sich ausschließlich in Musik äußernde und den Geist anregende <q>Schönheit</q> als oberstes kompositorisches Prinzip. Besonders die häufig als Formalismus missverstandene Formulierung <cit>
                            <q>Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik</q> <bibl>(1. Auflage, 1854)</bibl>
                        </cit> und die mit der zentralen Kategorie der Schönheit einhergehende stilistische Einschränkung mögen bei <persName key="E0300017">Busoni</persName> auf Unwillen gestoßen sein. Das <q>Klang-Tapetenmuster</q> ist als bissige Anspielung auf die bei <persName key="E0300014">Hanslick</persName> als Vorbild für musikalische Schönheit angeführte Form der <q>Arabeske</q> zu verstehen.</note>.
                    
                    Anstatt architektoni
                    <lb break="no"/>scher und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika<pc>=</pc> und
                    <lb/>Dominantenverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zu
                    <lb break="no"/>weilen gar philosophische Programm als wie eine Schiene
                    <lb/>sich angeschnürt.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="pre-split" xml:id="d13-1916" corresp="#d14-1907">
                
                <p>Jedes Motiv – so will es mir scheinen – enthält wie
                    <lb/>ein Samen seinen Trieb in sich. Verschiedene Pflanzen
                    <lb break="no"/>samen treiben verschiedene Pflanzenarten, an Form, Blät
                    <lb break="no"/>tern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben voneinander
                    <lb/>abweichend.
                    
                    <note place="bottom" n="1">
                        <cit>
                            <quote rend="antiqua dq-chev">– – – <persName key="E0300001">Beethoven</persName>, dont les esquisses thématiques ou élémentaires
                                <lb/>sont innombrables, mais qui, sitôt les thèmes trouv<choice><sic>e</sic><corr>é</corr></choice>s, semble par cela
                                <lb/>même en avoir établi tout le développement –</quote>
                            <bibl rend="align(right)"><persName key="E0300016">Vincent d’Indy</persName> in <title key="E0800234" rend="dq-du"><persName key="E0300015">César Franck</persName>.</title></bibl>
                        </cit>
                    </note>
                </p>
                
                </div> | 
                                                
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                Selbst eine und dieselbe Pflanzengattung wächst an Aus⸗dehnung, Gestalt und Kraft, in jedem Exemplar selbständig
 geartet. So liegt in jedem Motiv schon seine vollgereifte
 Form vorbestimmt; jedes einzelne muß sich anders entfalten,
 doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen Har⸗
 monie. Diese Form bleibt unzerstörbar, doch niemals sich
 gleich.
 Das Klangmotiv des programmusikalischen Werkes
                    birgt die nämlichen Bedingungen in sich; es muß aber –
 schon bei seiner nächsten Entwicklungsphase – sich nicht
 nach dem eigenen Gesetz, sondern nach dem des „Program⸗
 mes“ formen, vielmehr „krümmen“. Dergestalt, gleich in
 der ersten Bildung aus dem naturgesetzlichen Wege ge⸗
 bracht, gelangt es schließlich zu einem ganz unerwarteten
 Gipfel, wohin nicht seine Organisation, sondern das Pro⸗
 gramm, die Handlung, die philosophische Idee vorsätzlich es
 geführt.
 Fürwahr, eine begrenzte, primitive Kunst! Gewiß gibt
                    es nicht mißzudeutende, tonmalende Ausdrücke – (sie haben
 die Veranlassung zu dem ganzen Prinzip gegeben) –, aber
 es sind wenige und kleine Mittel, die einen ganz geringen
 Teil der Tonkunst ausmachen. Das wahrnehmbarste von
 ihnen, die Erniedrigung des Klanges zu Schall, bei Nach⸗
 ahmung von Naturgeräuschen: das Rollen des Don⸗
 ners, das Rauschen der Bäume und die Tierlaute; und
 schon weniger wahrnehmbar, symbolisch, die dem Gesichts⸗
 sinn entnommenen Nachbildungen, wie Blitzesleuchten,
 Sprungbewegungen, Vogelflug; nur durch Übertragung
 des reflektierenden Gehirns verständlich: das Trompeten⸗
 signal als kriegerisches Symbol, die Schalmei als ländliches
 | 
                
                Selbst eine und dieselbe Pflanzengattung wächst an Ausdehnung, Gestalt und Kraft in jedem Exemplar selbständig
                     geartet. So liegt in jedem Motiv schon seine vollgereifte
                     Form vorbestimmt; jedes einzelne muss sich anders entfalten,
                     doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen Harmonie. Diese Form bleibt unzerstörbar, doch niemals sich
                     gleich. Das Klangmotiv des programmmusikalischen Werkes
                     birgt die nämlichen Bedingungen in sich; es muss aber –
                     schon bei seiner nächsten Entwicklungsphase – sich nicht
                     nach dem eigenen Gesetz, sondern nach dem des „Programmes“ formen, vielmehr „krümmen“. Dergestalt, gleich in
                     der ersten Bildung aus dem naturgesetzlichen Wege gebracht, gelangt es schließlich zu einem ganz unerwarteten
                     Gipfel, wohin nicht seine Organisation, sondern das Programm, die Handlung, die philosophische Idee vorsätzlich es
                     geführt. Fürwahr, eine begrenzte, primitive Kunst! Gewiss gibt
                     es nicht misszudeutende, tonmalende Ausdrücke – (sie haben
                     die Veranlassung zu dem ganzen Prinzip gegeben) –, aber
                     es sind wenige und kleine Mittel, die einen ganz geringen
                     Teil der Tonkunst ausmachen. Das wahrnehmbarste von
                     ihnen, die Erniedrigung des Klanges zu Schall, bei Nachahmung von Naturgeräuschen: das Rollen des Donners, das Rauschen der Bäume und die Tierlaute; und
                     schon weniger wahrnehmbar, symbolisch, die dem Gesichtssinn entnommenen Nachbildungen, wie Blitzesleuchten,
                     Sprungbewegungen, Vogelflug; nur durch Übertragung
                     des reflektierenden Gehirns verständlich: das Trompetensignal als kriegerisches Symbol, die Schalmei als ländliches
                    
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                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d13-1916" corresp="#d14-1907" type="split">
                
                <p>Selbst eine und dieselbe Pflanzengattung wächst an Aus
                    <lb break="no"/>dehnung, Gestalt und Kraft<orig>,</orig> in jedem Exemplar selbständig
                    <lb/>geartet. So liegt in jedem Motiv schon seine vollgereifte
                    <lb/>Form vorbestimmt; jedes einzelne mu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> sich anders entfalten,
                    <lb/>doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen Har
                    <lb break="no"/>monie. Diese Form bleibt unzerstörbar, doch niemals sich
                    <lb/>gleich.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="pre-split" xml:id="d14-1916" corresp="#d15-1907">
                
                <p>Das Klangmotiv des programm<reg>m</reg>usikalischen Werkes
                    <lb/>birgt die nämlichen Bedingungen in sich; es mu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> aber –
                    <lb/>schon bei seiner nächsten Entwicklungsphase – sich nicht
                    <lb/>nach dem eigenen Gesetz, sondern nach dem des <soCalled rend="dq-du">Program
                        <lb break="no"/>mes</soCalled> formen, vielmehr <soCalled rend="dq-du">krümmen</soCalled>. Dergestalt, gleich in
                    <lb/>der ersten Bildung aus dem naturgesetzlichen Wege ge
                    <lb break="no"/>bracht, gelangt es schließlich zu einem ganz unerwarteten
                    <lb/>Gipfel, wohin nicht seine Organisation, sondern das Pro
                    <lb break="no"/>gramm, die Handlung, die philosophische Idee vorsätzlich es
                    <lb/>geführt.</p>
                
                <p type="pre-split">Fürwahr, eine begrenzte, primitive Kunst! Gewi<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> gibt
                    <lb/>es nicht mi<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>zudeutende, tonmalende Ausdrücke – (sie haben
                    <lb/>die Veranlassung zu dem ganzen Prinzip gegeben) –, aber
                    <lb/>es sind wenige und kleine Mittel, die einen ganz geringen
                    <lb/>Teil der Tonkunst ausmachen. Das wahrnehmbarste von
                    <lb/>ihnen, die Erniedrigung des Klanges zu Schall, bei Nach
                    <lb break="no"/>ahmung von Naturgeräuschen: das Rollen des Don
                    <lb break="no"/>ners, das Rauschen der Bäume und die Tierlaute; und
                    <lb/>schon weniger wahrnehmbar, symbolisch, die dem Gesichts
                    <lb break="no"/>sinn entnommenen Nachbildungen, wie Blitzesleuchten,
                    <lb/>Sprungbewegungen, Vogelflug; nur durch Übertragung
                    <lb/>des reflektierenden Gehirns verständlich: das Trompeten
                    <lb break="no"/>signal als kriegerisches Symbol, die Schalmei als ländliches
                    
                    </p></div> | 
                                                
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                    Schild, der Marschrhythmus in der Bedeutung des Schrei⸗tens, der Choral als Träger der religiösen Empfindung.
 Zählen wir noch das Nationalcharakteristische – National⸗
 instrumente, Nationalweisen – zum vorigen, so haben
 wir die Rüstkammer der Programmusik erschöpfend be⸗
 sichtigt. Bewegung und Ruhe, Moll und Dur, Hoch und
 Tief1
                    
                    in ihrer herkömmlichen Bedeutung ergänzen das
 Inventar. Das sind gut verwendbare Nebenhilfsmittel in
 einem großen Rahmen, aber allein genommen ebensowenig
 Musik, als Wachsfiguren Monumente zu nennen sind.
 Und was kann schließlich die Darstellung eines kleinen
                    Vorgangs auf Erden, der Bericht über einen ärgerlichen
 Nachbar – gleichviel ob in der angrenzenden Stube oder
 im angrenzenden Weltteile – mit jener Musik, die durch
 das Weltall zieht, gemeinsam haben?
 Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gemüts
                    zustände schwingen zu lassen: Angst (Leporello), Beklemmung,
 Erstarkung, Ermattung (Beethovens letzte Quartette), Ent⸗
 schluß (Wotan), Zögern, Niedergeschlagenheit, Ermunterung,
 Härte, Weichheit, Aufregung, Beruhigung, das Überraschende,
 das Erwartungsvolle, und mehr; ebenso den inneren
 Widerklang äußerer Ereignisse, der in jenen Gemütsstim⸗
 mungen enthalten ist. Nicht aber den Beweggrund jener
 Seelenregungen selbst: nicht die Freude über eine beseitigte
 Gefahr, nicht die Gefahr oder die Art der Gefahr, welche
 die Angst hervorruft; wohl einen Leidenschaftszustand, aber
 wiederum nicht die psychische Gattung dieser Leidenschaft,
 1.
                                
                        Vergleiche später die Sätze über die „Tiefe“.
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                    Schild, der Marschrhythmus in der Bedeutung des Schreitens, der Choral als Träger der religiösen Empfindung. 
                     Zählen wir noch das Nationalcharakteristische – Nationalinstrumente, Nationalweisen – zum vorigen, so haben
                     wir die Rüstkammer der Programmmusik erschöpfend besichtigt. Bewegung und Ruhe, Moll und Dur, Hoch und
                     Tief1
                    
                    in ihrer herkömmlichen Bedeutung ergänzen das 
                     Inventar. Das sind gut verwendbare Nebenhilfsmittel in
                     einem großen Rahmen, aber allein genommen ebenso wenig
                     Musik, als Wachsfiguren Monumente zu nennen sind. Und was kann schließlich die Darstellung eines kleinen
                     Vorgangs auf Erden, der Bericht über einen ärgerlichen
                     Nachbarn – gleichviel ob in der angrenzenden Stube oder
                     im angrenzenden Weltteile – mit jener Musik, die durch
                     das Weltall zieht, gemeinsam haben? Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gemüts
                     zustände schwingen zu lassen: Angst (Leporello), Beklemmung,
                     Erstarkung, Ermattung (Beethovens letzte Quartette), Entschluss (Wotan), Zögern, Niedergeschlagenheit, Ermunterung,
                     Härte, Weichheit, Aufregung, Beruhigung, das Überraschende,
                     das Erwartungsvolle, und mehr; ebenso den inneren 
                     Widerklang äußerer Ereignisse, der in jenen Gemütsstimmungen enthalten ist. Nicht aber den Beweggrund jener 
                     Seelenregungen selbst: nicht die Freude über eine beseitigte 
                     Gefahr, nicht die Gefahr oder die Art der Gefahr, welche 
                     die Angst hervorruft; wohl einen Leidenschaftszustand, aber
                     wiederum nicht die psychische Gattung dieser Leidenschaft,
                    
                     1.
                        
                        Vergleiche später die Sätze über die „Tiefe“.
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                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d14-1916" corresp="#d15-1907"><p type="split">
                    
                    Schild, der Marschrhythmus in der Bedeutung des Schrei
                    <lb break="no"/>tens, der Choral als Träger der religiösen Empfindung. 
                    <lb/>Zählen wir noch das Nationalcharakteristische – National
                    <lb break="no"/>instrumente, Nationalweisen – zum vorigen, so haben
                    <lb/>wir die Rüstkammer der Programm<reg>m</reg>usik erschöpfend be
                    <lb break="no"/>sichtigt. Bewegung und Ruhe, Moll und Dur, Hoch und
                    <lb/>Tief
                    
                    <note place="bottom" n="1">
                        <p>Vergleiche <ref target="#d30-1916">später die Sätze über die <soCalled rend="dq-du">Tiefe</soCalled>.</ref>
                        </p>
                    </note>
                    
                    in ihrer herkömmlichen Bedeutung ergänzen das 
                    <lb/>Inventar. Das sind gut verwendbare Nebenhilfsmittel in
                    <lb/>einem großen Rahmen, aber allein genommen ebenso<reg> </reg>wenig
                    <lb/>Musik, als Wachsfiguren Monumente zu nennen sind.</p>
                
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                <p>Und was kann schließlich die Darstellung eines kleinen
                    <lb/>Vorgangs auf Erden, der Bericht über einen ärgerlichen
                    <lb/>Nachbar<reg>n</reg> – gleichviel ob in der angrenzenden Stube oder
                    <lb/>im angrenzenden Weltteile – mit jener Musik, die durch
                    <lb/>das Weltall zieht, gemeinsam haben?</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="pre-split" xml:id="d16-1916" corresp="#d17-1907">
                
                <p type="pre-split">Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gemüts
                    <lb/>zustände schwingen zu lassen: Angst (Leporello), Beklemmung,
                    <lb/>Erstarkung, Ermattung (<persName key="E0300001">Beethovens</persName> letzte Quartette), Ent
                    <lb break="no"/>schlu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> (Wotan), Zögern, Niedergeschlagenheit, Ermunterung,
                    <lb/>Härte, Weichheit, Aufregung, Beruhigung, das Überraschende,
                    <lb/>das Erwartungsvolle, und mehr; ebenso den inneren 
                    <lb/>Widerklang äußerer Ereignisse, der in jenen Gemütsstim
                    <lb break="no"/>mungen enthalten ist. Nicht aber den Beweggrund jener 
                    <lb/>Seelenregungen selbst: nicht die Freude über eine beseitigte 
                    <lb/>Gefahr, nicht die Gefahr oder die Art der Gefahr, welche 
                    <lb/>die Angst hervorruft; wohl einen Leidenschaftszustand, aber
                    <lb/>wiederum nicht die psychische Gattung dieser Leidenschaft,
                    
                    </p></div> | 
                                                
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                    ob Neid oder Eifersucht; ebenso vergeblich ist es, moralische
                    Eigenschaften, Eitelkeit, Klugheit, in Töne umzusetzen oder
 gar abstrakte Begriffe, wie Wahrheit und Gerechtigkeit,
 durch sie aussprechen zu wollen. Könnte man denken, wie
 ein armer, doch zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben
 wäre? Die Zufriedenheit, der seelische Teil, kann zu Musik
 werden; wo bleibt aber die Armut, das ethische Problem,
 das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufrieden. Das
 kommt daher, daß „arm“ eine Form irdischer und gesellschaft⸗
 licher Zustände ist, die in der ewigen Harmonie nicht zu
 finden ist. Musik ist aber ein Teil des schwingenden Weltalls.
 Der größte Teil neuerer Theatermusik leidet an dem 
                    Fehler, daß sie die Vorgänge, die sich auf der Bühne ab⸗
 spielen, wiederholen will, anstatt ihrer eigentlichen Aufgabe
 nachzugehen, den Seelenzustand der handelnden Personen
 während jener Vorgänge zu tragen. Wenn die
 Bühne die Illusion eines Gewitters vortäuscht,[ ]so ist dieses Ereignis
 durch das Auge erschöpfend wahrgenommen. Fast alle
 Komponisten bemühen sich jedoch, das Gewitter in Tönen
 zu beschreiben, welches nicht nur eine unnötige nud schwächere
 Wiederholung, sondern auch eine Versäumnis ihrer Auf⸗
 gabe ist. Die Person auf der Bühne wird entweder von
 dem Gewitter seelisch beeinflußt, oder ihr Gemüt verweilt in⸗
 folge von Gedanken, die es stärker in Anspruch nehmen, un⸗
 beirrt. Das Gewitter ist sichtbar und hörbar ohne Hilfe der
 Musik; was aber in der Seele des Menschen währenddessen
 vorgeht, das Unsichtbare und Unhörbare, das soll die Musik
 verständlich machen.
 | 
                                                            
                    
                    ob Neid oder Eifersucht; ebenso vergeblich ist es, moralische
                     Eigenschaften, Eitelkeit, Klugheit in Töne umzusetzen oder
                     gar abstrakte Begriffe, wie Wahrheit und Gerechtigkeit,
                     durch sie aussprechen zu wollen. Könnte man denken, wie
                     ein armer, doch zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben
                     wäre? Die Zufriedenheit, der seelische Teil, kann zu Musik
                     werden; wo bleibt aber die Armut, das ethische Problem, 
                     das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufrieden. Das
                     kommt daher, dass „arm“ eine Form irdischer und gesellschaftlicher Zustände ist, die in der ewigen Harmonie nicht zu 
                     finden ist. Musik ist aber ein Teil des schwingenden Weltalls. Der größte Teil neuerer Theatermusik leidet an dem 
                     Fehler, dass sie die Vorgänge, die sich auf der Bühne abspielen, wiederholen will, anstatt ihrer eigentlichen Aufgabe 
                     nachzugehen, den Seelenzustand der handelnden Personen
                     während jener Vorgänge zu tragen. Wenn die
                     Bühne die Illusion eines Gewitters vortäuscht, so ist dieses Ereignis
                     durch das Auge erschöpfend wahrgenommen. Fast alle
                     Komponisten bemühen sich jedoch, das Gewitter in Tönen 
                     zu beschreiben, welches nicht nur eine unnötige und schwächere
                     Wiederholung, sondern auch ein Versäumnis ihrer Aufgabe ist. Die Person auf der Bühne wird entweder von
                     dem Gewitter seelisch beeinflusst, oder ihr Gemüt verweilt infolge von Gedanken, die es stärker in Anspruch nehmen, unbeirrt. Das Gewitter ist sichtbar und hörbar ohne Hilfe der
                     Musik; was aber in der Seele des Menschen währenddessen 
                     vorgeht, das Unsichtbare und Unhörbare, das soll die Musik
                     verständlich machen. | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d16-1916" corresp="#d17-1907"><p type="split">
                    
                    ob Neid oder Eifersucht; ebenso vergeblich ist es, moralische
                    <lb/>Eigenschaften, Eitelkeit, Klugheit<orig>,</orig> in Töne umzusetzen oder
                    <lb/>gar abstrakte Begriffe, wie Wahrheit und Gerechtigkeit,
                    <lb/>durch sie aussprechen zu wollen. Könnte man denken, wie
                    <lb/>ein armer, doch zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben
                    <lb/>wäre? Die Zufriedenheit, der seelische Teil, kann zu Musik
                    <lb/>werden; wo bleibt aber die Armut, das ethische Problem, 
                    <lb/>das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufrieden. Das
                    <lb/>kommt daher, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> „arm“ eine Form irdischer und gesellschaft
                    <lb break="no"/>licher Zustände ist, die in der ewigen Harmonie nicht zu 
                    <lb/>finden ist. Musik ist aber ein Teil des schwingenden Weltalls.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d17-1916" corresp="#d18-1907">
                
                <p>Der größte Teil neuerer Theatermusik leidet an dem 
                    <lb/>Fehler, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> sie die Vorgänge, die sich auf der Bühne ab
                    <lb break="no"/>spielen, wiederholen will, anstatt ihrer eigentlichen Aufgabe 
                    <lb/>nachzugehen, den Seelenzustand der handelnden Personen
                    <lb/>während jener Vorgänge zu tragen. Wenn die
                    <lb/>Bühne die Illusion eines Gewitters vortäuscht,<supplied> </supplied>so ist dieses Ereignis
                    <lb/>durch das Auge erschöpfend wahrgenommen. Fast alle
                    <lb/>Komponisten bemühen sich jedoch, das Gewitter in Tönen 
                    <lb/>zu beschreiben, welches nicht nur eine unnötige <choice><sic>nud</sic><corr>und</corr></choice> schwächere
                    <lb/>Wiederholung, sondern auch ein<orig>e</orig> Versäumnis ihrer Auf
                    <lb break="no"/>gabe ist. Die Person auf der Bühne wird entweder von
                    <lb/>dem Gewitter seelisch beeinflu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>t, oder ihr Gemüt verweilt in
                    <lb break="no"/>folge von Gedanken, die es stärker in Anspruch nehmen, un
                    <lb break="no"/>beirrt. Das Gewitter ist sichtbar und hörbar ohne Hilfe der
                    <lb/>Musik; was aber in der Seele des Menschen währenddessen 
                    <lb/>vorgeht, das Unsichtbare und Unhörbare, das soll die Musik
                    <lb/>verständlich machen.</p>
                
            </div> | 
                                                
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                Wiederum gibt es „sichtbare“ Seelenzustände auf der 
                    Bühne, um die sich die Musik nicht zu kümmern braucht.
 Nehmen wir die theatralische Situation,1
                    
                    daß eine lustige
 nächtliche Gesellschaft sich singend entfernt und dem Auge
 entschwindet, indessen im Vordergrund ein schweigsamer, er⸗
 bitterter Zweikampf ausgefochten wird. Hier wird die Mu⸗
 sik die dem Auge nicht mehr erreichbare lustige Gesellschaft
 durch den fortzusetzenden Gesang gegenwärtig halten müssen:
 was die beiden vorderen treiben und dabei empfinden, ist
 ohne jede weitere Erläuterung erkennbar, und die Musik
 darf, dramatisch gesprochen, nicht sich daran beteiligen, das
 tragische Schweigen nicht brechen.
 Für bedingt gerechtfertigt halte ich den Modus der alten
                    Oper, welche die durch eine dramatisch=bewegte Szene ge⸗
 wonnene Stimmung in einem geschlossenen Stücke zusammen⸗
 faßte und ausklingen ließ (Arie). – Wort und Gesten
 vermittelten den dramatischen Gang der Handlung, von der
 Musik mehr oder weniger dürftig rezitativisch gefolgt; an
 dem Ruhepunkt angelangt, nahm die Musik den Hauptsitz
 wieder ein. Das ist weniger äußerlich, als man es jetzt
 glauben machen will. Wieder war es aber die versteifte
 Form der „Arie“ selbst, die zu der Unwahrheit des Aus⸗
 drucks und zum Verfall führte.
 Immer wird das gesungene Wort auf der Bühne eine 
                    Konvention bleiben und ein Hindernis für alle wahrhaftige
 Wirkung: aus diesem Konflikt mit Anstand hervorzugehen,
 wird eine Handlung, in welcher die Personen singend agieren,
 von Anfang an auf das Unglaubhafte, Unwahre, Unwahr⸗
 scheinliche gestellt sein müssen, auf daß eine Unmöglichkeit
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                Wiederum gibt es „sichtbare“ Seelenzustände auf der 
                     Bühne, um die sich die Musik nicht zu kümmern braucht.
                     Nehmen wir die theatralische Situation,1
                    
                    dass eine lustige 
                     nächtliche Gesellschaft sich singend entfernt und dem Auge 
                     entschwindet, indessen im Vordergrund ein schweigsamer, erbitterter Zweikampf ausgefochten wird. Hier wird die Musik die dem Auge nicht mehr erreichbare lustige Gesellschaft 
                     durch den fortzusetzenden Gesang gegenwärtig halten müssen:
                     
                    Was die beiden Vorderen treiben und dabei empfinden, ist
                     ohne jede weitere Erläuterung erkennbar, und die Musik 
                     darf, dramatisch gesprochen, nicht sich daran beteiligen, das 
                     tragische Schweigen nicht brechen. Für bedingt gerechtfertigt halte ich den Modus der alten
                     Oper, welche die durch eine dramatisch-bewegte Szene gewonnene Stimmung in einem geschlossenen Stücke zusammenfasste und ausklingen ließ (Arie). – Wort und Gesten 
                     vermittelten den dramatischen Gang der Handlung, von der 
                     Musik mehr oder weniger dürftig rezitativisch gefolgt; an 
                     dem Ruhepunkt angelangt, nahm die Musik den Hauptsitz
                     wieder ein. Das ist weniger äußerlich, als man es jetzt
                     glauben machen will. Wieder war es aber die versteifte
                     Form der „Arie“ selbst, die zu der Unwahrheit des Ausdrucks und zum Verfall führte. Immer wird das gesungene Wort auf der Bühne eine 
                     Konvention bleiben und ein Hindernis für alle wahrhaftige
                     Wirkung: Aus diesem Konflikt mit Anstand hervorzugehen,
                     wird eine Handlung, in welcher die Personen singend agieren, 
                     von Anfang an auf das Unglaubhafte, Unwahre, Unwahrscheinliche gestellt sein müssen, auf dass eine Unmöglichkeit
                    
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                <p>Wiederum gibt es „sichtbare“ Seelenzustände auf der 
                    <lb/>Bühne, um die sich die Musik nicht zu kümmern braucht.
                    <lb/>Nehmen wir die theatralische Situation,
                    
                    <note place="bottom" n="1">
                        <p>Aus <persName key="E0300020">Offenbachs</persName> 
                            <title key="E0400051" rend="dq-du">Les contes d’Hoffmann</title>.</p>
                    </note>
                    
                    da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> eine lustige 
                    <lb/>nächtliche Gesellschaft sich singend entfernt und dem Auge 
                    <lb/>entschwindet, indessen im Vordergrund ein schweigsamer, er
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                    <lb/>durch den fortzusetzenden Gesang gegenwärtig halten müssen:
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                    <lb/>ohne jede weitere Erläuterung erkennbar, und die Musik 
                    <lb/>darf, dramatisch gesprochen, nicht sich daran beteiligen, das 
                    <lb/>tragische Schweigen nicht brechen.</p>
                
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                <p>Für bedingt gerechtfertigt halte ich den Modus der alten
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                    <lb break="no"/>wonnene Stimmung in einem geschlossenen Stücke zusammen
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                    <lb/>vermittelten den dramatischen Gang der Handlung, von der 
                    <lb/>Musik mehr oder weniger dürftig rezitativisch gefolgt; an 
                    <lb/>dem Ruhepunkt angelangt, nahm die Musik den Hauptsitz
                    <lb/>wieder ein. Das ist weniger äußerlich, als man es jetzt
                    <lb/>glauben machen will. Wieder war es aber die versteifte
                    <lb/>Form der „Arie“ selbst, die zu der Unwahrheit des Aus
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                <p type="pre-split">Immer wird das gesungene Wort auf der Bühne eine 
                    <lb/>Konvention bleiben und ein Hindernis für alle wahrhaftige
                    <lb/>Wirkung: <choice><orig>a</orig><reg>A</reg></choice>us diesem Konflikt mit Anstand hervorzugehen,
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                    <lb/>von Anfang an auf das Unglaubhafte, Unwahre, Unwahr
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                    die andere stütze und so beide möglich und annehmbar
                    werden.
 Schon deshalb, und weil er von vornherein dieses wichtigste
                    Prinzip ignoriert, sehe ich den sogenannten italienischen Veris⸗
 mus für die musikalische Bühne als unhaltbar an.
 Bei der Frage über die Zukunft der Oper ist es nötig,
                    über diese andere Klarheit zu gewinnen: „An welchen Mo⸗
 menten ist die Musik auf der Bühne unerläßlich?“ Die
 präzise Antwort gibt diese Auskunft: „Bei
 Tänzen, bei Märschen, bei Liedern und – beim Eintreten des Über⸗
 natürlichen in die Handlung.“
 Es ergibt sich demnach eine kommende Möglichkeit in der 
                    Idee des übernatürlichen Stoffes. Und noch eine: in der
 des absoluten „Spieles“, des unterhaltenden Verkleidungs⸗
 treibens, der Bühne als offenkundige und angesagte Ver⸗
 stellung, in der Idee des Scherzes und der Unwirklichkeit
 als Gegensätze zum Ernste und zur Wahrhaftigkeit des Lebens.
 Dann ist es am rechten Platze, daß die Personen singend
 ihre Liebe beteuern und ihren Haß ausladen, und daß sie
 melodisch im Duell fallen, daß sie bei pathetischen Explo⸗
 sionen auf hohen Tönen Fermaten aushalten; es ist dann am
 rechten Platze, daß sie sich absichtlich anders gebärden als
 im Leben, anstatt daß sie (wie in unseren Theatern und in
 der Oper zumal) unabsichtlich alles verkehrt machen.
 Es sollte die Oper des Übernatürlichen oder des Unnatür⸗lichen, als der allein ihr natürlich zufallenden Region der
 Erscheinungen und der Empfindungen, sich bemächtigen und
 dergestalt eine Scheinwelt schaffen, die das Leben entweder
 in einen Zauberspiegel oder einen Lachspiegel reflektiert; die
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                    die andere stütze und so beide möglich und annehmbar
                     werden. Schon deshalb, und weil er von vornherein dieses wichtigste
                     Prinzip ignoriert, sehe ich den sogenannten italienischen Verismus für die musikalische Bühne als unhaltbar an. Bei der Frage über die Zukunft der Oper ist es nötig,
                     über diese andere Klarheit zu gewinnen: „An welchen Momenten ist die Musik auf der Bühne unerlässlich?“ Die 
                     präzise Antwort gibt diese Auskunft: „Bei
                     Tänzen, bei Märschen, bei Liedern und – beim Eintreten des Übernatürlichen in die Handlung.“ Es ergibt sich demnach eine kommende Möglichkeit in der 
                     Idee des übernatürlichen Stoffes. Und noch eine: in der
                     des absoluten „Spieles“, des unterhaltenden Verkleidungstreibens, der Bühne als offenkundige und angesagte Verstellung, in der Idee des Scherzes und der Unwirklichkeit
                     als Gegensätze zum Ernste und zur Wahrhaftigkeit des Lebens.
                     Dann ist es am rechten Platze, dass die Personen singend
                     ihre Liebe beteuern und ihren Hass ausladen, und dass sie
                     melodisch im Duell fallen, dass sie bei pathetischen Explosionen auf hohen Tönen Fermaten aushalten; es ist dann am
                     rechten Platze, dass sie sich absichtlich anders gebärden als
                     im Leben, anstatt dass sie (wie in unseren Theatern und in
                     der Oper zumal) unabsichtlich alles verkehrt machen. Es sollte die Oper des Übernatürlichen oder des Unnatürlichen, als der allein ihr natürlich zufallenden Region der
                     Erscheinungen und der Empfindungen, sich bemächtigen und
                     dergestalt eine Scheinwelt schaffen, die das Leben entweder
                     in einen Zauberspiegel oder einen Lachspiegel reflektiert; die
                    
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                    die andere stütze und so beide möglich und annehmbar
                    <lb/>werden.</p>
                
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                <p>Bei der Frage über die Zukunft der Oper ist es nötig,
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                    <lb/>präzise Antwort gibt diese Auskunft: „Bei
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                <p>Es ergibt sich demnach eine kommende Möglichkeit in der 
                    <lb/>Idee des übernatürlichen Stoffes. Und noch eine: in der
                    <lb/>des absoluten „Spieles“, des unterhaltenden Verkleidungs
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                    <lb/>Dann ist es am rechten Platze, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> die Personen singend
                    <lb/>ihre Liebe beteuern und ihren Ha<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> ausladen, und da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> sie
                    <lb/>melodisch im Duell fallen, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> sie bei pathetischen Explo
                    <lb break="no"/>sionen auf hohen Tönen Fermaten aushalten; es ist dann am
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                <p type="pre-split">Es sollte die Oper des Übernatürlichen oder des Unnatür
                    <lb break="no"/>lichen, als der allein ihr natürlich zufallenden Region der
                    <lb/>Erscheinungen und der Empfindungen, sich bemächtigen und
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                    bewußt das geben will, was in dem wirklichen Leben nicht
                    zu finden ist. Der Zauberspiegel für die ernste Oper, der
 Lachspiegel für die heitere. Und lasset Tanz und Masken⸗
 spiel und Spuk mit eingeflochten sein, auf daß der Zuschauer
 der anmutigen Lüge auf jedem Schritt gewahr bleibe und
 nicht sich ihr hingebe wie einem Erlebnis.
 So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt
                    werden darf – soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel
 im gegebenen Augenblicke einbüßen –, so darf auch der
 Zuschauer, will er die theatralische Wirkung kosten, diese
 niemals für Wirklichkeit ansehen, soll nicht der künstlerische
 Genuß zur menschlichen Teilnahme herabsinken. Der Dar⸗
 steller „spiele“ – er erlebe nicht. Der Zuschauer bleibe un⸗
 gläubig und dadurch ungehindert im geistigen Empfangen
 und Feinschmecken.
 Auf solche Voraussetzungen gestützt, ließe sich eine Zukunft
                    für die Oper sehr wohl erwarten. Aber das erste und stärkste
 Hindernis, fürchte ich, wird uns das Publikum selbst bereiten.
 Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus
                    kriminell veranlagt, und man kann vermuten, daß die meisten
 von der Bühne ein starkes menschliches Erlebnis wohl des⸗
 halb fordern, weil ein solches in ihren Durchschnittsexistenzen
 fehlt; und wohl auch deswegen, weil ihnen der Mut zu
 solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht ver⸗
 langt. Und die Bühne spendet ihnen diese Konflikte, ohne
 die begleitenden Gefahren und die schlimmen Folgen, un⸗
 kompromittierend, und vor allem: unanstrengend. Denn
 das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, daß,
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                    bewusst das geben will, was in dem wirklichen Leben nicht
                     zu finden ist. Der Zauberspiegel für die ernste Oper, der
                     Lachspiegel für die heitere. Und lasset Tanz und Maskenspiel und Spuk mit eingeflochten sein, auf dass der Zuschauer
                     der anmutigen Lüge auf jedem Schritt gewahr bleibe und
                     nicht sich ihr hingebe wie einem Erlebnis. So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt
                     werden darf – soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel
                     im gegebenen Augenblicke einbüßen –, so darf auch der
                     Zuschauer, will er die theatralische Wirkung kosten, diese
                     niemals für Wirklichkeit ansehen, soll nicht der künstlerische
                     Genuss zur menschlichen Teilnahme herabsinken. Der Darsteller „spiele“ – er erlebe nicht. Der Zuschauer bleibe ungläubig und dadurch ungehindert im geistigen Empfangen
                     und Feinschmecken. Auf solche Voraussetzungen gestützt, ließe sich eine Zukunft
                     für die Oper sehr wohl erwarten. Aber das erste und stärkste
                     Hindernis, fürchte ich, wird uns das Publikum selbst bereiten. Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus
                     kriminell veranlagt, und man kann vermuten, dass die meisten
                     von der Bühne ein starkes menschliches Erlebnis wohl deshalb fordern, weil ein solches in ihren Durchschnittsexistenzen
                     fehlt; und wohl auch deswegen, weil ihnen der Mut zu
                     solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht verlangt. Und die Bühne spendet ihnen diese Konflikte, ohne
                     die begleitenden Gefahren und die schlimmen Folgen, unkompromittierend, und vor allem: unanstrengend. Denn 
                     das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, dass,
                    
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                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d20-1916"><p type="split">
                    
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                    <lb/>Lachspiegel für die heitere. Und lasset Tanz und Masken
                    <lb break="no"/>spiel und Spuk mit eingeflochten sein, auf da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> der Zuschauer
                    <lb/>der anmutigen Lüge auf jedem Schritt gewahr bleibe und
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                <p>So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt
                    <lb/>werden darf – soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel
                    <lb/>im gegebenen Augenblicke einbüßen –, so darf auch der
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                <p>Auf solche Voraussetzungen gestützt, ließe sich eine Zukunft
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                    <lb/>Hindernis, fürchte ich, wird uns das Publikum selbst bereiten.</p>
                
                <p type="pre-split">Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus
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                    um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an dem⸗selben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß.
 Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien 
                    Höhen, aus welchen die Tonkunst selbst herabstieg. Wo ihr
 droht, irdisch zu werden, hat er sie zu heben und ihr zu ihrem
 ursprünglichen „schwebenden“ Zustand zu verhelfen.
 Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken ist
                    zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten,
 um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu
 dieser wie das Portrait zum lebendigen Modell. Der Vor⸗
 tragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen
 und in Bewegung zu bringen. –
 Die Gesetzgeber aber verlangen, daß der Vortragende 
                    die Starrheit der Zeichen wiedergebe, und erachten die Wieder⸗
 gabe für um so vollkommener, je mehr sie sich an die Zeichen
 hält.
 Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration
 durch die Zeichen einbüßt1,
                    
                    das soll der Vortragende durch
 seine eigene wiederherstellen.
 Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das Wichtigste,
                    sie werden es ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst
 wird aus den alten Zeichen abgeleitet, – sie bedeuten nun
 die Tonkunst selbst.
 1.
                                
                        
                        Wie sehr die Notation den Stil in der Musik beeinflußt, die Phan⸗tasie fesselt, wie aus ihr die „Form“ sich bildete und aus der Form
 der „Konventionalismus“ des Ausdrucks entstand, das zeigt sich recht
 eindringlich, das rächt sich in tragischer Weise an E. T. A. Hoffmann,
 der mir hier als ein typisches Beispiel einfällt.
 Dieses merkwürdigen Mannes Gehirnvorstellungen, die sich in das
                            Traumhafte verloren und im Transzendentalen schwelgten, wie seine
 Schriften in oft unnachahmlicher Weise dartun, hätten – so würde
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                    um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muss. Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien 
                     Höhen, aus welchen die Tonkunst selbst herabstieg. Wo ihr 
                     droht, irdisch zu werden, hat er sie zu heben und ihr zu ihrem 
                     ursprünglichen „schwebenden“ Zustand zu verhelfen. Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken ist
                     zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, 
                     um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu
                     dieser wie das Portrait zum lebendigen Modell. Der Vortragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen 
                     und in Bewegung zu bringen. – Die Gesetzgeber aber verlangen, dass der Vortragende 
                     die Starrheit der Zeichen wiedergebe, und erachten die Wiedergabe für umso vollkommener, je mehr sie sich an die Zeichen
                     hält. Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration 
                     durch die Zeichen einbüßt1,
                    
                    das soll der Vortragende durch
                     seine eigene wiederherstellen. Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das Wichtigste,
                     sie werden es ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst 
                     wird aus den alten Zeichen abgeleitet, – sie bedeuten nun
                     die Tonkunst selbst. 1.
                        
                        
                        Wie sehr die Notation den Stil in der Musik beeinflusst, die Phantasie fesselt, wie aus ihr die „Form“ sich bildete und aus der Form
                             der „Konventionalismus“ des Ausdrucks entstand, das zeigt sich recht
                             eindringlich, das rächt sich in tragischer Weise an E. T. A. Hoffmann,
                             der mir hier als ein typisches Beispiel einfällt. Dieses merkwürdigen Mannes Gehirnvorstellungen, die sich in das
                             Traumhafte verloren und im Transzendentalen schwelgten, wie seine
                             Schriften in oft unnachahmlicher Weise dartun, hätten – so würde
                            
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                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d22-1916"><p type="split"> 
                    
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                <p>Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien 
                    <lb/>Höhen, aus welchen die Tonkunst selbst herabstieg. Wo ihr 
                    <lb/>droht, irdisch zu werden, hat er sie zu heben und ihr zu ihrem 
                    <lb/>ursprünglichen „schwebenden“ Zustand zu verhelfen.</p>
                
                <p>Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken ist
                    <lb/>zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, 
                    <lb/>um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu
                    <lb/>dieser wie das Portrait zum lebendigen Modell. Der Vor 
                    <lb break="no"/>tragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen 
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                <p>Die Gesetzgeber aber verlangen, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> der Vortragende 
                    <lb/>die Starrheit der Zeichen wiedergebe, und erachten die Wieder
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                <p type="pre-split">Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration<lb/>
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                            <lb break="no"/>tasie fesselt, wie aus ihr die „Form“ sich bildete und aus der Form
                            <lb/>der „Konventionalismus“ des Ausdrucks entstand, das zeigt sich recht
                            <lb/>eindringlich, das rächt sich in tragischer Weise an <persName key="E0300019">E. T. A. Hoffmann</persName>,
                            <lb/>der mir hier als ein typisches Beispiel einfällt.</p>
                        
                        <p type="pre-split">Dieses merkwürdigen Mannes Gehirnvorstellungen, die sich in das
                            <lb/>Traumhafte verloren und im Transzendentalen schwelgten, wie seine
                            <lb/>Schriften in oft unnachahmlicher Weise dartun, hätten – so würde
                            
                            </p><notebreak sameAs="#pb_n21"/><p type="split">
                            
                            man folgern – in der an sich traumhaften und transzendentalen Kunst
                            <lb/>der Töne erst recht die geeignete Sprache und Wirkung finden müssen.
                            <lb/>Die Schleier der Mystik, das innere Klingen der Natur, die Schauer
                            <lb/>des Übernatürlichen, die dämmerigen Unbestimmtheiten der schlaf<pc>=</pc>
                            <lb/>wachenden Bilder – alles, was er mit dem präzisen Wort schon so
                            <lb/>eindrucksvoll schilderte, das hätte er – man sollte denken – durch die
                            <lb/>Musik erst völlig lebendig erstehen lassen. Man vergleiche dagegen
                            <lb/>
                            <persName key="E0300019">Hoffmanns</persName> bestes musikalisches Werk mit der schwächsten seiner literari
                            <lb break="no"/>schen Produktionen, und man wird mit Trauer wahrnehmen, wie ein über
                            <lb break="no"/>nommenes System von Taktarten, Perioden und Tonarten – zu dem
                            <lb/>noch der landläufige Opernstil der Zeit das Seinige tut – aus dem
                            <lb/>Dichter einen Philister machen konnte. Wie aber ein anderes Ideal
                            <lb/>der Musik ihm vorschwebte, entnehmen wir aus vielen und oft ausge
                            <lb break="no"/>zeichneten Bemerkungen des Schriftstellers selbst. Von ihnen schließt
                            <lb/>die folgende der Denkungsart dieses Büchleins am engsten sich an:</p>
                            
                            <cit>
                                <quote rend="dq-du">Nun! immer weiter fort und fort treibt der waltende Weltgeist; nie
                                    <lb/>kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des Lebens
                                    <lb/>bewegten, wieder: aber ewig, unvergänglich ist das Wahrhaftige, und
                                    <lb/>eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles Band
                                    <lb/>um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die
                                    <lb/>alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Gesänge: nur nicht
                                    <lb/>vernommen wurden sie im brausenden, tosenden Geräusch des ausge
                                    <lb break="no"/>lassenen wilden Treibens, das über uns einbrach. Mag die Zeit der
                                    <lb/>Erfüllung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben
                                    <lb/>in Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kräftig ihre
                                    <lb/>Seraphschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu
                                    <lb/>beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die
                                    <lb/>unruhevolle Brust des Menschen hinabstrahlt.</quote>
                                <bibl rend="align(right)">(<persName key="E0300019">E. T. A. Hoffmann</persName>, <title key="E0400052" rend="dq-du">Die Serapionsbrüder</title>.)</bibl>
                            </cit>
                    </note>,
                    
                    das soll der Vortragende durch
                    <lb/>seine eigene wiederherstellen.</p>
                
                <p>Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das Wichtigste,
                    <lb/>sie werden es ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst 
                    <lb/>wird aus den alten Zeichen abgeleitet, – sie bedeuten nun
                    <lb/>die Tonkunst selbst.</p>
                
            </div> | 
                                                
                                                    |  21Faksimile |  21Diplomatische Umschrift |  21Lesefassung |  21XML | 
                                                
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                Läge es nun in der Macht der Gesetzgeber, so müßte ein
                    und dasselbe Tonstück stets in ein und demselben Zeitmaß
 erklingen, sooft, von wem und unter welchen Bedingungen
 es auch gespielt würde.
 Es ist aber nicht möglich, die schwebende expansive Natur
                    
                     
                            
                            man folgern – in der an sich traumhaften und transzendentalen Kunst
                             der Töne erst recht die geeignete Sprache und Wirkung finden müssen.
                             Die Schleier der Mystik, das innere Klingen der Natur, die Schauer
                             des Übernatürlichen, die dämmerigen Unbestimmtheiten der schlaf=
                             wachenden Bilder – alles, was er mit dem präzisen Wort schon so
                             eindrucksvoll schilderte, das hätte er – man sollte denken – durch die
                             Musik erst völlig lebendig erstehen lassen. Man vergleiche dagegen
                            
                            Hoffmanns  bestes musikalisches Werk mit der schwächsten seiner literari⸗ schen Produktionen, und man wird mit Trauer wahrnehmen, wie ein über⸗ nommenes System von Taktarten, Perioden und Tonarten – zu dem
                             noch der landläufige Opernstil der Zeit das Seinige tut – aus dem
                             Dichter einen Philister machen konnte. Wie aber ein anderes Ideal
                             der Musik ihm vorschwebte, entnehmen wir aus vielen und oft ausge⸗ zeichneten Bemerkungen des Schriftstellers selbst. Von ihnen schließt
                             die folgende der Denkungsart dieses Büchleins am engsten sich an:
                                 „Nun! immer weiter fort und fort treibt der waltende Weltgeist; nie
                                    (E. T. A. Hoffmann, „Die Serapionsbrüder“.)kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des Lebens
 bewegten, wieder: aber ewig, unvergänglich ist das Wahrhaftige, und
 eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles Band
 um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die
 alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Gesänge: nur nicht
 vernommen wurden sie im brausenden, tosenden Geräusch des ausge⸗
 lassenen wilden Treibens, das über uns einbrach. Mag die Zeit der
 Erfüllung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben
 in Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kräftig ihre
 Seraphschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu
 beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die
 unruhevolle Brust des Menschen hinabstrahlt.“
 | 
                
                Läge es nun in der Macht der Gesetzgeber, so müsste ein
                     und dasselbe Tonstück stets in ein und demselben Zeitmaß
                     erklingen, sooft, von wem und unter welchen Bedingungen
                     es auch gespielt würde. Es ist aber nicht möglich, die schwebende expansive Natur
                    
                     
                            
                            man folgern – in der an sich traumhaften und transzendentalen Kunst
                             der Töne erst recht die geeignete Sprache und Wirkung finden müssen.
                             Die Schleier der Mystik, das innere Klingen der Natur, die Schauer
                             des Übernatürlichen, die dämmerigen Unbestimmtheiten der schlaf-
                             wachenden Bilder – alles, was er mit dem präzisen Wort schon so
                             eindrucksvoll schilderte, das hätte er – man sollte denken – durch die
                             Musik erst völlig lebendig erstehen lassen. Man vergleiche dagegen
                             
                            Hoffmanns  bestes musikalisches Werk mit der schwächsten seiner literarischen Produktionen, und man wird mit Trauer wahrnehmen, wie ein übernommenes System von Taktarten, Perioden und Tonarten – zu dem
                             noch der landläufige Opernstil der Zeit das Seinige tut – aus dem
                             Dichter einen Philister machen konnte. Wie aber ein anderes Ideal
                             der Musik ihm vorschwebte, entnehmen wir aus vielen und oft ausgezeichneten Bemerkungen des Schriftstellers selbst. Von ihnen schließt
                             die folgende der Denkungsart dieses Büchleins am engsten sich an:
                                 „Nun! immer weiter fort und fort treibt der waltende Weltgeist; nie
                                     kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des Lebens
                                     bewegten, wieder: aber ewig, unvergänglich ist das Wahrhaftige, und
                                     eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles Band
                                     um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die
                                     alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Gesänge: nur nicht
                                     vernommen wurden sie im brausenden, tosenden Geräusch des ausgelassenen wilden Treibens, das über uns einbrach. Mag die Zeit der
                                     Erfüllung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben
                                     in Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kräftig ihre
                                     Seraphschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu
                                     beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die
                                     unruhevolle Brust des Menschen hinabstrahlt.“(E. T. A. Hoffmann, „Die Serapionsbrüder“.) | 
                                                            
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                <p type="pre-split">Es ist aber nicht möglich, die schwebende expansive Natur
                    
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                                                    |  22Faksimile |  22Diplomatische Umschrift |  22Lesefassung |  22XML | 
                                                
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                    des göttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegen⸗teil. Jeder Tag beginnt anders als der vorige und doch
 immer mit einer Morgenröte. – Große Künstler spielen
 ihre eigenen Werke immer wieder verschieden, gestalten sie
 im Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück – wie
 sie es nicht in Zeichen umsetzen konnten – und immer nach
 den gegebenen Verhältnissen jener „ewigen Harmonie“.
 Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den 
                    Schöpfer auf dessen eigene Zeichen. So, wie es heute steht,
 behält der Gesetzgeber recht.
 „Notation“ („Skription“) bringt mich auf Transkription: 
                    gegenwärtig ein recht mißverstandener, fast schimpflicher
 Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit „Transkrip⸗
 tionen“ erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige
 Kritik in mir hervorrief, veranlaßten mich zum Versuch,
 über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig
 darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription
 eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder
 sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Original⸗
 gestalt. Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt
 schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form= und Klang⸗
 mittel, für welche der Komponist sich entscheiden muß,
 bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen.
 Es ist ähnlich wie mit dem Menschen. Nackt und mit 
                    noch unbestimmten Neigungen geboren, entschließt er sich
 oder wird er in einem gegebenen Augenblick zum Entschluß
 getrieben, eine Laufbahn zu wählen. Mag auch vom Ein⸗
 fall oder vom Menschen manches Originale, das unver⸗
 wüstlich ist, weiterbestehen: sie sind doch von dem Augen⸗
 | 
                                                            
                    
                    des göttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegenteil. Jeder Tag beginnt anders als der vorige und doch
                     immer mit einer Morgenröte. – Große Künstler spielen
                     ihre eigenen Werke immer wieder verschieden, gestalten sie
                     im Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück – wie
                     sie es nicht in Zeichen umsetzen konnten – und immer nach
                     den gegebenen Verhältnissen jener „ewigen Harmonie“. Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den 
                     Schöpfer auf dessen eigene Zeichen. So, wie es heute steht, 
                     behält der Gesetzgeber recht. „Notation“ („Skription“) bringt mich auf Transkription: 
                     gegenwärtig ein recht missverstandener, fast schimpflicher 
                     Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit „Transkriptionen“ erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige 
                     Kritik in mir hervorrief, veranlassten mich zum Versuch, 
                     über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig 
                     darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription 
                     eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder 
                     sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt. Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt 
                     schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form- und Klangmittel, für welche der Komponist sich entscheiden muss, 
                     bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen. Es ist ähnlich wie mit dem Menschen. Nackt und mit 
                     noch unbestimmten Neigungen geboren, entschließt er sich 
                     oder wird er in einem gegebenen Augenblick zum Entschluss 
                     getrieben, eine Laufbahn zu wählen. Mag auch vom Einfall oder vom Menschen manches Originale, das unverwüstlich ist, weiterbestehen: sie sind doch von dem Augen⸗ | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d24-1916" corresp="#d22-1907"><p type="split">
                    
                    des göttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegen
                    <lb break="no"/>teil. Jeder Tag beginnt anders als der vorige und doch
                    <lb/>immer mit einer Morgenröte. – Große Künstler spielen
                    <lb/>ihre eigenen Werke immer wieder verschieden, gestalten sie
                    <lb/>im Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück – wie
                    <lb/>sie es nicht in Zeichen umsetzen konnten – und immer nach
                    <lb/>den gegebenen Verhältnissen jener „ewigen Harmonie“.</p>
                
                <p>Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den 
                    <lb/>Schöpfer auf dessen eigene Zeichen. So, wie es heute steht, 
                    <lb/>behält der Gesetzgeber recht.</p>
                
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                <p><mentioned rend="dq-du">Notation</mentioned> (<soCalled rend="dq-du">Skription</soCalled>) bringt mich auf Transkription: 
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                    <lb/>Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit <soCalled rend="dq-du">Transkrip
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                    <lb break="no"/>wüstlich ist, weiterbestehen: sie sind doch von dem Augen
                    
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                    blick des Entschlusses an zum Typus einer Klasse herab⸗gedrückt. Der Einfall wird zu einer Sonate oder zu einem
 Konzert, der Mensch zum Soldaten oder zum Priester. Das ist
 ein Arrangement des Originals. Von dieser ersten zu einer
 zweiten Transkription ist der Schritt verhältnismäßig kurz
 und unwichtig. Doch wird im allgemeinen nur von der
 zweiten Aufhebens gemacht. Dabei übersieht man, daß
 eine Transkription die Originalfassung nicht zerstört, also
 ein Verlust dieser durch jene nicht entsteht. –
 Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transkription, 
                    und auch dieser kann – er mag noch so frei sich gebärden –
 niemals das Original aus der Welt schaffen.
 – Denn das musikalische Kunstwerk steht, vor seinem 
                    Ertönen und nachdem es vorübergeklungen, ganz und un⸗
 versehrt da. Es ist zugleich in und außer der Zeit, und
 sein Wesen ist es, das uns eine greifbare Vorstellung des
 sonst ungreifbaren Begriffes von der Idealität der Zeit
 geben kann.
 Im übrigen muten die meisten Klavierkompositionen
                    Beethovens wie Transkriptionen vom Orchester an, die
 meisten Schumannschen Orchesterwerke wie Übertragungen
 vom Klavier – und sinds in gewisser Weise auch.
 Merkwürdigerweise steht bei den „Buchstabentreuen“ 
                    die Variationenform in großem Ansehen. Das ist seltsam,
 weil die Variationenform – wenn sie über ein fremdes
 Thema aufgebaut wird – eine ganze Reihe von Bearbeitungen
 gibt, und zwar um so respektloser, je geistreicherer Art sie
 sind.
 So gilt die Bearbeitung nicht, weil sie an dem Original
                    
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                    blick des Entschlusses an zum Typus einer Klasse herabgedrückt. Der Einfall wird zu einer Sonate oder zu einem 
                     Konzert, der Mensch zum Soldaten oder zum Priester. Das ist 
                     ein Arrangement des Originals. Von dieser ersten zu einer 
                     zweiten Transkription ist der Schritt verhältnismäßig kurz 
                     und unwichtig. Doch wird im Allgemeinen nur von der 
                     zweiten Aufhebens gemacht. Dabei übersieht man, dass 
                     eine Transkription die Originalfassung nicht zerstört, also 
                     ein Verlust dieser durch jene nicht entsteht. – Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transkription, 
                     und auch dieser kann – er mag noch so frei sich gebärden – 
                     niemals das Original aus der Welt schaffen. – Denn das musikalische Kunstwerk steht, vor seinem 
                     Ertönen und nachdem es vorübergeklungen, ganz und unversehrt da. Es ist zugleich in und außer der Zeit, und 
                     sein Wesen ist es, das uns eine greifbare Vorstellung des 
                     sonst ungreifbaren Begriffes von der Idealität der Zeit 
                     geben kann. Im Übrigen muten die meisten Klavierkompositionen
                     
                    Beethovens wie Transkriptionen vom Orchester an, die
                     meisten Schumann’schen Orchesterwerke wie Übertragungen
                     vom Klavier – und sind’s in gewisser Weise auch. Merkwürdigerweise steht bei den „Buchstabentreuen“ 
                     die Variationenform in großem Ansehen. Das ist seltsam, 
                     weil die Variationenform – wenn sie über ein fremdes 
                     Thema aufgebaut wird – eine ganze Reihe von Bearbeitungen 
                     gibt, und zwar umso respektloser, je geistreicherer Art sie 
                     sind. So gilt die Bearbeitung nicht, weil sie an dem Original
                    
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                    ändert; und es gilt die Veränderung, obwohl sie das Original
                    bearbeitet.1
 „Musikalisch“ ist ein Begriff, der den Deutschen ange⸗hört, und die Anwendung des Wortes selbst findet sich in
 dieser Sinnübertragung in keiner anderen Sprache. Es
 ist ein Begriff, der den Deutschen angehört und nicht der
 allgemeinen Kultur, und seine Bezeichnung ist falsch und
 unübersetzbar. „Musikalisch“ ist von Musik hergeleitet, wie
 „poetisch“ von Poesie und „physikalisch“ von Physik. Wenn
 1.
                                
                        Eine Einleitung des Verfassers zu einem Berliner Konzerte vom 
                        November 1910
                                                                    Drittes Nikisch-Konzert in der Saison 1910/11 am 7. November 1910 mit dem Berliner Philharmonischen Orchester; Busoni spielte Beethovens 3. Klavierkonzert sowie seine Bearbeitung von Liszts Rhapsodie espagnole (vgl. Muck 1982, Bd. 3, S. 129).
                        
                        enthielt u. a. die folgenden Sätze: „Um das Wesen
 der ‚Bearbeitung‘ mit einem entscheidenden Schlage in der Schätzung
 des Lesers zu künstlerischer Würde zu erhöhen, bedarf es nur der
 Nennung Johann Sebastian Bachs. Er war einer der fruchtbarsten
 Bearbeiter eigener und fremder Stücke, namentlich als Organist. Von
 ihm lernte ich die Wahrheit erkennen, daß eine gute, große, eine uni⸗
 verselle Musik dieselbe Musik bleibt, durch welche Mittel sie auch ertönen
 mag. Aber auch die andere Wahrheit: daß verschiedene Mittel eine
 verschiedene – ihnen eigene – Sprache haben, in der sie den nämlichen
 Gehalt in immer neuer Deutung verkünden.“ – „Es kann der Mensch
 nicht schaffen, nur verarbeiten, was er auf seiner Erde vorfindet.“ Man
 bedenke überdies, daß jede Vorstellung einer Oper auf dem Theater,
 durch Absicht teils und teils durch die Zufälle, die so zahlreiche mit⸗
 wirkende Elemente hineintragen, zu einer Bearbeitung wird und werden
 muß. Noch nie erlebte ich von der Bühne aus einen Mozartschen „Don
 Giovanni“, der dem anderen geglichen hätte. Der Regisseur scheint hier
 – wie auch bei der „Zauberflöte“ – seinen Ehrgeiz darin zu finden,
 die Szenen (und innerhalb der Szenen die Vorgänge) immer wieder
 zu variieren und umzustellen. Auch hörte ich (leider) niemals, daß die
 Kritik gegen die Übersetzung des Don Giovanni ins Deutsche sich
 gewehrt hätte; wenngleich eine Übersetzung überhaupt (bei diesem
 Meisterwerk des Zusammengusses von Text und Musik nun besonders)
 als eine der bedenklichsten Bearbeitungen sich herausstellt.
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                    ändert; und es gilt die Veränderung, obwohl sie das Original
                     bearbeitet.1
                 „Musikalisch“ ist ein Begriff, der den Deutschen angehört, und die Anwendung des Wortes selbst findet sich in 
                     dieser Sinnübertragung in keiner anderen Sprache. Es 
                     ist ein Begriff, der den Deutschen angehört und nicht der 
                     allgemeinen Kultur, und seine Bezeichnung ist falsch und 
                     unübersetzbar. „Musikalisch“ ist von Musik hergeleitet, wie 
                     
                    „poetisch“ von Poesie und „physikalisch“ von Physik. Wenn
                    
                     1.
                        
                        Eine Einleitung des Verfassers zu einem Berliner Konzerte vom 
                         
                            November 1910
                                                                    Drittes Nikisch-Konzert in der Saison 1910/11 am 7. November 1910 mit dem Berliner Philharmonischen Orchester; Busoni spielte Beethovens 3. Klavierkonzert sowie seine Bearbeitung von Liszts Rhapsodie espagnole (vgl. Muck 1982, Bd. 3, S. 129).
                        
                        enthielt u. a. die folgenden Sätze: „Um das Wesen 
                         der ‚Bearbeitung‘ mit einem entscheidenden Schlage in der Schätzung 
                         des Lesers zu künstlerischer Würde zu erhöhen, bedarf es nur der 
                         Nennung Johann Sebastian Bachs. Er war einer der fruchtbarsten 
                         Bearbeiter eigener und fremder Stücke, namentlich als Organist. Von 
                         ihm lernte ich die Wahrheit erkennen, daß eine gute, große, eine universelle Musik dieselbe Musik bleibt, durch welche Mittel sie auch ertönen 
                         mag. Aber auch die andere Wahrheit: daß verschiedene Mittel eine 
                         verschiedene – ihnen eigene – Sprache haben, in der sie den nämlichen 
                             Gehalt in immer neuer Deutung verkünden.“ – „Es kann der Mensch 
                                 nicht schaffen, nur verarbeiten, was er auf seiner Erde vorfindet.“ Man 
                         bedenke überdies, dass jede Vorstellung einer Oper auf dem Theater, 
                         durch Absicht teils und teils durch die Zufälle, die so zahlreiche mitwirkende Elemente hineintragen, zu einer Bearbeitung wird und werden 
                         muss. Noch nie erlebte ich von der Bühne aus einen Mozartschen „Don 
                             Giovanni“, der dem anderen geglichen hätte. Der Regisseur scheint hier 
                         – wie auch bei der „Zauberflöte“ – seinen Ehrgeiz darin zu finden, 
                         die Szenen (und innerhalb der Szenen die Vorgänge) immer wieder 
                         zu variieren und umzustellen. Auch hörte ich (leider) niemals, dass die 
                         Kritik gegen die Übersetzung des Don Giovanni ins Deutsche sich 
                         gewehrt hätte; wenngleich eine Übersetzung überhaupt (bei diesem 
                         Meisterwerk des Zusammengusses von Text und Musik nun besonders) 
                         als eine der bedenklichsten Bearbeitungen sich herausstellt. | 
                                                            
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                    ändert; und es gilt die Veränderung, obwohl sie das Original
                    <lb/>bearbeitet.
                    
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                        enthielt u. a. die folgenden Sätze: <q rend="dq-du">Um das Wesen 
                        <lb/>der <soCalled rend="sq-du">Bearbeitung</soCalled> mit einem entscheidenden Schlage in der Schätzung 
                        <lb/>des Lesers zu künstlerischer Würde zu erhöhen, bedarf es nur der 
                        <lb/>Nennung <persName key="E0300012">Johann Sebastian Bachs</persName>. Er war einer der fruchtbarsten 
                        <lb/>Bearbeiter eigener und fremder Stücke, namentlich als Organist. Von 
                        <lb/>ihm lernte ich die Wahrheit erkennen, daß eine gute, große, eine uni
                        <lb break="no"/>verselle Musik dieselbe Musik bleibt, durch welche Mittel sie auch ertönen 
                        <lb/>mag. Aber auch die andere Wahrheit: daß verschiedene Mittel eine 
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                        <lb/>bedenke überdies, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> jede Vorstellung einer Oper auf dem Theater, 
                        <lb/>durch Absicht teils und teils durch die Zufälle, die so zahlreiche mit
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                        <lb/>Kritik gegen die Übersetzung des <title key="E0400002">Don Giovanni</title> ins Deutsche sich 
                        <lb/>gewehrt hätte; wenngleich eine Übersetzung überhaupt (bei diesem 
                        <lb/>Meisterwerk des Zusammengusses von Text und Musik nun besonders) 
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                <p type="pre-split"><mentioned rend="dq-du">Musikalisch</mentioned> ist ein Begriff, der den Deutschen ange
                    <lb break="no"/>hört, und die Anwendung des Wortes selbst findet sich in 
                    <lb/>dieser Sinnübertragung in keiner anderen Sprache. Es 
                    <lb/>ist ein Begriff, der den Deutschen angehört und nicht der 
                    <lb/>allgemeinen Kultur, und seine Bezeichnung ist falsch und 
                    <lb/>unübersetzbar. <mentioned rend="dq-du">Musikalisch</mentioned> ist von Musik hergeleitet, wie 
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                    <mentioned rend="dq-du">poetisch</mentioned> von Poesie und <mentioned rend="dq-du">physikalisch</mentioned> von Physik. Wenn
                    
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                    ich sage: Schubert war einer der musikalischsten Menschen,
                    so ist das dasselbe, als ob
                    ich sagte: Helmholtz war einer
 der physikalischsten. Musikalisch ist: was in Rhythmen und
 Intervallen tönt. Ein Schrank kann „musikalisch“ sein,
 wenn er ein „Spielwerk“ enthält.1
                    
                    Im vergleichenden
 Sinne kann „musikalisch“ allenfalls noch wohllautend be⸗
 deuten.
 „Meine Verse sind zu musikalisch, als daß sie noch in
                        Musik gesetzt werden könnten,“ sagte mir einmal ein be⸗
 kannter Dichter.
 »
                        Spirits moving musicallyTo a lutes well-tuned law
                    «
 
                        („Geister schwebten musikalischzu der Laute wohlgestimmtem Satz“)
 
                    
                    schreibt E. A. Poe ; endlich spricht man ganz richtig von
                     einem „musikalischen Lachen“ , weil es wie Musik klingt.
                
                 In der angewandten und fast ausschließlich gebrauchten
                    deutschen Bedeutung ist ein musikalischer Mensch ein solcher,
 der dadurch Sinn für Musik bekundet, dass er das Tech⸗
 nische dieser Kunst wohl unterscheidet und empfindet. Unter
 Technischem verstehe ich hier wieder den Rhythmus, die
 Harmonie, die Intonation, die Stimmführung und die
 Thematik. Je mehr Feinheiten er darin zu hören oder
 wiederzugeben versteht, für um so musikalischer wird er ge⸗
 halten.
 Bei dem großen Gewicht, das man auf diese Bestand⸗ 1.
                                
                        Die einzige Art Menschen, die man musikalisch nennen sollte, wären
                            die Sänger, weil sie selbst erklingen können. In derselben Weise könnte
 ein Clown, der durch einen Trick Töne von sich gibt, sobald man ihn
 berührt, ein nachgemachter
                            musikalischer Mensch heißen.
 | 
                                                            
                    
                    ich sage: Schubert war einer der musikalischsten Menschen,
                     so ist das dasselbe, als ob
                    ich sagte: Helmholtz war einer 
                     der physikalischsten. Musikalisch ist: was in Rhythmen und
                     Intervallen tönt. Ein Schrank kann „musikalisch“ sein,
                     wenn er ein „Spielwerk“ enthält.1
                    
                    Im vergleichenden
                     Sinne kann „musikalisch“ allenfalls noch wohllautend bedeuten. „Meine Verse sind zu musikalisch, als dass sie noch in
                         Musik gesetzt werden könnten,“ sagte mir einmal ein bekannter Dichter.
                     „
                        Spirits moving musicallyTo a lutes well-tuned law
                    “
 
                        („Geister schwebten musikalischzu der Laute wohlgestimmtem Satz“)
 
                    
                    schreibt E. A. Poe ; endlich spricht man ganz richtig von
                     einem „musikalischen Lachen“ , weil es wie Musik klingt.
                
                 In der angewandten und fast ausschließlich gebrauchten
                     deutschen Bedeutung ist ein musikalischer Mensch ein solcher,
                     der dadurch Sinn für Musik bekundet, dass er das Technische dieser Kunst wohl unterscheidet und empfindet. Unter
                     Technischem verstehe ich hier wieder den Rhythmus, die
                     Harmonie, die Intonation, die Stimmführung und die
                     Thematik. Je mehr Feinheiten er darin zu hören oder
                     wiederzugeben versteht, für umso musikalischer wird er gehalten. Bei dem großen Gewicht, das man auf diese Bestand⸗ 1.
                        
                        Die einzige Art Menschen, die man musikalisch nennen sollte, wären
                             die Sänger, weil sie selbst erklingen können. In derselben Weise könnte
                             ein Clown, der durch einen Trick Töne von sich gibt, sobald man ihn
                             berührt, ein nachgemachter
                            musikalischer Mensch heißen. | 
                                                            
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                            <lb/>die Sänger, weil sie selbst erklingen können. In derselben Weise könnte
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                    Im vergleichenden
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                        <l>Spirits moving musically</l>
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                <p>In der angewandten und fast ausschließlich gebrauchten
                    <lb/>deutschen Bedeutung ist ein musikalischer Mensch ein solcher,
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                    <lb/>Technischem verstehe ich hier wieder den Rhythmus, die
                    <lb/>Harmonie, die Intonation, die Stimmführung und die
                    <lb/>Thematik. Je mehr Feinheiten er darin zu hören oder
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                    teile der Tonkunst legt, ist selbstverständlich das „Musikali⸗sche“ von höchster Bedeutung geworden. –
                    Demnach müßte
 ein Künstler, der technisch vollkommen spielt, für den meist
 musikalischen Spieler gelten; weil man aber mit „Technik“
 nur die mechanische Beherrschung des Instrumentes meint,
 so hat man „technisch“ und „musikalisch“ zu Gegensätzen ge⸗
 macht.
 Man ist so weit gegangen, ein Musikstück selbst als „musi⸗kalisch“ zu bezeichnen1,
                    
                    oder gar von einem großen Kom⸗
 ponisten wie Berlioz zu behaupten, er wäre es nicht in ge⸗
 nügendem Maße. „Unmusikalisch“ ist der stärkste Tadel;
 er kennzeichnet den damit Betroffenen und macht ihn zum
 Geächteten.
 In einem Lande wie Italien, wo der Sinn für
                    musika⸗lische Freuden allgemein ist, wird diese Unterscheidung über⸗
 flüssig, und das Wort dafür ist in der Sprache nicht vor⸗
 handen. In Frankreich, wo die Empfindung für Musik
 nicht im Volke lebt, gibt es Musiker und Nichtmusiker. Von
 den übrigen einige »
                        aiment beaucoup la musique
                    «, oder
 »
                        ils ne l’aiment pas
                    «. Nur in Deutschland macht man eine
 Ehrensache daraus, „musikalisch“ zu sein, das heißt, nicht
 nur Liebe zur Musik zu empfinden, sondern hauptsächlich sie
 in ihren technischen Ausdrucksmitteln zu verstehen und deren
 Gesetze einzuhalten.
 Tausend Hände halten das schwebende Kind und bewa⸗chen wohlmeinend seine Schritte, daß es nicht auffliege
 und so vor einem ernstlichen Fall bewahrt bleibe. Aber es
 1.
                                
                        „Diese Kompositionen sind aber so musikalisch“, sagte mir einmal
                            ein Geiger von einem vierhändigen Werkchen, das ich zu unbedeutend
 fand.
 | 
                                                            
                    
                    teile der Tonkunst legt, ist selbstverständlich das „Musikalische“ von höchster Bedeutung geworden. –
                    Demnach müsste
                     ein Künstler, der technisch vollkommen spielt, für den meist
                     musikalischen Spieler gelten; weil man aber mit „Technik“
                     nur die mechanische Beherrschung des Instrumentes meint,
                     so hat man „technisch“ und „musikalisch“ zu Gegensätzen gemacht. Man ist so weit gegangen, ein Musikstück selbst als „musikalisch“ zu bezeichnen1,
                    
                    oder gar von einem großen Komponisten wie Berlioz zu behaupten, er wäre es nicht in genügendem Maße. „Unmusikalisch“ ist der stärkste Tadel;
                     er kennzeichnet den damit Betroffenen und macht ihn zum
                     Geächteten. In einem Lande wie Italien, wo der Sinn für
                    musikalische Freuden allgemein ist, wird diese Unterscheidung überflüssig, und das Wort dafür ist in der Sprache nicht vorhanden. In Frankreich, wo die Empfindung für Musik
                     nicht im Volke lebt, gibt es Musiker und Nichtmusiker. Von
                     den übrigen einige „
                        aiment beaucoup la musique
                    “, oder
                     
                    „
                        ils ne l’aiment pas
                    “. Nur in Deutschland macht man eine
                     Ehrensache daraus, „musikalisch“ zu sein, das heißt, nicht
                     nur Liebe zur Musik zu empfinden, sondern hauptsächlich sie
                     in ihren technischen Ausdrucksmitteln zu verstehen und deren
                     Gesetze einzuhalten. Tausend Hände halten das schwebende Kind und bewachen wohlmeinend seine Schritte, dass es nicht auffliege
                     und so vor einem ernstlichen Fall bewahrt bleibe. Aber es
                    
                     1.
                        
                        „Diese Kompositionen sind aber so musikalisch“, sagte mir einmal
                             ein Geiger von einem vierhändigen Werkchen, das ich zu unbedeutend
                             fand. | 
                                                            
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                    <lb/>nur die mechanische Beherrschung des Instrumentes meint,
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                <p>In einem Lande wie <placeName key="E0500013">Italien</placeName>, wo der Sinn für
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                    </q>. Nur in <placeName key="E0500015">Deutschland</placeName> macht man eine
                    <lb/>Ehrensache daraus, <soCalled rend="dq-du">musikalisch</soCalled> zu sein, das heißt, nicht
                    <lb/>nur Liebe zur Musik zu empfinden, sondern hauptsächlich sie
                    <lb/>in ihren technischen Ausdrucksmitteln zu verstehen und deren
                    <lb/>Gesetze einzuhalten.</p>
                
                <p type="pre-split">Tausend Hände halten das schwebende Kind und bewa
                    <lb break="no"/>chen wohlmeinend seine Schritte, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> es nicht auffliege
                    <lb/>und so vor einem ernstlichen Fall bewahrt bleibe. Aber es
                    
                    </p></div> | 
                                                
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                    ist noch so jung und ist ewig, die Zeit seiner Freiheit wird
                    kommen. Wenn es aufhören wird, „musikalisch“ zu sein.
 Gefühl ist eine moralische Ehrensache – wie die Ehrlich⸗keit es ist —, eine Eigenschaft, die niemand sich absprechen
 läßt – die im Leben gilt wie in der Kunst. Aber wenn im
 Leben Gefühllosigkeit zugunsten einer brillanteren Cha⸗
 raktereigenschaft – wie beispielsweise Tapferkeit, Unbestech⸗
 lichkeit – noch verziehen wird, in der Kunst ist sie als
 oberste moralische Qualität gestellt.
 Gefühl (in der Tonkunst) fordert aber zwei Gefährten:
                    Geschmack und Stil. Nun trifft man im Leben ebenso selten
 auf Geschmack wie auf tiefes und wahres Gefühl, und was
 den Stil anbelangt, so ist er künstlerisches Gebiet. Was
 übrigbleibt, ist eine Vorstellung von Gefühl, das mit Rühr⸗
 seligkeit und Geschwollenheit bezeichnet werden muß. Und
 vor allem verlangt man seine deutliche Sichtbarkeit! Es
 muß unterstrichen werden, auf daß jeder merke, sehe und
 höre. Es wird vor den Augen des Publikums in starker
 Vergrößerung auf die Leinwand projektiert, so daß es auf⸗
 dringlich und verschwommen vor den Augen tanzt; es wird
 ausgeschrien, daß es denen, die der Kunst fernstehen, in
 die Ohren dringe; übergoldet, auf daß es den Unbemittelten
 Staunen entreiße.
 Denn auch im Leben übt man mehr die Äußerungen des
                    Gefühls, in Mienen und Worten; seltener und echter ist
 jenes Gefühl, welches handelt, ohne zu reden, und am wert⸗
 vollsten ein Gefühl, das sich verbirgt.
 Unter Gefühl versteht man gemeinhin: Zartheit, Schmerz⸗lichkeit und Überschwenglichkeit des Ausdrucks.
 Was schließt nicht noch alles in sich die Wunderblume
                    
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                    ist noch so jung und ist ewig, die Zeit seiner Freiheit wird
                     kommen. Wenn es aufhören wird, „musikalisch“ zu sein. Gefühl ist eine moralische Ehrensache – wie die Ehrlichkeit es ist —, eine Eigenschaft, die niemand sich absprechen
                     lässt – die im Leben gilt wie in der Kunst. Aber wenn im
                     Leben Gefühllosigkeit zugunsten einer brillanteren Charaktereigenschaft – wie beispielsweise Tapferkeit, Unbestechlichkeit – noch verziehen wird, in der Kunst ist sie als
                     oberste moralische Qualität gestellt. Gefühl (in der Tonkunst) fordert aber zwei Gefährten:
                     Geschmack und Stil. Nun trifft man im Leben ebenso selten
                     auf Geschmack wie auf tiefes und wahres Gefühl, und was
                     den Stil anbelangt, so ist er künstlerisches Gebiet. Was
                     übrigbleibt, ist eine Vorstellung von Gefühl, das mit Rührseligkeit und Geschwollenheit bezeichnet werden muss. Und
                     vor allem verlangt man seine deutliche Sichtbarkeit! Es
                     muss unterstrichen werden, auf dass jeder merke, sehe und
                     höre. Es wird vor den Augen des Publikums in starker
                     Vergrößerung auf die Leinwand projektiert, so dass es aufdringlich und verschwommen vor den Augen tanzt; es wird
                     ausgeschrien, dass es denen, die der Kunst fernstehen, in
                     die Ohren dringe; übergoldet, auf dass es den Unbemittelten
                     Staunen entreiße. Denn auch im Leben übt man mehr die Äußerungen des
                     Gefühls, in Mienen und Worten; seltener und echter ist
                     jenes Gefühl, welches handelt, ohne zu reden, und am wertvollsten ein Gefühl, das sich verbirgt. Unter Gefühl versteht man gemeinhin: Zartheit, Schmerzlichkeit und Überschwenglichkeit des Ausdrucks. Was schließt nicht noch alles in sich die Wunderblume
                    
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                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d27-1916" corresp="#d25-1907"><p type="split">
                    
                    ist noch so jung und ist ewig, die Zeit seiner Freiheit wird
                    <lb/>kommen. Wenn es aufhören wird, <soCalled rend="dq-du">musikalisch</soCalled> zu sein.</p>
                
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                <p>Gefühl ist eine moralische Ehrensache – wie die Ehrlich
                    <lb break="no"/>keit es ist —, eine Eigenschaft, die niemand sich absprechen
                    <lb/>lä<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>t – die im Leben gilt wie in der Kunst. Aber wenn im
                    <lb/>Leben Gefühllosigkeit zugunsten einer brillanteren Cha
                    <lb break="no"/>raktereigenschaft – wie beispielsweise Tapferkeit, Unbestech
                    <lb break="no"/>lichkeit – noch verziehen wird, in der Kunst ist sie als
                    <lb/>oberste moralische Qualität gestellt.</p>
                
                <p>Gefühl (in der Tonkunst) fordert aber zwei Gefährten:
                    <lb/>Geschmack und Stil. Nun trifft man im Leben ebenso selten
                    <lb/>auf Geschmack wie auf tiefes und wahres Gefühl, und was
                    <lb/>den Stil anbelangt, so ist er künstlerisches Gebiet. Was
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                    <lb break="no"/>seligkeit und Geschwollenheit bezeichnet werden mu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>. Und
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                    <lb/>die Ohren dringe; übergoldet, auf da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> es den Unbemittelten
                    <lb/>Staunen entreiße.</p>
                
                <p>Denn auch im Leben übt man mehr die Äußerungen des
                    <lb/>Gefühls, in Mienen und Worten; seltener und echter ist
                    <lb/>jenes Gefühl, welches handelt, ohne zu reden, und am wert
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                <p>Unter Gefühl versteht man gemeinhin: Zartheit, Schmerz
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                <p type="pre-split">Was schließt nicht noch alles in sich die Wunderblume
                    
                    </p></div> | 
                                                
                                                    |  28Faksimile |  28Diplomatische Umschrift |  28Lesefassung |  28XML | 
                                                
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                    der Empfindung! Zurückhaltung und Schonung, Aufopfe⸗rung, Stärke, Tätigkeit, Geduld, Großmut, Freudigkeit
 und jene allwaltende Intelligenz, von welcher das Gefühl
 recht eigentlich stammt.
 Nicht anders in der Kunst, die das Leben widerspiegelt,
                    noch ausgesprochener in der Musik, welche die Empfindungen
 des Lebens wiederholt: wozu jedoch – wie ich betone –
 der Geschmack hinzutreten muß und der Stil; der Stil,
 der Kunst vom Leben unterscheidet.
 Worum der Laie, der mediokere Künstler sich mühen, ist
                    nur das Gefühl im kleinen, im Detail, auf kurze Strecken.
 Gefühl im großen verwechseln Laie, Halbkünstler, Pu⸗blikum (und leider auch die Kritik!) mit Mangel an Emp⸗
 findung, weil sie alle nicht vermögen, größere Strecken als
 Teile eines noch größeren Ganzen zu hören. Also ist Gefühl
 auch Ökonomie.
 Demnach unterscheide ich: Gefühl als Geschmack – als
                    Stil – als Ökonomie. Jedes ein Ganzes und jedes ein
 Drittel des Ganzen. In ihnen und über ihnen waltet eine
 subjektive Dreieinigkeit: das Temperament, die Intelligenz
 und der Instinkt des Gleichgewichtes.
 Diese sechs führen einen Reigen von so subtiler Anord⸗nung der Paarung und der Verschlingung, des Tragens
 und des Getragenwerdens, des Vortretens und Nieder⸗
 bückens, des Bewegens und Stillstehens, wie kein kunst⸗
 vollerer erdenkbar ist.
 Ist der Akkord der beiden Dreiklänge rein gestimmt, dann
                    darf, soll zum Gefühl sich gesellen die Phantasie: Auf jene
 sechs gestützt, wird sie nicht ausarten, und aus dem Vereine
 aller Elemente ersteht die Persönlichkeit. Diese empfängt
 wie eine Linse die Lichteindrücke, wirft sie auf ihre Weise
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                    der Empfindung! Zurückhaltung und Schonung, Aufopferung, Stärke, Tätigkeit, Geduld, Großmut, Freudigkeit
                     und jene allwaltende Intelligenz, von welcher das Gefühl
                     recht eigentlich stammt. Nicht anders in der Kunst, die das Leben widerspiegelt,
                     noch ausgesprochener in der Musik, welche die Empfindungen
                     des Lebens wiederholt: wozu jedoch – wie ich betone – 
                     der Geschmack hinzutreten muss und der Stil; der Stil,
                     der Kunst vom Leben unterscheidet. Worum der Laie, der mediokere Künstler sich mühen, ist
                     nur das Gefühl im Kleinen, im Detail, auf kurze Strecken. Gefühl im Großen verwechseln Laie, Halbkünstler, Publikum (und leider auch die Kritik!) mit Mangel an Empfindung, weil sie alle nicht vermögen, größere Strecken als
                     Teile eines noch größeren Ganzen zu hören. Also ist Gefühl
                     auch Ökonomie. Demnach unterscheide ich: Gefühl als Geschmack – als
                     Stil – als Ökonomie. Jedes ein Ganzes und jedes ein
                     Drittel des Ganzen. In ihnen und über ihnen waltet eine
                     subjektive Dreieinigkeit: das Temperament, die Intelligenz
                     und der Instinkt des Gleichgewichtes. Diese sechs führen einen Reigen von so subtiler Anordnung der Paarung und der Verschlingung, des Tragens
                     und des Getragenwerdens, des Vortretens und Niederbückens, des Bewegens und Stillstehens, wie kein kunstvollerer erdenkbar ist. Ist der Akkord der beiden Dreiklänge rein gestimmt, dann
                     darf, soll zum Gefühl sich gesellen die Phantasie: Auf jene
                     sechs gestützt, wird sie nicht ausarten, und aus dem Vereine
                     aller Elemente ersteht die Persönlichkeit. Diese empfängt
                     wie eine Linse die Lichteindrücke, wirft sie auf ihre Weise
                    
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                    der Empfindung! Zurückhaltung und Schonung, Aufopfe
                    <lb break="no"/>rung, Stärke, Tätigkeit, Geduld, Großmut, Freudigkeit
                    <lb/>und jene allwaltende Intelligenz, von welcher das Gefühl
                    <lb/>recht eigentlich stammt.</p>
                
                <p>Nicht anders in der Kunst, die das Leben widerspiegelt,
                    <lb/>noch ausgesprochener in der Musik, welche die Empfindungen
                    <lb/>des Lebens wiederholt: wozu jedoch – wie ich betone – 
                    <lb/>der Geschmack hinzutreten mu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> und der Stil; der Stil,
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                <p>Demnach unterscheide ich: Gefühl als Geschmack – als
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                    <lb/>sechs gestützt, wird sie nicht ausarten, und aus dem Vereine
                    <lb/>aller Elemente ersteht die Persönlichkeit. Diese empfängt
                    <lb/>wie eine Linse die Lichteindrücke, wirft sie auf ihre Weise
                    
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                    als Negativ zurück, und dem Hörer erscheint das richtige
                    Bild.
 Insoweit der Geschmack an dem Gefühle teilhat, ändert
                    dieses – wie alles – mit den Zeiten seine Ausdrucksformen.
 Das heißt: eine oder die andere Seite des Gefühls wird
 zu der einen oder der anderen Zeit bevorzugt, einseitig ge⸗
 pflegt, besonders herausgekehrt.
 So war mit und nach Wagner eine schwelgerische Sinn⸗lichkeit an die Reihe gekommen: die Form der „Steigerung“
 im Affekt haben die Komponisten noch heute nicht über⸗
 wunden. Jedem ruhigen Beginnen folgte ein rasches Auf⸗
 wärtstreiben. Der darin unersättliche, aber nicht unerschöpf⸗
 liche Wagner verfiel notgedrungen auf den Ausweg, nach
 einem erreichten Höhepunkte wieder leise anzusetzen, um
 sofort von neuem anzuwachsen.
 Die neueren Franzosen zeigen eine Umkehr: ihr Gefühl
                    ist eine reflexive Keuschheit, vielleicht mehr noch eine zurück⸗
 gehaltene Sinnlichkeit: den bergigen aufsteigenden Pfaden
 Wagners sind monotone Ebenen von dämmernder Gleich⸗
 mäßigkeit gefolgt.
 So bildet sich im Gefühl der „Stil“, wenn der Geschmack
                    es leitet.
 Die „Apostel der Neunten Symphonie
                    “ ersannen in der
                    Musik den Begriff der Tiefe. Er steht noch in vollem Werte,
 zumal im germanischen Land. – Es gibt eine Tiefe des
 Gefühls und eine Tiefe des Gedankens: – die letztere ist
 literarisch und kann keine Anwendung auf Klänge haben.
 Die Tiefe des Gefühls ist hingegen seelisch und der Natur
                    der Musik durchaus zugehörig.
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                    als Negativ zurück, und dem Hörer erscheint das richtige
                     Bild. Insoweit der Geschmack an dem Gefühle teilhat, ändert
                     dieses – wie alles – mit den Zeiten seine Ausdrucksformen.
                     Das heißt: eine oder die andere Seite des Gefühls wird
                     zu der einen oder der anderen Zeit bevorzugt, einseitig gepflegt, besonders herausgekehrt. So war mit und nach Wagner eine schwelgerische Sinnlichkeit an die Reihe gekommen: die Form der „Steigerung“
                     im Affekt haben die Komponisten noch heute nicht überwunden. Jedem ruhigen Beginnen folgte ein rasches Aufwärtstreiben. Der darin unersättliche, aber nicht unerschöpfliche Wagner verfiel notgedrungen auf den Ausweg, nach
                     einem erreichten Höhepunkte wieder leise anzusetzen, um
                     sofort von neuem anzuwachsen. Die neueren Franzosen zeigen eine Umkehr: Ihr Gefühl
                     ist eine reflexive Keuschheit, vielleicht mehr noch eine zurückgehaltene Sinnlichkeit: Den bergigen aufsteigenden Pfaden
                     
                    Wagners sind monotone Ebenen von dämmernder Gleichmäßigkeit gefolgt. So bildet sich im Gefühl der „Stil“, wenn der Geschmack
                     es leitet. Die „Apostel der Neunten Symphonie
                    “ ersannen in der
                     Musik den Begriff der Tiefe. Er steht noch in vollem Werte,
                     zumal im germanischen Land. – Es gibt eine Tiefe des
                     Gefühls und eine Tiefe des Gedankens: – Die letztere ist
                     literarisch und kann keine Anwendung auf Klänge haben. Die Tiefe des Gefühls ist hingegen seelisch und der Natur
                     der Musik durchaus zugehörig. | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d28-1916"><p type="split">
                    
                    als Negativ zurück, und dem Hörer erscheint das richtige
                    <lb/>Bild.</p>
                
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                <p>Insoweit der Geschmack an dem Gefühle teilhat, ändert
                    <lb/>dieses – wie alles – mit den Zeiten seine Ausdrucksformen.
                    <lb/>Das heißt: eine oder die andere Seite des Gefühls wird
                    <lb/>zu der einen oder der anderen Zeit bevorzugt, einseitig ge
                    <lb break="no"/>pflegt, besonders herausgekehrt.</p>
                
                <p>So war mit und nach <persName key="E0300006">Wagner</persName> eine schwelgerische Sinn
                    <lb break="no"/>lichkeit an die Reihe gekommen: die Form der <soCalled rend="dq-du">Steigerung</soCalled>
                    <lb/>im Affekt haben die Komponisten noch heute nicht über
                    <lb break="no"/>wunden. Jedem ruhigen Beginnen folgte ein rasches Auf
                    <lb break="no"/>wärtstreiben. Der darin unersättliche, aber nicht unerschöpf
                    <lb break="no"/>liche <persName key="E0300006">Wagner</persName> verfiel notgedrungen auf den Ausweg, nach
                    <lb/>einem erreichten Höhepunkte wieder leise anzusetzen, um
                    <lb/>sofort von neuem anzuwachsen.</p>
                
                <p>Die neueren Franzosen zeigen eine Umkehr: <choice><orig>i</orig><reg>I</reg></choice>hr Gefühl
                    <lb/>ist eine reflexive Keuschheit, vielleicht mehr noch eine zurück
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                <p>So bildet sich im Gefühl der <soCalled rend="dq-du">Stil</soCalled>, wenn der Geschmack
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                <p>Die <soCalled rend="dq-du">Apostel der <title key="E0400001">Neunten Symphonie</title>
                    </soCalled> ersannen in der
                    <lb/>Musik den Begriff der Tiefe. Er steht noch in vollem Werte,
                    <lb/>zumal im germanischen Land. – Es gibt eine Tiefe des
                    <lb/>Gefühls und eine Tiefe des Gedankens: – <choice><orig>d</orig><reg>D</reg></choice>ie letztere ist
                    <lb/>literarisch und kann keine Anwendung auf Klänge haben.</p>
                
                <p>Die Tiefe des Gefühls ist hingegen seelisch und der Natur
                    <lb/>der Musik durchaus zugehörig.</p>
                
                </div> | 
                                                
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                Die Apostel der Neunten Symphonie haben von der
                    Tiefe in der Musik eine besondere und nicht ganz festum⸗
 rissene Schätzung.
 Die Tiefe wird zur Breite, und man trachtet, sie durch
                    Schwere zu erreichen: sie zeigt sich sodann – durch Ge⸗
 dankenassoziationen – in der Bevorzugung der „tiefen“ Re⸗
 gister und (wie ich beobachten konnte) auch in einem Hinein⸗
 deuten eines zweiten, verborgenen Sinnes, meist eines lite⸗
 rarischen.
 Wenn auch nicht die einzigen Merkmale, so sind doch diese
                    die bedeutsameren.
 Unter Tiefe des Gefühls dürfte jedoch jeder Freund der
                    Philosophie das Erschöpfende im Gefühle betrachten: das
 volle Aufgehen in einer Stimmung.
 Wer mitten in einer echten, großen karnevalischen Si⸗tuation griesgrämig oder auch nur indifferent herumschleicht,
 wer nicht von der gewaltigen Selbstsatire des Masken=
 und Fratzentums, der Macht der Unbändigkeit über die Ge⸗
 setze, dem freigelassenen Rachegefühl des Witzes mitgerissen
 und mitergriffen wird, der zeigt sich unfähig, sein Gefühl
 in die Tiefe zu senken.
 Hier bestätigt sich wieder, daß die Tiefe des Gefühls
                    in dem vollständigen Erfassen einer jeden – selbst der
 leichtfertigsten – Stimmung ihre Wurzeln hat, – im
 Wiedergeben ihre Blüten treibt: wohingegen die gang⸗
 bare Vorstellung vom tiefen Gefühle nur eine Seite
 des Gefühls im Menschen herausgreift und diese speziali⸗
 siert.
 In dem sogenannten „
                        Champagnerlied
                    “ aus Don Gio⸗vanni liegt mehr „Tiefe“ als in manchem Trauermarsche
 oder Notturno: Tiefe des Gefühls äußert sich auch darin,
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                Die Apostel der Neunten Symphonie haben von der
                     Tiefe in der Musik eine besondere und nicht ganz festumrissene Schätzung. Die Tiefe wird zur Breite, und man trachtet, sie durch
                     Schwere zu erreichen: Sie zeigt sich sodann – durch Gedankenassoziationen – in der Bevorzugung der „tiefen“ Register und (wie ich beobachten konnte) auch in einem Hineindeuten eines zweiten, verborgenen Sinnes, meist eines literarischen. Wenn auch nicht die einzigen Merkmale, so sind doch diese
                     die bedeutsameren. Unter Tiefe des Gefühls dürfte jedoch jeder Freund der
                     Philosophie das Erschöpfende im Gefühle betrachten: das
                     volle Aufgehen in einer Stimmung. Wer mitten in einer echten, großen karnevalischen Situation griesgrämig oder auch nur indifferent herumschleicht,
                     wer nicht von der gewaltigen Selbstsatire des Masken-
                     und Fratzentums, der Macht der Unbändigkeit über die Gesetze, dem freigelassenen Rachegefühl des Witzes mitgerissen
                     und mitergriffen wird, der zeigt sich unfähig, sein Gefühl
                     in die Tiefe zu senken. Hier bestätigt sich wieder, dass die Tiefe des Gefühls
                     in dem vollständigen Erfassen einer jeden – selbst der
                     leichtfertigsten – Stimmung ihre Wurzeln hat, – im
                     Wiedergeben ihre Blüten treibt: wohingegen die gangbare Vorstellung vom tiefen Gefühle nur eine Seite
                     des Gefühls im Menschen herausgreift und diese spezialisiert. In dem sogenannten „
                        Champagnerlied
                    “ aus Don Giovanni liegt mehr „Tiefe“ als in manchem Trauermarsche
                     oder Notturno: Tiefe des Gefühls äußert sich auch darin,
                    
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                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d30-1916">
                
                <p>Die Apostel der <title key="E0400001">Neunten Symphonie</title> haben von der
                    <lb/>Tiefe in der Musik eine besondere und nicht ganz festum
                    <lb break="no"/>rissene Schätzung.</p>
                
                <p>Die Tiefe wird zur Breite, und man trachtet, sie durch
                    <lb/>Schwere zu erreichen: <choice><orig>s</orig><reg>S</reg></choice>ie zeigt sich sodann – durch Ge
                    <lb break="no"/>dankenassoziationen – in der Bevorzugung der <soCalled rend="dq-du">tiefen</soCalled> Re
                    <lb break="no"/>gister und (wie ich beobachten konnte) auch in einem Hinein
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                <p>Wenn auch nicht die einzigen Merkmale, so sind doch diese
                    <lb/>die bedeutsameren.</p>
                
                <p>Unter Tiefe des Gefühls dürfte jedoch jeder Freund der
                    <lb/>Philosophie das Erschöpfende im Gefühle betrachten: das
                    <lb/>volle Aufgehen in einer Stimmung.</p>
                
                <p>Wer mitten in einer echten, großen karnevalischen Si
                    <lb break="no"/>tuation griesgrämig oder auch nur indifferent herumschleicht,
                    <lb/>wer nicht von der gewaltigen Selbstsatire des Masken<pc>=</pc>
                    <lb/>und Fratzentums, der Macht der Unbändigkeit über die Ge
                    <lb break="no"/>setze, dem freigelassenen Rachegefühl des Witzes mitgerissen
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                    <lb/>in die Tiefe zu senken.</p>
                
                <p>Hier bestätigt sich wieder, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> die Tiefe des Gefühls
                    <lb/>in dem vollständigen Erfassen einer jeden – selbst der
                    <lb/>leichtfertigsten – Stimmung ihre Wurzeln hat, – im
                    <lb/>Wiedergeben ihre Blüten treibt: wohingegen die gang
                    <lb break="no"/>bare Vorstellung vom tiefen Gefühle nur eine Seite
                    <lb/>des Gefühls im Menschen herausgreift und diese speziali
                    <lb break="no"/>siert.</p>
                
                <p type="pre-split">In dem sogenannten <soCalled rend="dq-du">
                        <rs key="E0400151">Champagnerlied</rs>
                    </soCalled> aus <title key="E0400002">Don Gio
                    <lb break="no"/>vanni</title> liegt mehr <soCalled rend="dq-du">Tiefe</soCalled> als in manchem Trauermarsche
                    <lb/>oder Notturno: Tiefe des Gefühls äußert sich auch darin,
                    
                    </p></div> | 
                                                
                                                    |  31Faksimile |  31Diplomatische Umschrift |  31Lesefassung |  31XML | 
                                                
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                    daß man es nicht in Nebensächlichem und Unbedeutendem
                    vergeude.
 Der Schaffende soll kein überliefertes Gesetz auf Treu
                    und Glauben hinnehmen und sein eigenes Schaffen jenem
 gegenüber von vornherein als Ausnahme betrachten. Er
 müßte für seinen eigenen Fall ein entsprechendes eigenes
 Gesetz suchen, formen und es nach der ersten vollkommenen
 Anwendung wieder zerstören, um nicht selbst bei einem näch⸗
 sten Werke in Wiederholungen zu verfallen.
 Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze auf⸗zustellen, und nicht, Gesetzen zu folgen. Wer gegebenen Ge⸗
 setzen folgt, hört auf, ein Schaffender zu sein.1
 Die Schaffenskraft ist um so erkennbarer, je unabhängiger
                    sie von Überlieferungen sich zu machen vermag. Aber die
 Absichtlichkeit im Umgehen der Gesetze kann nicht Schaffens⸗
 kraft vortäuschen, noch weniger erzeugen.
 Der echte Schaffende erstrebt im Grunde nur die Voll⸗endung. Und indem er diese mit seiner Individualität in
 Einklang bringt, entsteht absichtslos ein neues Gesetz.
 Routine wird sehr geschätzt und oft verlangt; im Musik⸗„amte“ wird sie beansprucht. Daß Routine in der Musik
 überhaupt existieren und daß sie überdies zu einer vom Mu⸗
 siker geforderten Bedingung gemacht werden kann, beweist
 aber wiederum die engen Grenzen unserer Tonkunst. Rou⸗
 tine bedeutet: Erlangung und Anwendung weniger Erfah⸗
 rungen und Kunstgriffe auf alle vorkommenden Fälle.
 1.
                                
                        Der einem nachgeht, überholt ihn nicht, soll Michelangelo ge⸗sagt haben. Und über die nützliche Anwendung der „Kopien“ äußert
 sich noch viel drastischer ein italienischer Spruch.
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                    dass man es nicht in Nebensächlichem und Unbedeutendem
                     vergeude. Der Schaffende soll kein überliefertes Gesetz auf Treu
                     und Glauben hinnehmen und sein eigenes Schaffen jenem
                     gegenüber von vornherein als Ausnahme betrachten. Er
                     müsste für seinen eigenen Fall ein entsprechendes eigenes
                     Gesetz suchen, formen und es nach der ersten vollkommenen
                     Anwendung wieder zerstören, um nicht selbst bei einem nächsten Werke in Wiederholungen zu verfallen. Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze aufzustellen, und nicht, Gesetzen zu folgen. Wer gegebenen Gesetzen folgt, hört auf, ein Schaffender zu sein.1
                    
                 Die Schaffenskraft ist umso erkennbarer, je unabhängiger
                     sie von Überlieferungen sich zu machen vermag. Aber die
                     Absichtlichkeit im Umgehen der Gesetze kann nicht Schaffenskraft vortäuschen, noch weniger erzeugen. Der echte Schaffende erstrebt im Grunde nur die Vollendung. Und indem er diese mit seiner Individualität in
                     Einklang bringt, entsteht absichtslos ein neues Gesetz. Routine wird sehr geschätzt und oft verlangt; im Musik
                    „amte“ wird sie beansprucht. Dass Routine in der Musik
                     überhaupt existieren und dass sie überdies zu einer vom Musiker geforderten Bedingung gemacht werden kann, beweist
                     aber wiederum die engen Grenzen unserer Tonkunst. Routine bedeutet: Erlangung und Anwendung weniger Erfahrungen und Kunstgriffe auf alle vorkommenden Fälle.
                    
                     1.
                        
                        Der einem nachgeht, überholt ihn nicht, soll Michelangelo gesagt haben. Und über die nützliche Anwendung der „Kopien“ äußert
                             sich noch viel drastischer ein italienischer Spruch. | 
                                                            
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                    da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> man es nicht in Nebensächlichem und Unbedeutendem
                    <lb/>vergeude.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d31-1916" corresp="#d26-1907">
                
                <p>Der Schaffende soll kein überliefertes Gesetz auf Treu
                    <lb/>und Glauben hinnehmen und sein eigenes Schaffen jenem
                    <lb/>gegenüber von vornherein als Ausnahme betrachten. Er
                    <lb/>mü<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>te für seinen eigenen Fall ein entsprechendes eigenes
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                    <lb/>Anwendung wieder zerstören, um nicht selbst bei einem näch
                    <lb break="no"/>sten Werke in Wiederholungen zu verfallen.</p>
                
                <p>Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze auf
                    <lb break="no"/>zustellen, und nicht, Gesetzen zu folgen. Wer gegebenen Ge
                    <lb break="no"/>setzen folgt, hört auf, ein Schaffender zu sein.
                    
                    <note place="bottom" n="1">
                        <p>Der einem nachgeht, überholt ihn nicht, soll <persName key="E0300007">Michelangelo</persName> ge
                            <lb break="no"/>sagt haben. Und über die nützliche Anwendung der <q rend="dq-du">Kopien</q> äußert
                            <lb/>sich noch viel drastischer ein italienischer Spruch.</p>
                    </note>
                    
                </p>
                
                <p>Die Schaffenskraft ist um<orig> </orig>so erkennbarer, je unabhängiger
                    <lb/>sie von Überlieferungen sich zu machen vermag. Aber die
                    <lb/>Absichtlichkeit im Umgehen der Gesetze kann nicht Schaffens
                    <lb break="no"/>kraft vortäuschen, noch weniger erzeugen.</p>
                
                <p>Der echte Schaffende erstrebt im Grunde nur die Voll
                    <lb break="no"/>endung. Und indem er diese mit seiner Individualität in
                    <lb/>Einklang bringt, entsteht absichtslos ein neues Gesetz.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="pre-split" xml:id="d32-1916">
                
                <p type="pre-split">Routine wird sehr geschätzt und oft verlangt; im Musik
                    <lb break="no"/>
                    <soCalled rend="dq-du">amte</soCalled> wird sie beansprucht. Da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> Routine in der Musik
                    <lb/>überhaupt existieren und da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> sie überdies zu einer vom Mu
                    <lb break="no"/>siker geforderten Bedingung gemacht werden kann, beweist
                    <lb/>aber wiederum die engen Grenzen unserer Tonkunst. Rou
                    <lb break="no"/>tine bedeutet: Erlangung und Anwendung weniger Erfah
                    <lb break="no"/>rungen und Kunstgriffe auf alle vorkommenden Fälle.
                    
                    </p></div> | 
                                                
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                    Demnach muß es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle
                    geben. Nun erträume ich mir gern eine Art Kunstaus⸗
 übung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme
 wäre! Wie stünde das Heer der Praktiker hilf= und taten⸗
 los davor: es müßte schließlich den Rückzug antreten und
 verschwinden. Die Routine wandelt den Tempel der Kunst
 um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn
 Schaffen heißt: aus Nichts erzeugen. Die Routine aber
 gedeiht im Nachbilden. Sie ist die „Poesie, die sich komman⸗
 dieren läßt“. Weil sie der Allgemeinheit entspricht, herrscht
 sie. Im Theater, im Orchester, im Virtuosen, im Unterricht.
 Man möchte rufen: meidet die Routine, beginnt jedesmal,
 als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt
 und fühlet!
 Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden,
                    sie sind seit Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther
 und mit ihnen andere Millionen, die niemals gehört werden.
 Ihr braucht nur zu greifen, und ihr haltet eine Blüte, einen
 Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl in der Hand;
 meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure
 Stube erfüllt, und immer wieder nach dem nämlichen: so
 bequem werdet ihr, daß ihr euch kaum mehr vom Lehn⸗
 stuhl erhebt und nur mehr nach dem Allernächsten greift.
 Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden und
 warten darauf, sich zu offenbaren!
 „Das ist mein Unglück, daß ich keine Routine habe,“
                    
                    schreibt einmal Wagner an Liszt, als es mit der Komposition
 des „Tristan“ nicht vorwärts wollte.
                                                                Der von Busoni frei zitierte Brief Richard Wagners an
                        Franz Liszt datiert vom 8. Mai 1859; in der Busoni vermutlich vorliegenden Ausgabe 
                        Wagner/Liszt 1900 (II:248 f.)
                        lautet die betreffende Passage im Kontext:
 „Da heißt’s denn
                            nun: ‚Mach’ den Tristan fertig, dann wollen wir sehen!‘ – Das ist recht
                            schön. Wie aber, wenn ich den Tristan nun nicht fertig machte, weil ich
                            ihn nicht fertig machen könnte? Mir ist, als sollte ich nun vor dem –
                            Ziele (?) – endlich verschmachtend zusammenbrechen. Wenigstens sehe ich
                            mir täglich mit recht gutem Willen mein Buch an, aber der Kopf bleibt
                            wüst, das Herz leer, und ich starre hinaus in die Nebel- und
                            Regenwolken, die undurchdringlich seit meinem Hiersein mir selbst die
                            Aussicht, durch erfrischende Excursionen mein trübes Blut etwas
                            aufzurütteln, unerfüllt lassen. Da heißt’s denn – nun, arbeite nur, dann
                            wird’s schon wieder gehen! Vortrefflich; ich armer Teufel habe aber so
                            ganz und gar keine Routine, und wenn’s nicht von selbst geht, kann ich
                            eben nichts machen. Recht lieblich das! Und dazu nun so gar keine
                            Chance, mir auf einem andren Wege zu helfen. Alles verrannt und
                            versperrt! Nur die Arbeit soll mir helfen: aber, was hilft mir dazu, daß
                            ich eben arbeiten kann? – Offenbar habe ich zuwenig von dem, was Du
                            zuviel hast!“
 Damit täuschte sich Wagner und maskierte sich vor an⸗deren. Er hatte zuviel Routine, und seine Kompositions⸗
 | 
                                                            
                    
                    Demnach muss es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle
                     geben. Nun erträume ich mir gern eine Art Kunstausübung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme
                     wäre! Wie stünde das Heer der Praktiker hilf- und tatenlos davor: Es müsste schließlich den Rückzug antreten und
                     verschwinden. Die Routine wandelt den Tempel der Kunst
                     um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn
                     Schaffen heißt: aus nichts erzeugen. Die Routine aber
                     gedeiht im Nachbilden. Sie ist die „Poesie, die sich kommandieren lässt“. Weil sie der Allgemeinheit entspricht, herrscht
                     sie. Im Theater, im Orchester, im Virtuosen, im Unterricht.
                     Man möchte rufen: Meidet die Routine, beginnt jedesmal,
                     als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt
                     und fühlet! Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden,
                     sie sind seit Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther,
                     und mit ihnen andere Millionen, die niemals gehört werden.
                     Ihr braucht nur zu greifen, und ihr haltet eine Blüte, einen
                     Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl in der Hand;
                     meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure
                     Stube erfüllt, und immer wieder nach dem nämlichen: So
                     bequem werdet ihr, dass ihr euch kaum mehr vom Lehnstuhl erhebt und nur mehr nach dem Allernächsten greift.
                     Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden und
                     warten darauf, sich zu offenbaren! „Das ist mein Unglück, dass ich keine Routine habe,“
                    
                     schreibt einmal Wagner an Liszt, als es mit der Komposition
                     des „Tristan“ nicht vorwärts wollte.
                                                                Der von Busoni frei zitierte Brief Richard Wagners an
                        Franz Liszt datiert vom 8. Mai 1859; in der Busoni vermutlich vorliegenden Ausgabe 
                        Wagner/Liszt 1900 (II:248 f.)
                        lautet die betreffende Passage im Kontext: „Da heißt’s denn
                            nun: ‚Mach’ den Tristan fertig, dann wollen wir sehen!‘ – Das ist recht
                            schön. Wie aber, wenn ich den Tristan nun nicht fertig machte, weil ich
                            ihn nicht fertig machen könnte? Mir ist, als sollte ich nun vor dem –
                            Ziele (?) – endlich verschmachtend zusammenbrechen. Wenigstens sehe ich
                            mir täglich mit recht gutem Willen mein Buch an, aber der Kopf bleibt
                            wüst, das Herz leer, und ich starre hinaus in die Nebel- und
                            Regenwolken, die undurchdringlich seit meinem Hiersein mir selbst die
                            Aussicht, durch erfrischende Excursionen mein trübes Blut etwas
                            aufzurütteln, unerfüllt lassen. Da heißt’s denn – nun, arbeite nur, dann
                            wird’s schon wieder gehen! Vortrefflich; ich armer Teufel habe aber so
                            ganz und gar keine Routine, und wenn’s nicht von selbst geht, kann ich
                            eben nichts machen. Recht lieblich das! Und dazu nun so gar keine
                            Chance, mir auf einem andren Wege zu helfen. Alles verrannt und
                            versperrt! Nur die Arbeit soll mir helfen: aber, was hilft mir dazu, daß
                            ich eben arbeiten kann? – Offenbar habe ich zuwenig von dem, was Du
                            zuviel hast!“
 Damit täuschte sich Wagner und maskierte sich vor anderen. Er hatte zu viel Routine, und seine Kompositions⸗ | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d32-1916"><p type="split">
                    
                    Demnach mu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle
                    <lb/>geben. Nun erträume ich mir gern eine Art Kunstaus
                    <lb break="no"/>übung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme
                    <lb/>wäre! Wie stünde das Heer der Praktiker hilf<pc>=</pc> und taten
                    <lb break="no"/>los davor: <choice><orig>es müß</orig><reg>Es müss</reg></choice>te schließlich den Rückzug antreten und
                    <lb/>verschwinden. Die Routine wandelt den Tempel der Kunst
                    <lb/>um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn
                    <lb/>Schaffen heißt: aus <choice><orig>N</orig><reg>n</reg></choice>ichts erzeugen. Die Routine aber
                    <lb/>gedeiht im Nachbilden. Sie ist die <q rend="dq-du">Poesie, die sich komman
                    <lb break="no"/>dieren lä<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>t</q>. Weil sie der Allgemeinheit entspricht, herrscht
                    <lb/>sie. Im Theater, im Orchester, im Virtuosen, im Unterricht.
                    <lb/>Man möchte rufen: <choice><orig>m</orig><reg>M</reg></choice>eidet die Routine, beginnt jedesmal,
                    <lb/>als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt
                    <lb/>und fühlet!</p>
                
                <p>Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden,
                    <lb/>sie sind seit Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther<reg>,</reg>
                    <lb/>und mit ihnen andere Millionen, die niemals gehört werden.
                    <lb/>Ihr braucht nur zu greifen, und ihr haltet eine Blüte, einen
                    <lb/>Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl in der Hand;
                    <lb/>meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure
                    <lb/>Stube erfüllt, und immer wieder nach dem nämlichen: <choice><orig>s</orig><reg>S</reg></choice>o
                    <lb/>bequem werdet ihr, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> ihr euch kaum mehr vom Lehn
                    <lb break="no"/>stuhl erhebt und nur mehr nach dem Allernächsten greift.
                    <lb/>Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden und
                    <lb/>warten darauf, sich zu offenbaren!</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="pre-split" xml:id="d33-1916">
                
                <p><q rend="dq-du">Das ist mein Unglück, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> ich keine Routine habe,</q>
                    
                    <lb/>schreibt einmal <persName key="E0300006">Wagner</persName> an <persName key="E0300013">Liszt</persName>, als es mit der Komposition
                    <lb/>des <title key="E0400011" rend="dq-du">Tristan</title> nicht vorwärts wollte.
                    
                    <note type="commentary" resp="#E0300320">Der von Busoni frei zitierte Brief <persName key="E0300006">Richard Wagners</persName> an
                        <persName key="E0300013">Franz Liszt</persName> datiert vom <date when-iso="1859-05-08">8. Mai 1859</date>; in der Busoni vermutlich vorliegenden Ausgabe 
                        <bibl><ref target="#E0800046"/> (II:248 f.)</bibl>
                        lautet <ref type="ext" target="http://www.archive.org/stream/LisztBriefwechselMitWagnerBd1-2#page/n557/mode/2up">die betreffende Passage im Kontext</ref>: <quote>Da heißt’s denn
                            nun: <q>Mach’ den <title key="E0400011">Tristan</title> fertig, dann wollen wir sehen!</q> – Das ist recht
                            schön. Wie aber, wenn ich den <title key="E0400011">Tristan</title> nun nicht fertig machte, weil ich
                            ihn nicht fertig machen könnte? Mir ist, als sollte ich nun vor dem –
                            Ziele (?) – endlich verschmachtend zusammenbrechen. Wenigstens sehe ich
                            mir täglich mit recht gutem Willen mein Buch an, aber der Kopf bleibt
                            wüst, das Herz leer, und ich starre hinaus in die Nebel- und
                            Regenwolken, die undurchdringlich seit meinem Hiersein mir selbst die
                            Aussicht, durch erfrischende Excursionen mein trübes Blut etwas
                            aufzurütteln, unerfüllt lassen. Da heißt’s denn – nun, arbeite nur, dann
                            wird’s schon wieder gehen! Vortrefflich; ich armer Teufel habe aber so
                            ganz und gar keine Routine, und wenn’s nicht von selbst geht, kann ich
                            eben nichts machen. Recht lieblich das! Und dazu nun so gar keine
                            Chance, mir auf einem andren Wege zu helfen. Alles verrannt und
                            versperrt! Nur die Arbeit soll mir helfen: aber, was hilft mir dazu, daß
                            ich eben arbeiten kann? – Offenbar habe ich zuwenig von dem, was Du
                            zuviel hast!</quote>
                    </note>
                </p>
                
                <p type="pre-split">Damit täuschte sich <persName key="E0300006">Wagner</persName> und maskierte sich vor an
                    <lb break="no"/>deren. Er hatte zu<reg> </reg>viel Routine, und seine Kompositions
                    
                    </p></div> | 
                                                
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                    maschinerie blieb stecken, sobald der Knoten in ihr entstand,
                    der nur mit Inspiration zu lösen war. Zwar löste Wagner
 ihn schließlich, wenn es ihm gelang, die Routine beiseite zu
 lassen; hätte er aber wirklich keine besessen, so hätte er es
 ohne Bitterkeit behauptet.
 Immerhin drückt sich in dem Wagnerschen Briefsatz die
                    richtige künstlerische Verachtung für die Routine aus, in⸗
 sofern als er diese ihn niedrig dünkende Eigenschaft sich
 selbst abspricht und vorbeugt, daß andere sie ihm zuerkennen.
 Er lobt sich selbst damit und gebärdet sich ironisch=verzweifelt.
 Er ist tatsächlich unglücklich, daß die Komposition stockt,
 tröstet sich aber reichlich mit dem Bewußtsein, daß sein Genie
 über der billigen Handhabung der Routine steht; zugleich
 kehrt er den Bescheidenen hervor, indem er schmerzlich ein⸗
 gesteht, eine allgemein geschätzte und dem Handwerk zuge⸗
 hörige Könnerschaft nicht sich angeeignet zu haben.
 Der Satz ist ein Meisterstück der instinktiven Schlauheit
                    des Erhaltungstriebes – beweist uns aber (und das ist
 unser Ziel) die Geringheit der Routine im Schaffen.
 So eng geworden ist unser Tonkreis, so stereotyp seine
                    Ausdrucksform, daß es zurzeit nicht ein bekanntes Motiv
 gibt, auf das nicht ein anderes bekanntes Motiv paßte, so
 daß es zu gleicher Zeit mit dem ersten gespielt werden könnte.
 Um nicht mich hier in Spielereien zu verlieren1,
                    
                    enthalte
 ich mich jedes Beispiels.
 1.
                                
                        Eine solche Spielerei unternahm ich einmal mit einem Freunde, um
                            scherzeshalber festzustellen, wie viele von den verbreiteten Musikstücken
 nach dem Schema des zweiten Themas im Adagio der Neunten Sym⸗
 phonie  gebildet waren. In wenigen Augenblicken hatten wir an fünf⸗
 zehn Analogien der verschiedensten Gattung beisammen, darunter welche
 | 
                                                            
                    
                    maschinerie blieb stecken, sobald der Knoten in ihr entstand,
                     der nur mit Inspiration zu lösen war. Zwar löste Wagner
                     ihn schließlich, wenn es ihm gelang, die Routine beiseite zu
                     lassen; hätte er aber wirklich keine besessen, so hätte er es
                     ohne Bitterkeit behauptet. Immerhin drückt sich in dem Wagner’schen Briefsatz die
                     richtige künstlerische Verachtung für die Routine aus, insofern als er diese ihn niedrig dünkende Eigenschaft sich
                     selbst abspricht und vorbeugt, dass andere sie ihm zuerkennen.
                     Er lobt sich selbst damit und gebärdet sich ironisch-verzweifelt.
                     Er ist tatsächlich unglücklich, dass die Komposition stockt,
                     tröstet sich aber reichlich mit dem Bewusstsein, dass sein Genie
                     über der billigen Handhabung der Routine steht; zugleich
                     kehrt er den Bescheidenen hervor, indem er schmerzlich eingesteht, eine allgemein geschätzte und dem Handwerk zugehörige Könnerschaft nicht sich angeeignet zu haben. Der Satz ist ein Meisterstück der instinktiven Schlauheit
                     des Erhaltungstriebes – beweist uns aber (und das ist
                     unser Ziel) die Geringheit der Routine im Schaffen. So eng geworden ist unser Tonkreis, so stereotyp seine
                     Ausdrucksform, dass es zurzeit nicht ein bekanntes Motiv 
                     gibt, auf das nicht ein anderes bekanntes Motiv passte, so
                     dass es zu gleicher Zeit mit dem ersten gespielt werden könnte.
                     Um nicht mich hier in Spielereien zu verlieren1,
                    
                    enthalte
                     ich mich jedes Beispiels. 1.
                        
                        Eine solche Spielerei unternahm ich einmal mit einem Freunde, um
                             scherzeshalber festzustellen, wie viele von den verbreiteten Musikstücken
                             nach dem Schema des zweiten Themas im Adagio der Neunten Symphonie  gebildet waren. In wenigen Augenblicken hatten wir an fünfzehn Analogien der verschiedensten Gattung beisammen, darunter welche
                            
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                <p>Der Satz ist ein Meisterstück der instinktiven Schlauheit
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                <p type="pre-split">So eng geworden ist unser Tonkreis, so stereotyp seine
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                        <p type="pre-split">Eine solche Spielerei unternahm ich einmal mit einem Freunde, um
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                            niederster Kunst. Und <persName key="E0300001">Beethoven</persName>
                            selbst. Ist das Thema des Finale<reg>s</reg> der 
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                            <rs key="E0400009" rend="dq-du">fünften</rs> ein anderes als jenes, womit die <rs key="E0400008" rend="dq-du">zweite</rs> ihr Allegro ansagt?
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                    </note>,
                    
                    enthalte
                    <lb/>ich mich jedes Beispiels.</p>
                
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                Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: daß
                    die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten
 scheitert. Die Entfaltung des Komponisten an dem Stu⸗
 dium der Partituren. Wenn „Schaffen“, wie ich es de⸗
 finierte, ein „Formen aus dem Nichts“ bedeuten soll (und es
 kann nichts anderes bedeuten); – wenn Musik – (dieses
 habe ich jedenfalls ausgesprochen) – zur „Originalität“,
 nämlich zu ihrem eigenen reinen Wesen zurückstreben soll
 (ein „Zurück“, das das eigentliche „Vorwärts“ sein muß);
 – wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauch⸗
 tes Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll;
 – diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zu⸗
 nächst im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang,
 ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten festge⸗
 kettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollen⸗
 den mitfesseln.
 Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten
                    sein; in den allerneuesten Partituren und noch in solchen
 der nächsten Zukunft werden wir immer wieder auf die Eigen⸗
 tümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen und Geigen stoßen,
 die eben nicht anders sich gebärden können, als es in ihrer
 Beschränkung liegt;1
                    
                    dazu gesellt sich die Manieriertheit
 der Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumen⸗
 tes; der vibrierende Überschwang des Violoncells, der
 
                            
                            niederster Kunst. Und Beethoven 
                            selbst. Ist das Thema des Finale der 
                            
                            „fünften“  ein anderes als jenes, womit die „zweite“  ihr Allegro ansagt?
                             Und als das Hauptmotiv des dritten Klavierkonzerts , diesmal in Moll? –1. Und das ist das Siegreiche in Beethoven, daß er von allen „mo⸗dernen“ Tondichtern am wenigsten den Forderungen der Instrumente
 nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, daß Wagner einen „Po⸗
 saunensatz“ geprägt hat, der – seit ihm – in den Partituren ständige
 Wohnung nahm.
 | 
                
                Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: dass
                     die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten 
                     scheitert. Die Entfaltung des Komponisten an dem Studium der Partituren. Wenn „Schaffen“, wie ich es definierte, ein „Formen aus dem Nichts“ bedeuten soll (und es
                     kann nichts anderes bedeuten); – wenn Musik – (dieses
                     habe ich jedenfalls ausgesprochen) – zur „Originalität“, 
                     nämlich zu ihrem eigenen reinen Wesen zurückstreben soll
                     (ein „Zurück“, das das eigentliche „Vorwärts“ sein muss);
                     – wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauchtes Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll;
                     – diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zunächst im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang,
                     ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten festgekettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollenden mitfesseln. Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten
                     sein; in den allerneuesten Partituren und noch in solchen
                     der nächsten Zukunft werden wir immer wieder auf die Eigentümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen und Geigen stoßen,
                     die eben nicht anders sich gebärden können, als es in ihrer
                     Beschränkung liegt;1
                    
                    dazu gesellt sich die Manieriertheit
                     der Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumentes; der vibrierende Überschwang des Violoncells, der
                    
                     
                            
                            niederster Kunst. Und Beethoven 
                            selbst. Ist das Thema des Finales der 
                             
                            „fünften“  ein anderes als jenes, womit die „zweite“  ihr Allegro ansagt?
                             Und als das Hauptmotiv des dritten Klavierkonzerts , diesmal in Moll? –1. Und das ist das Siegreiche in Beethoven, dass er von allen „modernen“ Tondichtern am wenigsten den Forderungen der Instrumente
                             nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, dass Wagner einen „Posaunensatz“ geprägt hat, der – seit ihm – in den Partituren ständige
                             Wohnung nahm. | 
                                                            
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                            <lb/>nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> <persName key="E0300006">Wagner</persName> einen <soCalled rend="dq-du">Po
                            <lb break="no"/>saunensatz</soCalled> geprägt hat, der – seit ihm – in den Partituren ständige
                            <lb/>Wohnung nahm.</p>
                    </note>
                    
                    dazu gesellt sich die Manieriertheit
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                    zögernde Ansatz des Hornes, die befangene Kurzatmigkeit
                    der Oboe, die prahlhafte Geläufigkeit der Klarinette; der⸗
 art, daß in einem neuen und selbständigeren Werke notge⸗
 drungen immer wieder dasselbe Klangbild sich zusammen⸗
 formt und daß der unabhängigste Komponist in all dieses
 Unabänderliche hinein= und hinabgezogen wird.
 Vielleicht, daß noch nicht alle Möglichkeiten innerhalb
                    dieser Grenzen ausgebeutet wurden – die polyphone Har⸗
 monik dürfte noch manches Klangphänomen erzeugen
 können –, aber die Erschöpftheit wartet sicher am Ende einer
 Bahn, deren längste Strecke bereits zurückgelegt ist. Wo⸗
 hin wenden wir dann unseren Blick, nach welcher Richtung
 führt der nächste Schritt?
 Ich meine, zum abstrakten Klange, zur hindernislosen
                    Technik, zur tonlichen Unabgegrenztheit. Dahin müssen alle
 Bemühungen zielen, daß ein neuer Anfang jungfräulich
 erstehe.
 Der zum Schaffen Geborene wird zuerst die negative,
                    die verantwortlich=große Aufgabe haben, von allem Gelern⸗
 ten, Gehörten und Scheinbar=Musikalischen sich zu befreien;
 um, nach der vollendeten Räumung, eine inbrünstig=asze⸗
 tische Gesammeltheit in sich zu beschwören, die ihn befähigt,
 den inneren Klang zu erlauschen und zur weiteren Stufe
 zu gelangen, diesen auch den Menschen mitzuteilen. Diesen
 Giotto eines musikalischen Rinascimento wird die Weihe
 der legendarischen Persönlichkeit krönen. Der ersten Offen⸗
 barung wird sodann eine Epoche religiöser Musikgeschäftig⸗
 keit folgen, daran kein Zunftwesen einen Teil haben kann, in⸗
 sofern als die Berufenen und Eingeweihten unverkennbar,
 und nur diese die Vollbringenden sein werden. An diesem
 Zeitpunkt leuchtet die vollste Blüte, vielleicht die erste in
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                    zögernde Ansatz des Hornes, die befangene Kurzatmigkeit
                     der Oboe, die prahlhafte Geläufigkeit der Klarinette; derart, dass in einem neuen und selbständigeren Werke notgedrungen immer wieder dasselbe Klangbild sich zusammenformt und dass der unabhängigste Komponist in all dieses
                     Unabänderliche hinein- und hinabgezogen wird. Vielleicht, dass noch nicht alle Möglichkeiten innerhalb
                     dieser Grenzen ausgebeutet wurden – die polyphone Harmonik dürfte noch manches Klangphänomen erzeugen
                     können –, aber die Erschöpftheit wartet sicher am Ende einer
                     Bahn, deren längste Strecke bereits zurückgelegt ist. Wohin wenden wir dann unseren Blick, nach welcher Richtung
                     führt der nächste Schritt? Ich meine, zum abstrakten Klange, zur hindernislosen
                     Technik, zur tonlichen Unabgegrenztheit. Dahin müssen alle
                     Bemühungen zielen, dass ein neuer Anfang jungfräulich
                     erstehe. Der zum Schaffen Geborene wird zuerst die negative,
                     die verantwortlich-große Aufgabe haben, von allem Gelernten, Gehörten und Scheinbar-Musikalischen sich zu befreien;
                     um, nach der vollendeten Räumung, eine inbrünstig-aszetische Gesammeltheit in sich zu beschwören, die ihn befähigt,
                     den inneren Klang zu erlauschen und zur weiteren Stufe
                     zu gelangen, diesen auch den Menschen mitzuteilen. Diesen
                     
                    Giotto eines musikalischen Rinascimento wird die Weihe
                     der legendarischen Persönlichkeit krönen. Der ersten Offenbarung wird sodann eine Epoche religiöser Musikgeschäftigkeit folgen, daran kein Zunftwesen einen Teil haben kann, insofern als die Berufenen und Eingeweihten unverkennbar,
                     und nur diese die Vollbringenden sein werden. An diesem
                     Zeitpunkt leuchtet die vollste Blüte, vielleicht die erste in
                    
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                    zögernde Ansatz des Hornes, die befangene Kurzatmigkeit
                    <lb/>der Oboe, die prahlhafte Geläufigkeit der Klarinette; der
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                    <lb/>Unabänderliche hinein<pc>=</pc> und hinabgezogen wird.</p>
                
                <p>Vielleicht, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> noch nicht alle Möglichkeiten innerhalb
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                    <lb/>können –, aber die Erschöpftheit wartet sicher am Ende einer
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                    <lb break="no"/>hin wenden wir dann unseren Blick, nach welcher Richtung
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                <p>Ich meine, zum abstrakten Klange, zur hindernislosen
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                <p type="pre-split">Der zum Schaffen Geborene wird zuerst die negative,
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                    der Musikgeschichte der Menschheit. Ich sehe auch, wie die
                    Dekadenz beginnt und die reinen Begriffe sich verwirren
 und wie der Orden entweiht wird …
 Es ist das Schicksal der Späteren, und wir – heute –
                    sind ihnen ähnlich, wie die Kindheit dem Greisenalter.
 Was in unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am
                    nächsten rückt, sind die Pause und die Fermate. Große
 Vortragskünstler, Improvisatoren, wissen auch dieses Aus⸗
 druckswerkzeug im höheren und ausgiebigeren Maße zu
 verwerten. Die spannende Stille zwischen zwei Sätzen,
 in dieser Umgebung selbst Musik, läßt weiter ahnen, als der
 bestimmtere, aber deshalb weniger dehnbare Laut vermag.
 „Zeichen“ sind es auch, und nichts anderes, was wir heute
                    unser „Tonsystem“ nennen. Ein ingeniöser Behelf, etwas
 von jener ewigen Harmonie festzuhalten; eine kümmerliche
 Taschenausgabe jenes enzyklopädischen Werkes; künstliches
 Licht anstatt Sonne. – Habt ihr bemerkt, wie die Menschen
 über die glänzende Beleuchtung eines Saales den Mund
 aufsperren? Sie tun es niemals über den millionenmal
 stärkeren Mittagssonnenschein. –
 Und auch hier sind die Zeichen bedeutsamer geworden
                    als das, was sie bedeuten sollen und nur andeuten können.
 Wie wichtig ist doch die „Terz“, die „Quinte“ und die
                    „Oktave“. Wie streng unterscheiden wir „Konsonanzen“
 und „Dissonanzen“ – da, wo es überhaupt Dissonanzen
 nicht geben kann!
 Wir haben die Oktave in zwölf gleich voneinander ent⸗fernte Stufen abgeteilt, weil wir uns irgendwie behelfen
 mußten, und haben unsere Instrumente so eingerichtet, daß
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                    der Musikgeschichte der Menschheit. Ich sehe auch, wie die
                     Dekadenz beginnt und die reinen Begriffe sich verwirren
                     und wie der Orden entweiht wird … Es ist das Schicksal der Späteren, und wir – heute –
                     sind ihnen ähnlich, wie die Kindheit dem Greisenalter. Was in unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am
                     nächsten rückt, sind die Pause und die Fermate. Große
                     Vortragskünstler, Improvisatoren, wissen auch dieses Ausdruckswerkzeug im höheren und ausgiebigeren Maße zu
                     verwerten. Die spannende Stille zwischen zwei Sätzen,
                     in dieser Umgebung selbst Musik, lässt weiter ahnen, als der
                     bestimmtere, aber deshalb weniger dehnbare Laut vermag. „Zeichen“ sind es auch, und nichts anderes, was wir heute
                     unser „Tonsystem“ nennen. Ein ingeniöser Behelf, etwas
                     von jener ewigen Harmonie festzuhalten; eine kümmerliche
                     Taschenausgabe jenes enzyklopädischen Werkes; künstliches
                     Licht anstatt Sonne. – Habt ihr bemerkt, wie die Menschen
                     über die glänzende Beleuchtung eines Saales den Mund
                     aufsperren? Sie tun es niemals über den millionenmal
                     stärkeren Mittagssonnenschein. – Und auch hier sind die Zeichen bedeutsamer geworden
                     als das, was sie bedeuten sollen und nur andeuten können. Wie wichtig ist doch die „Terz“, die „Quinte“ und die
                     
                    „Oktave“. Wie streng unterscheiden wir „Konsonanzen“
                     und „Dissonanzen“ – da, wo es überhaupt Dissonanzen
                     nicht geben kann! Wir haben die Oktave in zwölf gleich voneinander entfernte Stufen abgeteilt, weil wir uns irgendwie behelfen
                     mussten, und haben unsere Instrumente so eingerichtet, dass
                    
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                    der Musikgeschichte der Menschheit. Ich sehe auch, wie die
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                <p>Es ist das Schicksal der Späteren, und wir – heute –
                    <lb/>sind ihnen ähnlich, wie die Kindheit dem Greisenalter.</p>
                
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                    wir niemals darüber oder darunter oder dazwischen gelangen
                    können. Namentlich die Tasteninstrumente haben unser
 Ohr gründlich eingeschult, so daß wir nicht mehr fähig sind,
 anderes zu hören – als nur im Sinne der Unreinheit.
 Und die Natur schuf eine unendliche Abstufung – unendlich!
 wer weiß es heute noch?1
 Und innerhalb dieser zwölfteiligen Oktave haben wir noch
                    eine Folge bestimmter Abstände abgesteckt, sieben an der
 Zahl, und darauf unsere ganze Tonkunst gestellt. Was sagte
 ich, eine Folge? Zwei solche Folgen, die Dur= und Moll=
 Skala. Wenn wir dieselbe Folge von Abständen von einer
 anderen der zwölf Zwischenstufen aus ansetzen, so gibt es eine
 neue Tonart, und sogar eine fremde! Was für ein ge⸗
 waltsam beschränktes System diese erste Verworrenheit er⸗
 gab,1
 steht in den Gesetzbüchern zu lesen: wir wollen es
 nicht hier wiederholen.
 Wir lehren vierundzwanzig Tonarten, zwölfmal die beiden
                    Siebenfolgen, aber wir verfügen in der Tat nur über zwei:
 1.
                                
                        
                            (Riemann, Musiklexikon)
                        
                                                                Sub voce „Temperatur“; Busoni zitiert die 5. Auflage (1900), S. 1124.„Die gleichschwebende zwölfstufige Temperatur, welche bereits seit
                                 ca. 1500 theoretisch erörtert, aber erst kurz vor 1700 prinzipiell auf⸗ gestellt wurde (durch Andreas Werkmeister ), teilt die Oktave in zwölf
                                 gleiche Teile (Halbtöne, daher „Zwölfhalbtonsystem“ ) und gewinnt da⸗ mit Mittelwerte, welche kein Intervall wirklich rein, aber alle leidlich
                                 brauchbar intonieren.“So haben wir durch Andreas Werkmeister, diesem Werkmeister in
                            1.der Kunst, das „Zwölfhalbtonsystem“ mit lauter unreinen, aber leidlich
 brauchbaren Intervallen gewonnen. Was ist aber rein und was un⸗
 rein? Unser Ohr hört ein verstimmtes Klavier, bei welchem vielleicht
 „reine und brauchbare“ Intervalle entstanden sind, als unrein an.
 Das diplomatische Zwölfersystem ist ein notgedrungener Behelf, und
 doch wachen wir über die Wahrung seiner Unvollkommenheiten. –
 Man nennt es „Harmonielehre“. | 
                                                             
                    
                    wir niemals darüber oder darunter oder dazwischen gelangen
                     können. Namentlich die Tasteninstrumente haben unser
                     Ohr gründlich eingeschult, so dass wir nicht mehr fähig sind,
                     anderes zu hören – als nur im Sinne der Unreinheit.
                     Und die Natur schuf eine unendliche Abstufung – unendlich!
                     
                    Wer weiß es heute noch?1
                 Und innerhalb dieser zwölfteiligen Oktave haben wir noch
                     eine Folge bestimmter Abstände abgesteckt, sieben an der
                     Zahl, und darauf unsere ganze Tonkunst gestellt. Was sagte
                     ich, eine Folge? Zwei solche Folgen, die Dur- und Moll-Skala. Wenn wir dieselbe Folge von Abständen von einer
                     anderen der zwölf Zwischenstufen aus ansetzen, so gibt es eine
                     neue Tonart, und sogar eine fremde! Was für ein gewaltsam beschränktes System diese erste Verworrenheit ergab,1
                    
                     steht in den Gesetzbüchern zu lesen: wir wollen es
                     nicht hier wiederholen. Wir lehren vierundzwanzig Tonarten, zwölfmal die beiden
                     Siebenfolgen, aber wir verfügen in der Tat nur über zwei:
                    
                     1.
                        
                        
                            (Riemann, Musiklexikon)
                        
                                                                Sub voce „Temperatur“; Busoni zitiert die 5. Auflage (1900), S. 1124.„Die gleichschwebende zwölfstufige Temperatur, welche bereits seit
                                 ca. 1500 theoretisch erörtert, aber erst kurz vor 1700 prinzipiell aufgestellt wurde (durch Andreas Werkmeister ), teilt die Oktave in zwölf
                                 gleiche Teile (Halbtöne, daher ‚Zwölfhalbtonsystem‘ ) und gewinnt damit Mittelwerte, welche kein Intervall wirklich rein, aber alle leidlich
                                 brauchbar intonieren.“So haben wir durch Andreas Werkmeister, diesen Werkmeister in
                             der Kunst, das „Zwölfhalbtonsystem“ mit lauter unreinen, aber leidlich
                             brauchbaren Intervallen gewonnen. Was ist aber rein und was unrein? Unser Ohr hört ein verstimmtes Klavier, bei welchem vielleicht
                             
                            „reine und brauchbare“ Intervalle entstanden sind, als unrein an.
                             Das diplomatische Zwölfersystem ist ein notgedrungener Behelf, und
                             doch wachen wir über die Wahrung seiner Unvollkommenheiten. –1. Man nennt es „Harmonielehre“. | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d37-1916" corresp="#d29-1907"><p type="split"> 
                    
                    wir niemals darüber oder darunter oder dazwischen gelangen
                    <lb/>können. Namentlich die Tasteninstrumente haben unser
                    <lb/>Ohr gründlich eingeschult, so da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> wir nicht mehr fähig sind,
                    <lb/>anderes zu hören – als nur im Sinne der Unreinheit.
                    <lb/>Und die Natur schuf eine unendliche Abstufung – unendlich!
                    <lb/>
                    <choice><orig>w</orig><reg>W</reg></choice>er weiß es heute noch?
                    
                    <note place="bottom" n="1">
                        <cit>
                            <quote rend="dq-du">Die gleichschwebende zwölfstufige Temperatur, welche bereits seit
                                <lb/>ca. <date when-iso="1500">1500</date> theoretisch erörtert, aber erst kurz vor <date when-iso="1700">1700</date> prinzipiell auf
                                <lb break="no"/>gestellt wurde (durch <persName key="E0300011">Andreas Werkmeister</persName>), teilt die Oktave in zwölf
                                <lb/>gleiche Teile (Halbtöne, daher <soCalled rend="dq-du">Zwölfhalbtonsystem</soCalled>) und gewinnt da
                                <lb break="no"/>mit Mittelwerte, welche kein Intervall wirklich rein, aber alle leidlich
                                <lb/>brauchbar intonieren.</quote>
                            <bibl>(<persName key="E0300088">Riemann</persName>, <title>Musiklexikon</title>)</bibl>
                        </cit>
                        <note type="commentary" resp="#E0300314">Sub voce <q>Temperatur</q>; Busoni zitiert die <ref type="ext" target="https://archive.org/stream/musiklexikon00riemgoog#page/n1159/mode/2up">5. Auflage (1900), S. 1124</ref>.</note>
                        
                        <p>So haben wir durch <persName key="E0300011">Andreas Werkmeister</persName>, diese<choice><orig>m</orig><reg>n</reg></choice> Werkmeister in
                            <lb/>der Kunst, das <soCalled rend="dq-du">Zwölfhalbtonsystem</soCalled> mit lauter unreinen, aber leidlich
                            <lb/>brauchbaren Intervallen gewonnen. Was ist aber rein und was un
                            <lb break="no"/>rein? Unser Ohr hört ein verstimmtes Klavier, bei welchem vielleicht
                            <lb/>
                            <soCalled rend="dq-du">reine und brauchbare</soCalled> Intervalle entstanden sind, als unrein an.
                            <lb/>Das diplomatische Zwölfersystem ist ein notgedrungener Behelf, und
                            <lb/>doch wachen wir über die Wahrung seiner Unvollkommenheiten. –</p>
                    </note>
                </p>
                
                <p>Und innerhalb dieser zwölfteiligen Oktave haben wir noch
                    <lb/>eine Folge bestimmter Abstände abgesteckt, sieben an der
                    <lb/>Zahl, und darauf unsere ganze Tonkunst gestellt. Was sagte
                    <lb/>ich, eine Folge? Zwei solche Folgen, die Dur<pc>=</pc> und Moll<pc>=</pc>
                    <lb break="no"/>Skala. Wenn wir dieselbe Folge von Abständen von einer
                    <lb/>anderen der zwölf Zwischenstufen aus ansetzen, so gibt es eine
                    <lb/>neue Tonart, und sogar eine fremde! Was für ein ge
                    <lb break="no"/>waltsam beschränktes System diese erste Verworrenheit er
                    <lb break="no"/>gab,
                    
                    <note place="bottom" n="1">
                        <p>Man nennt es <soCalled rend="dq-du">Harmonielehre</soCalled>.</p>
                    </note>
                    
                    <lb/>steht in den Gesetzbüchern zu lesen: wir wollen es
                    <lb/>nicht hier wiederholen.</p>
                
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                <p type="pre-split">Wir lehren vierundzwanzig Tonarten, zwölfmal die beiden
                    <lb/>Siebenfolgen, aber wir verfügen in der Tat nur über zwei:
                    
                    </p></div> | 
                                                
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                    die Dur=Tonart und die Moll=Tonart. Die anderen sind
                    nur Transpositionen. Man will durch die einzelnen Trans⸗
 positionen einen verschiedenen Charakter entstehen hören:
 aber das ist eine Täuschung. In England, wo die hohe
 Stimmung herrscht, werden die bekanntesten Werke um
 einen halben Ton höher gespielt, als sie notiert sind, ohne daß
 ihre Wirkung verändert wird. Sänger transponieren zu
 ihrer Bequemlichkeit ihre Arie und lassen, was dieser vor⸗
 ausgeht und folgt, untransponiert spielen.
 Liederkomponisten geben ihre eigenen Werke nicht selten
                    in drei verschiedenen Höhen der Notation heraus; die Stücke
 bleiben in allen drei Ausgaben vollkommen die nämlichen.
 Wenn ein bekanntes Gesicht aus dem Fenster sieht, so
                    gilt es gleich, ob es vom ersten oder vom dritten Stockwerk
 herabschaut.
 Könnte man eine Gegend, soweit das Auge reicht, um
                    mehrere hundert Meter erhöhen oder vertiefen, das land⸗
 schaftliche Bild würde dadurch nichts verlieren noch ge⸗
 winnen.
 Auf die beiden Siebenfolgen, die Dur=Tonart und die
                    Moll=Tonart, hat man die ganze Tonkunst gestellt – eine
 Einschränkung fordert die andere.
 Man hat jeder der beiden einen bestimmten Charakter
                    zugesprochen, man hat gelernt und gelehrt, sie als Gegen⸗
 sätze zu hören, und allmählich haben sie die Bedeutung von
 Symbolen erreicht – Dur und Moll – Maggiore e Minore
 – Befriedigung und Unbefriedigung – Freude und Trauer
 – Licht und Schatten. Die harmonischen Symbole haben
 den Ausdruck der Musik, von Bach bis Wagner und weiter
 | 
                                                             
                    
                    die Dur-Tonart und die Moll-Tonart. Die anderen sind
                     nur Transpositionen. Man will durch die einzelnen Transpositionen einen verschiedenen Charakter entstehen hören:
                     aber das ist eine Täuschung. In England, wo die hohe
                     Stimmung herrscht, werden die bekanntesten Werke um
                     einen halben Ton höher gespielt, als sie notiert sind, ohne dass
                     ihre Wirkung verändert wird. Sänger transponieren zu
                     ihrer Bequemlichkeit ihre Arie und lassen, was dieser vorausgeht und folgt, untransponiert spielen. Liederkomponisten geben ihre eigenen Werke nicht selten
                     in drei verschiedenen Höhen der Notation heraus; die Stücke
                     bleiben in allen drei Ausgaben vollkommen die nämlichen. Wenn ein bekanntes Gesicht aus dem Fenster sieht, so
                     gilt es gleich, ob es vom ersten oder vom dritten Stockwerk
                     herabschaut. Könnte man eine Gegend, so weit das Auge reicht, um
                     mehrere hundert Meter erhöhen oder vertiefen, das landschaftliche Bild würde dadurch nichts verlieren noch gewinnen. Auf die beiden Siebenfolgen, die Dur-Tonart und die
                     Moll-Tonart, hat man die ganze Tonkunst gestellt – eine
                     Einschränkung fordert die andere. Man hat jeder der beiden einen bestimmten Charakter
                     zugesprochen, man hat gelernt und gelehrt, sie als Gegensätze zu hören, und allmählich haben sie die Bedeutung von
                     Symbolen erreicht – Dur und Moll – Maggiore e Minore
                     – Befriedigung und Unbefriedigung – Freude und Trauer
                     – Licht und Schatten. Die harmonischen Symbole haben
                     den Ausdruck der Musik, von Bach bis Wagner und weiter
                    
                     | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d37-1916" corresp="#d29-1907"><p type="split"> 
                    
                    die Dur<pc>=</pc>Tonart und die Moll<pc>=</pc>Tonart. Die anderen sind
                    <lb/>nur Transpositionen. Man will durch die einzelnen Trans
                    <lb break="no"/>positionen einen verschiedenen Charakter entstehen hören:
                    <lb/>aber das ist eine Täuschung. In <placeName key="E0500140">England</placeName>, wo die hohe
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                    <lb/>einen halben Ton höher gespielt, als sie notiert sind, ohne da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>
                    <lb/>ihre Wirkung verändert wird. Sänger transponieren zu
                    <lb/>ihrer Bequemlichkeit ihre Arie und lassen, was dieser vor
                    <lb break="no"/>ausgeht und folgt, untransponiert spielen.</p>
                
                <p>Liederkomponisten geben ihre eigenen Werke nicht selten
                    <lb/>in drei verschiedenen Höhen der Notation heraus; die Stücke
                    <lb/>bleiben in allen drei Ausgaben vollkommen die nämlichen.</p>
                
                <p>Wenn ein bekanntes Gesicht aus dem Fenster sieht, so
                    <lb/>gilt es gleich, ob es vom ersten oder vom dritten Stockwerk
                    <lb/>herabschaut.</p>
                
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                    <lb/>mehrere hundert Meter erhöhen oder vertiefen, das land
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                <p>Auf die beiden Siebenfolgen, die Dur<pc>=</pc>Tonart und die
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                    <lb/>zugesprochen, man hat gelernt und gelehrt, sie als Gegen
                    <lb break="no"/>sätze zu hören, und allmählich haben sie die Bedeutung von
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                    noch bis heute und übermorgen, abgezäunt.1
                    
                    Moll wird
                    in derselben Absicht gebraucht und übt dieselbe Wirkung auf
 uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren. Einen Trauer⸗
 marsch kann man heute nicht mehr „komponieren“, denn er
 ist ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebilde⸗
 tetste Laie weiß, was ihn erwartet, sobald ein Trauermarsch
 – irgendwelcher! – ertönen soll. Selbst der Laie fühlt
 den Unterschied zwischen einer Dur= und Moll=Sinfonie
 voraus.
 Seltsam, daß man Dur und Moll als Gegensätze emp⸗findet. Tragen sie doch beide dasselbe Gesicht; jeweilig
 heiterer und ernster; und ein kleiner Pinselstrich genügt, eines
 in das andere zu kehren. Der Übergang vom einen zum
 zweiten ist unmerklich und mühelos – geschieht er oft und
 rasch, so beginnen die beiden unerkenntlich ineinander zu
 flimmern. Erkennen wir aber, daß Dur und Moll ein
 doppeldeutiges Ganzes und daß die „vierundzwanzig Ton⸗
 arten“ nur eine elfmalige Transposition jener ersten zwei
 sind, so gelangen wir ungezwungen zum Bewußtsein der
 Einheit unseres Tonartensystems. Die Begriffe von ver⸗
 wandt und fremd fallen ab – und damit die ganze ver⸗
 wickelte Theorie von Graden und Verhältnissen. Wir
 haben eine einzige Tonart. Aber sie ist sehr dürftiger Art.
 „Einheit der Tonart.“
                 – „Sie meinen wohl ‚Tonart‘ und ‚Tonarten‘ sind der
                    Sonnenstrahl und seine Zerlegung in Farben?“
 1.
                                
                        So schrieb ich 1906. Die seither verflossenen zehn Jahre haben unser
                            Ohr ein klein wenig erziehen geholfen.
 | 
                                                            
                    
                    noch bis heute und übermorgen, abgezäunt.1
                    
                    Moll wird
                     in derselben Absicht gebraucht und übt dieselbe Wirkung auf
                     uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren. Einen Trauermarsch kann man heute nicht mehr „komponieren“, denn er
                     ist ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebildetste Laie weiß, was ihn erwartet, sobald ein Trauermarsch
                     – irgendwelcher! – ertönen soll. Selbst der Laie fühlt
                     den Unterschied zwischen einer Dur- und Moll-Sinfonie 
                     voraus. Seltsam, dass man Dur und Moll als Gegensätze empfindet. Tragen sie doch beide dasselbe Gesicht; jeweilig
                     heiterer und ernster; und ein kleiner Pinselstrich genügt, eines
                     in das andere zu kehren. Der Übergang vom einen zum
                     zweiten ist unmerklich und mühelos – geschieht er oft und
                     rasch, so beginnen die beiden unerkenntlich ineinander zu
                     flimmern. Erkennen wir aber, dass Dur und Moll ein
                     doppeldeutiges Ganzes und dass die „vierundzwanzig Tonarten“ nur eine elfmalige Transposition jener ersten zwei 
                     sind, so gelangen wir ungezwungen zum Bewusstsein der
                     Einheit unseres Tonartensystems. Die Begriffe von verwandt und fremd fallen ab – und damit die ganze verwickelte Theorie von Graden und Verhältnissen. Wir
                     haben eine einzige Tonart. Aber sie ist sehr dürftiger Art. „Einheit der Tonart.“
                 – „Sie meinen wohl, ‚Tonart‘ und ‚Tonarten‘ sind der
                     Sonnenstrahl und seine Zerlegung in Farben?“
                 1.
                        
                        So schrieb ich 1906. Die seither verflossenen zehn Jahre haben unser
                             Ohr ein klein wenig erziehen geholfen. | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d38-1916" corresp="#d31-1907"><p type="split">
                    
                    noch bis heute und übermorgen, abgezäunt.
                    
                    <note place="bottom" n="1">
                        <p>So schrieb ich <date when-iso="1906">1906</date>. Die seither verflossenen <date from-iso="1906" to-iso="1916">zehn Jahre</date> haben unser
                            <lb/>Ohr ein klein wenig erziehen geholfen.</p>
                    </note>
                    
                    Moll wird
                    <lb/>in derselben Absicht gebraucht und übt dieselbe Wirkung auf
                    <lb/>uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren. Einen Trauer
                    <lb break="no"/>marsch kann man heute nicht mehr <soCalled rend="dq-du">komponieren</soCalled>, denn er
                    <lb/>ist ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebilde
                    <lb break="no"/><sic>te</sic>tste Laie weiß, was ihn erwartet, sobald ein Trauermarsch
                    <lb/>– irgendwelcher! – ertönen soll. Selbst der Laie fühlt
                    <lb/>den Unterschied zwischen einer Dur<pc>=</pc> und Moll<pc>=</pc>Sinfonie 
                    <lb/>voraus.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d39-1916" corresp="#d32-1907">
                
                <p>Seltsam, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> man Dur und Moll als Gegensätze emp
                    <lb break="no"/>findet. Tragen sie doch beide dasselbe Gesicht; jeweilig
                    <lb/>heiterer und ernster; und ein kleiner Pinselstrich genügt, eines
                    <lb/>in das andere zu kehren. Der Übergang vom einen zum
                    <lb/>zweiten ist unmerklich und mühelos – geschieht er oft und
                    <lb/>rasch, so beginnen die beiden unerkenntlich ineinander zu
                    <lb/>flimmern. Erkennen wir aber, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> Dur und Moll ein
                    <lb/>doppeldeutiges Ganzes und da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> die <soCalled rend="dq-du">vierundzwanzig Ton
                    <lb break="no"/>arten</soCalled> nur eine elfmalige Transposition jener ersten zwei 
                    <lb/>sind, so gelangen wir ungezwungen zum Bewu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>tsein der
                    <lb/>Einheit unseres Tonartensystems. Die Begriffe von ver
                    <lb break="no"/>wandt und fremd fallen ab – und damit die ganze ver
                    <lb break="no"/>wickelte Theorie von Graden und Verhältnissen. Wir
                    <lb/>haben eine einzige Tonart. Aber sie ist sehr dürftiger Art.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="pre-split" xml:id="d40-1916" corresp="#d33-1907">
                
                <p><q rend="dq-du">Einheit der Tonart.</q>
                </p>
                
                <p>– <q rend="dq-du">Sie meinen wohl<reg>,</reg> <soCalled rend="sq-du">Tonart</soCalled> und <soCalled rend="sq-du">Tonarten</soCalled> sind der
                    <lb/>Sonnenstrahl und seine Zerlegung in Farben?</q>
                </p>
                
                </div> | 
                                                
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                Nein, nicht das kann ich meinen. Denn unser ganzes
                    Ton=, Tonart= und Tonartensystem ist in seiner Gesamt⸗
 heit selbst nur der Teil eines Bruchteils eines zerlegten
 Strahls jener Sonne „Musik“ am Himmel der „ewigen
 Harmonie“.
 So sehr die Anhänglichkeit an Gewohntes und Trägheit
                    in des Menschen Weise und Wesen liegen – so sehr sind
 Energie und Opposition gegen Bestehendes die Eigenschaften
 alles Lebendigen. Die Natur hat ihre Kniffe und überführt
 die Menschen, die gegen Fortschritt und Änderungen wider⸗
 spenstigen Menschen; die Natur schreitet beständig fort und
 ändert unablässig, aber in so gleichmäßiger und unwahr⸗
 nehmbarer Bewegung, daß die Menschen nur Stillstand
 sehen. Erst der weitere Rückblick zeigt ihnen das Über⸗
 raschende, daß sie die Getäuschten waren.
 Deshalb erregt der „Reformator“ Ärgernis bei den
                    Menschen aller Zeiten, weil seine Änderungen zu unvermittelt
 und vor allem, weil sie wahrnehmbar sind. Der Reformator
 ist – im Vergleich zur Natur – undiplomatisch, und es ist
 ganz folgerichtig, daß seine Änderungen erst dann Gültig⸗
 keit erlangen, wenn die Zeit den eigenmächtig vollführten
 Sprung wieder auf ihre feine unmerkliche Weise eingeholt
 hat. Doch gibt es Fälle, wo der Reformator mit der Zeit
 gleichen Schritt ging, indessen die übrigen zurückblieben.
 Und da muß man sie zwingen und dazu peitschen, den Sprung
 über die versäumte Strecke zu springen. Ich glaube, daß die
 Dur= und Moll=Tonart und ihr Transpositionsverhältnis,
 daß das „Zwölfhalbtonsystem“ einen solchen Fall von Zurück⸗
 gebliebenheit darstellen.
 | 
                
                Nein, nicht das kann ich meinen. Denn unser ganzes
                     Ton-, Tonart- und Tonartensystem ist in seiner Gesamtheit selbst nur der Teil eines Bruchteils eines zerlegten
                     Strahls jener Sonne „Musik“ am Himmel der „ewigen
                     Harmonie“. Sosehr die Anhänglichkeit an Gewohntes und Trägheit
                     in des Menschen Weise und Wesen liegen – so sehr sind
                     Energie und Opposition gegen Bestehendes die Eigenschaften
                     alles Lebendigen. Die Natur hat ihre Kniffe und überführt
                     die Menschen, die gegen Fortschritt und Änderungen widerspenstigen Menschen; die Natur schreitet beständig fort und
                     ändert unablässig, aber in so gleichmäßiger und unwahrnehmbarer Bewegung, dass die Menschen nur Stillstand
                     sehen. Erst der weitere Rückblick zeigt ihnen das Überraschende, dass sie die Getäuschten waren. Deshalb erregt der „Reformator“ Ärgernis bei den
                     Menschen aller Zeiten, weil seine Änderungen zu unvermittelt
                     und vor allem, weil sie wahrnehmbar sind. Der Reformator
                     ist – im Vergleich zur Natur – undiplomatisch, und es ist
                     ganz folgerichtig, dass seine Änderungen erst dann Gültigkeit erlangen, wenn die Zeit den eigenmächtig vollführten
                     Sprung wieder auf ihre feine, unmerkliche Weise eingeholt
                     hat. Doch gibt es Fälle, wo der Reformator mit der Zeit
                     gleichen Schritt ging, indessen die übrigen zurückblieben.
                     Und da muss man sie zwingen und dazu peitschen, den Sprung
                     über die versäumte Strecke zu springen. Ich glaube, dass die
                     Dur- und Moll-Tonart und ihr Transpositionsverhältnis,
                     dass das „Zwölfhalbtonsystem“ einen solchen Fall von Zurückgebliebenheit darstellen. | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d40-1916" corresp="#d33-1907" type="split">
                
                <p>Nein, nicht das kann ich meinen. Denn unser ganzes
                    <lb/>Ton<pc>=</pc>, Tonart<pc>=</pc> und Tonartensystem ist in seiner Gesamt
                    <lb break="no"/>heit selbst nur der Teil eines Bruchteils eines zerlegten
                    <lb/>Strahls jener Sonne <soCalled rend="dq-du">Musik</soCalled> am Himmel der <soCalled rend="dq-du">ewigen
                    <lb/>Harmonie</soCalled>.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d41-1916" corresp="#d34-1907">
                
                <p>So<orig> </orig>sehr die Anhänglichkeit an Gewohntes und Trägheit
                    <lb/>in des Menschen Weise und Wesen liegen – so sehr sind
                    <lb/>Energie und Opposition gegen Bestehendes die Eigenschaften
                    <lb/>alles Lebendigen. Die Natur hat ihre Kniffe und überführt
                    <lb/>die Menschen, die gegen Fortschritt und Änderungen wider
                    <lb break="no"/>spenstigen Menschen; die Natur schreitet beständig fort und
                    <lb/>ändert unablässig, aber in so gleichmäßiger und unwahr
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                    <lb break="no"/>raschende, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> sie die Getäuschten waren.</p>
                
                <p>Deshalb erregt der <soCalled rend="dq-du">Reformator</soCalled> Ärgernis bei den
                    <lb/>Menschen aller Zeiten, weil seine Änderungen zu unvermittelt
                    <lb/>und vor allem, weil sie wahrnehmbar sind. Der Reformator
                    <lb/>ist – im Vergleich zur Natur – undiplomatisch, und es ist
                    <lb/>ganz folgerichtig, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> seine Änderungen erst dann Gültig
                    <lb break="no"/>keit erlangen, wenn die Zeit den eigenmächtig vollführten
                    <lb/>Sprung wieder auf ihre feine<reg>,</reg> unmerkliche Weise eingeholt
                    <lb/>hat. Doch gibt es Fälle, wo der Reformator mit der Zeit
                    <lb/>gleichen Schritt ging, indessen die übrigen zurückblieben.
                    <lb/>Und da mu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> man sie zwingen und dazu peitschen, den Sprung
                    <lb/>über die versäumte Strecke zu springen. Ich glaube, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> die
                    <lb/>Dur<pc>=</pc> und Moll<pc>=</pc>Tonart und ihr Transpositionsverhältnis,
                    <lb/>da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> das <soCalled rend="dq-du">Zwölfhalbtonsystem</soCalled> einen solchen Fall von Zurück
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                Daß schon einige empfunden haben, wie die Intervalle
                    der Siebenfolge noch anders geordnet (graduiert) werden
 können, ist in vereinzelten Momenten bereits bei Liszt und
 in der heutigen musikalischen Vorwärtsbewegung ausge⸗
 sprochener zur Erscheinung gekommen. Der Drang und
 die Sehnsucht und der begabte Instinkt sprechen daraus.
 Doch scheints mir nicht, daß eine bewußte und geordnete Vor⸗
 stellung dieser erhöhten Ausdrucksmittel sich geformt habe.
 Ich habe den Versuch gemacht, alle Möglichkeiten der
                    Abstufung der Siebenfolge zu gewinnen, und es gelang mir,
 durch Erniedrigung und Erhöhung der Intervalle 113 ver⸗
 schiedene Skalen festzustellen. Diese 113 Skalen (inner⸗
 halb der Oktave C–C) begreifen den größten Teil der
 bekannten „24 Tonarten“, außerdem aber eine Reihe neuer
 Tonarten von eigenartigem Charakter. Damit ist aber der
 Schatz nicht erschöpft, denn die „Transposition“ jeder ein⸗
 zelnen dieser 113 steht uns ebenfalls noch offen und über⸗
 dies die Vermischung zweier (und weshalb nicht mehrerer?)
 solcher Tonarten in Harmonie und Melodie.
                                                                Ob die Zahl 113 hier eine Übertreibung Busonis darstellt, ist schwer zu sagen.
                        Eine genauere algorithmische Betrachtung des Problems zeigt, dass unter Zuhilfenahme
                        aller zwölf gleichstufigen Halbtöne innerhalb einer Oktave 729 siebentönige aufsteigende 
                        Skalen kombiniert werden können. Nach Eliminierung der in der Intervallstruktur identischen Skalen und Analyse der Tonleitern bezüglich nicht leitertypischer Elemente (z. B.
                        chromatischer Passagen und aufeinanderfolgender Terzen) bleiben 59 siebentönige aufsteigende Skalen übrig. Mit 113 ist Busoni weder nahe an der einen
                        noch an der anderen Zahl, was die Frage aufwirft, welche Ansprüche Busoni an eine solche von ihm 
                        neu erdachte Leiter überhaupt hat.
 Die Skala c des es fes ges as b c klingt schon bedeutend
                    anders als die des
                    =Moll=Tonleiter, wenn man c als ihren
 Grundton annimmt. Legt man ihr noch den gewöhnlichen
 C
                    =Dur=Dreiklang als Harmonie unter, so ergibt sich eine
 neue harmonische Empfindung. Man höre aber dieselbe Ton⸗
 leiter abwechselnd, vom 
                        A
                    
                    =Moll=, Es
                    =Dur= und C
                    =Dur=
 Dreiklang gestützt, und man wird sich der angenehmsten Über⸗
 raschung über den fremdartigen Wohllaut nicht erwehren
 können.
 Wohin aber würde ein Gesetzgeber die Tonfolgen c des
                    es fes g a h c | c des es f ges a h c | c d es fes ges
 a h c | c des e f ges a b c | oder gar: c d es fes g
 | 
                
                Dass schon einige empfunden haben, wie die Intervalle
                     der Siebenfolge noch anders geordnet (graduiert) werden
                     können, ist in vereinzelten Momenten bereits bei Liszt und
                     in der heutigen musikalischen Vorwärtsbewegung ausgesprochener zur Erscheinung gekommen. Der Drang und
                     die Sehnsucht und der begabte Instinkt sprechen daraus.
                     Doch scheint’s mir nicht, dass eine bewusste und geordnete Vorstellung dieser erhöhten Ausdrucksmittel sich geformt habe. Ich habe den Versuch gemacht, alle Möglichkeiten der
                     Abstufung der Siebenfolge zu gewinnen, und es gelang mir,
                     durch Erniedrigung und Erhöhung der Intervalle 113 verschiedene Skalen festzustellen. Diese 113 Skalen (innerhalb der Oktave C–C) begreifen den größten Teil der
                     bekannten „24 Tonarten“, außerdem aber eine Reihe neuer
                     Tonarten von eigenartigem Charakter. Damit ist aber der
                     Schatz nicht erschöpft, denn die „Transposition“ jeder einzelnen dieser 113 steht uns ebenfalls noch offen und überdies die Vermischung zweier (und weshalb nicht mehrerer?)
                     solcher Tonarten in Harmonie und Melodie.
                                                                Ob die Zahl 113 hier eine Übertreibung Busonis darstellt, ist schwer zu sagen.
                        Eine genauere algorithmische Betrachtung des Problems zeigt, dass unter Zuhilfenahme
                        aller zwölf gleichstufigen Halbtöne innerhalb einer Oktave 729 siebentönige aufsteigende 
                        Skalen kombiniert werden können. Nach Eliminierung der in der Intervallstruktur identischen Skalen und Analyse der Tonleitern bezüglich nicht leitertypischer Elemente (z. B.
                        chromatischer Passagen und aufeinanderfolgender Terzen) bleiben 59 siebentönige aufsteigende Skalen übrig. Mit 113 ist Busoni weder nahe an der einen
                        noch an der anderen Zahl, was die Frage aufwirft, welche Ansprüche Busoni an eine solche von ihm 
                        neu erdachte Leiter überhaupt hat.
                 Die Skala c des es fes ges as b c klingt schon bedeutend
                     anders als die des
                    -Moll-Tonleiter, wenn man c als ihren 
                     Grundton annimmt. Legt man ihr noch den gewöhnlichen
                     
                    C
                    -Dur-Dreiklang als Harmonie unter, so ergibt sich eine
                     neue harmonische Empfindung. Man höre aber dieselbe Tonleiter abwechselnd, vom 
                        a
                    
                    -Moll-, Es
                    -Dur- und C
                    -Dur-Dreiklang gestützt, und man wird sich der angenehmsten Überraschung über den fremdartigen Wohllaut nicht erwehren 
                     können. Wohin aber würde ein Gesetzgeber die Tonfolgen c des
                     es fes g a h c | c des es f ges a h c | c d es fes ges
                     a h c | c des e f ges a b c | oder gar: c d es fes g 
                        
                         | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="pre-split" xml:id="d42-1916" corresp="#d35-1907">
                
                <p>Da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> schon einige empfunden haben, wie die Intervalle
                    <lb/>der Siebenfolge noch anders geordnet (graduiert) werden
                    <lb/>können, ist in vereinzelten Momenten bereits bei <persName key="E0300013">Liszt</persName> und
                    <lb/>in der heutigen musikalischen Vorwärtsbewegung ausge
                    <lb break="no"/>sprochener zur Erscheinung gekommen. Der Drang und
                    <lb/>die Sehnsucht und der begabte Instinkt sprechen daraus.
                    <lb/>Doch scheint<reg>’</reg>s mir nicht, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> eine bewu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>te und geordnete Vor
                    <lb break="no"/>stellung dieser erhöhten Ausdrucksmittel sich geformt habe.</p>
                
                <p>Ich habe den Versuch gemacht, alle Möglichkeiten der
                    <lb/>Abstufung der Siebenfolge zu gewinnen, und es gelang mir,
                    <lb/>durch Erniedrigung und Erhöhung der Intervalle 113 ver
                    <lb break="no"/>schiedene Skalen festzustellen. Diese 113 Skalen (inner
                    <lb break="no"/>halb der Oktave <hi rend="antiqua">C–C</hi>) begreifen den größten Teil der
                    <lb/>bekannten <soCalled rend="dq-du">24 Tonarten</soCalled>, außerdem aber eine Reihe neuer
                    <lb/>Tonarten von eigenartigem Charakter. Damit ist aber der
                    <lb/>Schatz nicht erschöpft, denn die <soCalled rend="dq-du">Transposition</soCalled> jeder ein
                    <lb break="no"/>zelnen dieser 113 steht uns ebenfalls noch offen und über
                    <lb break="no"/>dies die Vermischung zweier (und weshalb nicht mehrerer?)
                    <lb/>solcher Tonarten in Harmonie und Melodie.
                    
                    <note type="commentary" resp="#E0300322">Ob die Zahl 113 hier eine Übertreibung <persName key="E0300017">Busonis</persName> darstellt, ist schwer zu sagen.
                        Eine genauere algorithmische Betrachtung des Problems zeigt, dass unter Zuhilfenahme
                        aller zwölf gleichstufigen Halbtöne innerhalb einer Oktave 729 siebentönige aufsteigende 
                        Skalen kombiniert werden können. Nach Eliminierung der in der Intervallstruktur identischen Skalen und Analyse der Tonleitern bezüglich nicht leitertypischer Elemente (z. B.
                        chromatischer Passagen und aufeinanderfolgender Terzen) bleiben 59 siebentönige aufsteigende Skalen übrig. Mit 113 ist <persName key="E0300017">Busoni</persName> weder nahe an der einen
                        noch an der anderen Zahl, was die Frage aufwirft, welche Ansprüche Busoni an eine solche von ihm 
                        neu erdachte Leiter überhaupt hat.</note>
                </p>
                
                <p>Die Skala <hi rend="antiqua">c des es fes ges as b c</hi> klingt schon bedeutend
                    <lb/>anders als die <hi rend="antiqua">des</hi>
                    <pc>=</pc>Moll<pc>=</pc>Tonleiter, wenn man <hi rend="antiqua">c</hi> als ihren 
                    <lb/>Grundton annimmt. Legt man ihr noch den gewöhnlichen
                    <lb/>
                    <hi rend="antiqua">C</hi>
                    <pc>=</pc>Dur<pc>=</pc>Dreiklang als Harmonie unter, so ergibt sich eine
                    <lb/>neue harmonische Empfindung. Man höre aber dieselbe Ton
                    <lb break="no"/>leiter abwechselnd, vom <hi rend="antiqua">
                        <choice><orig>A</orig><reg>a</reg></choice>
                    </hi>
                    <pc>=</pc>Moll<pc>=</pc>, <hi rend="antiqua">Es</hi>
                    <pc>=</pc>Dur<pc>=</pc> und <hi rend="antiqua">C</hi>
                    <pc>=</pc>Dur<pc>=</pc>
                    <lb break="no"/>Dreiklang gestützt, und man wird sich der angenehmsten Über
                    <lb break="no"/>raschung über den fremdartigen Wohllaut nicht erwehren 
                    <lb/>können.</p>
                
                <p type="pre-split">Wohin aber würde ein Gesetzgeber die Tonfolgen <hi rend="antiqua">c des
                    <lb/>es fes g a h c | c des es f ges a h c | c d es fes ges
                    <lb/>a h c | c des e f ges a b c |</hi> oder gar: <hi type="pre-split" rend="antiqua">c d es fes g 
                        
                        </hi></p></div> | 
                                                
                                                    |  42Faksimile |  42Diplomatische Umschrift |  42Lesefassung |  42XML | 
                                                
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                        ais h c | c d es fes gis a h c | c des es fis gis a b c
                    einreihen mögen?
 Welche Reichtümer sich damit für den melodischen und
                    harmonischen Ausdruck dem Ohr öffnen, ist nicht sogleich
 zu übersehen; eine Menge neuer Möglichkeiten ist aber
 zweifellos anzunehmen und auf den ersten Blick erkennbar.
 Mit dieser Darstellung dürfte die Einheit aller Tonarten 
                    endgültig ausgesprochen und begründet sein. Kaleidoskopi⸗
 sches Durcheinanderschütteln von zwölf Halbtönen in der
 Dreispiegelkammer des Geschmacks, der Empfindung und
 der Intention: das Wesen der heutigen Harmonie.
 Der heutigen Harmonie und nicht mehr auf lange: 
                    denn alles verkündet eine Umwälzung und einen nächsten
 Schritt zu jener „ewigen“. Vergegenwärtigen wir uns noch
 einmal, daß in ihr die Abstufung der Oktave unendlich ist,
 und trachten wir, der Unendlichkeit um ein weniges uns
 zu nähern. Der Drittelton pocht schon seit einiger Zeit an
 die Pforte, und wir überhören noch immer seine Meldung.
 Wer, wie ich es getan, damit, wenn auch bescheiden, ex⸗
 perimentierte und – sei es mit der Kehle oder auf einer
 Geige – zwischen einem Ganzton zwei gleichmäßig abstehen⸗
 de Zwischentöne einschaltete, das Ohr und das Treffen übte,
 der wird zur Einsicht gelangt sein, daß Dritteltöne voll⸗
 kommen selbständige Intervalle von ausgeprägtem Cha⸗
 rakter sind, mit verstimmten Halbtönen nicht zu verwechseln.
 Es ist eine verfeinerte Chromatik, die uns vorläufig auf
 der ganztönigen Skala zu basieren scheint. Führten wir
 dieselbe unvermittelt ein, so verleugneten wir die Halbtöne,
 verlören die „kleine Terz“ und die „reine Quinte“, und dieser
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                        ais h c | c d es fes gis a h c | c des es fis gis a b c
                     einreihen mögen? Welche Reichtümer sich damit für den melodischen und
                     harmonischen Ausdruck dem Ohr öffnen, ist nicht sogleich
                     zu übersehen; eine Menge neuer Möglichkeiten ist aber
                     zweifellos anzunehmen und auf den ersten Blick erkennbar. Mit dieser Darstellung dürfte die Einheit aller Tonarten 
                     endgültig ausgesprochen und begründet sein. Kaleidoskopisches Durcheinanderschütteln von zwölf Halbtönen in der 
                     Dreispiegelkammer des Geschmacks, der Empfindung und 
                     der Intention: das Wesen der heutigen Harmonie. Der heutigen Harmonie und nicht mehr auf lange: 
                     denn alles verkündet eine Umwälzung und einen nächsten 
                     Schritt zu jener „ewigen“. Vergegenwärtigen wir uns noch 
                     einmal, dass in ihr die Abstufung der Oktave unendlich ist, 
                     und trachten wir, der Unendlichkeit um ein weniges uns 
                     zu nähern. Der Drittelton pocht schon seit einiger Zeit an 
                     die Pforte, und wir überhören noch immer seine Meldung. 
                     Wer, wie ich es getan, damit, wenn auch bescheiden, experimentierte und – sei es mit der Kehle oder auf einer 
                     Geige – zwischen einem Ganzton zwei gleichmäßig abstehende Zwischentöne einschaltete, das Ohr und das Treffen übte, 
                     der wird zur Einsicht gelangt sein, dass Dritteltöne vollkommen selbständige Intervalle von ausgeprägtem Charakter sind, mit verstimmten Halbtönen nicht zu verwechseln.
                     Es ist eine verfeinerte Chromatik, die uns vorläufig auf 
                     der ganztönigen Skala zu basieren scheint. Führten wir 
                     dieselbe unvermittelt ein, so verleugneten wir die Halbtöne, 
                     verlören die „kleine Terz“ und die „reine Quinte“, und dieser 
                    
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                        ais h c | c d es fes gis a h c | c des es fis gis a b c</hi>
                    <lb/>einreihen mögen?</p>
                
                <p>Welche Reichtümer sich damit für den melodischen und
                    <lb/>harmonischen Ausdruck dem Ohr öffnen, ist nicht sogleich
                    <lb/>zu übersehen; eine Menge neuer Möglichkeiten ist aber
                    <lb/>zweifellos anzunehmen und auf den ersten Blick erkennbar.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d43-1916" corresp="#d36-1907">
                
                <p>Mit dieser Darstellung dürfte die Einheit aller Tonarten 
                    <lb/>endgültig ausgesprochen und begründet sein. Kaleidoskopi
                    <lb break="no"/>sches Durcheinanderschütteln von zwölf Halbtönen in der 
                    <lb/>Dreispiegelkammer des Geschmacks, der Empfindung und 
                    <lb/>der Intention: das Wesen der heutigen Harmonie.</p>
                
            </div> <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="pre-split" xml:id="d44-1916" corresp="#d37-1907">
                
                <p type="pre-split">Der heutigen Harmonie und nicht mehr auf lange: 
                    <lb/>denn alles verkündet eine Umwälzung und einen nächsten 
                    <lb/>Schritt zu jener „ewigen“. Vergegenwärtigen wir uns noch 
                    <lb/>einmal, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> in ihr die Abstufung der Oktave unendlich ist, 
                    <lb/>und trachten wir, der Unendlichkeit um ein weniges uns 
                    <lb/>zu nähern. Der Drittelton pocht schon seit einiger Zeit an 
                    <lb/>die Pforte, und wir überhören noch immer seine Meldung. 
                    <lb/>Wer, wie ich es getan, damit, wenn auch bescheiden, ex
                    <lb break="no"/>perimentierte und – sei es mit der Kehle oder auf einer 
                    <lb/>Geige – zwischen einem Ganzton zwei gleichmäßig abstehen
                    <lb break="no"/>de Zwischentöne einschaltete, das Ohr und das Treffen übte, 
                    <lb/>der wird zur Einsicht gelangt sein, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> Dritteltöne voll
                    <lb break="no"/>kommen selbständige Intervalle von ausgeprägtem Cha
                    <lb break="no"/>rakter sind, mit verstimmten Halbtönen nicht zu verwechseln.
                    <lb/>Es ist eine verfeinerte Chromatik, die uns vorläufig auf 
                    <lb/>der ganztönigen Skala zu basieren scheint. Führten wir 
                    <lb/>dieselbe unvermittelt ein, so verleugneten wir die Halbtöne, 
                    <lb/>verlören die <soCalled rend="dq-du">kleine Terz</soCalled> und die <soCalled rend="dq-du">reine Quinte</soCalled>, und dieser 
                    
                    </p></div> | 
                                                
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                    Verlust würde stärker empfunden als der relative Gewinn
                    eines „Achtzehndritteltonsystems“.
 Es ist aber kein Grund ersichtlich, seinetwegen mit den
                    Halbtönen aufzuräumen. Behalten wir zu jedem Ganzton
 einen Halbton, so erhalten wir eine zweite Reihe von Ganz⸗
 tönen, die um einen halben Ton höher steht als die erste.
 Teilen wir diese zweite Reihe von Ganztönen in Drittel⸗
 teile ein, dann ergibt sich zu jedem Drittelton der unteren
 Reihe ein entsprechender Halbton in der oberen.
 Somit ist eigentlich ein Sechsteltonsystem entstanden, und
                    daß auch Sechsteltöne einstmals reden werden, darauf können
 wir vertrauen. Das Tonsystem, das ich eben entwerfe, soll
 aber vorerst das Gehör mit Dritteltönen füllen, ohne auf
 die Halbtöne zu verzichten.
 Um es zusammenzufassen: Wir stellen entweder zwei
                    Reihen Dritteltöne, voneinander um einen halben Ton ent⸗
 fernt, auf; oder: dreimal die übliche Zwölftonreihe im
 Abstande von je einem Drittelton.
 Nennen wir, um sie irgendwie zu unterscheiden, den ersten
                    Ton C und die beiden nächsten Dritteltöne Cis und Des;
 den ersten Halbton (klein-)c und seine folgenden Dritteile
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                    Verlust würde stärker empfunden als der relative Gewinn
                     eines „Achtzehndritteltonsystems“. Es ist aber kein Grund ersichtlich, seinetwegen mit den
                     Halbtönen aufzuräumen. Behalten wir zu jedem Ganzton
                     einen Halbton, so erhalten wir eine zweite Reihe von Ganztönen, die um einen halben Ton höher steht als die erste.
                     Teilen wir diese zweite Reihe von Ganztönen in Drittelteile ein, dann ergibt sich zu jedem Drittelton der unteren
                     Reihe ein entsprechender Halbton in der oberen. Somit ist eigentlich ein Sechsteltonsystem entstanden, und
                     dass auch Sechsteltöne einstmals reden werden, darauf können
                     wir vertrauen. Das Tonsystem, das ich eben entwerfe, soll
                     aber vorerst das Gehör mit Dritteltönen füllen, ohne auf
                     die Halbtöne zu verzichten. Um es zusammenzufassen: Wir stellen entweder zwei
                     Reihen Dritteltöne, voneinander um einen halben Ton entfernt, auf; oder: dreimal die übliche Zwölftonreihe im
                     Abstande von je einem Drittelton. Nennen wir, um sie irgendwie zu unterscheiden, den ersten
                     Ton C und die beiden nächsten Dritteltöne Cis und Des;
                     den ersten Halbton (klein-)c und seine folgenden Drittteile
                    
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                    Verlust würde stärker empfunden als der relative Gewinn
                    <lb/>eines <soCalled rend="dq-du">Achtzehndritteltonsystems</soCalled>.</p>
                
                <p>Es ist aber kein Grund ersichtlich, seinetwegen mit den
                    <lb/>Halbtönen aufzuräumen. Behalten wir zu jedem Ganzton
                    <lb/>einen Halbton, so erhalten wir eine zweite Reihe von Ganz
                    <lb break="no"/>tönen, die um einen halben Ton höher steht als die erste.
                    <lb/>Teilen wir diese zweite Reihe von Ganztönen in Drittel
                    <lb break="no"/>teile ein, dann ergibt sich zu jedem Drittelton der unteren
                    <lb/>Reihe ein entsprechender Halbton in der oberen.</p>
                
                <p>Somit ist eigentlich ein Sechsteltonsystem entstanden, und
                    <lb/>da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> auch Sechsteltöne einstmals reden werden, darauf können
                    <lb/>wir vertrauen. Das Tonsystem, das ich eben entwerfe, soll
                    <lb/>aber vorerst das Gehör mit Dritteltönen füllen, ohne auf
                    <lb/>die Halbtöne zu verzichten.</p>
                
                <figure>
                    <figDesc>Zwei Dritteltonskalen im Halbtonabstand, in Form von zwei Systemen
                        mit Ganztonreihen (von c bis ais bzw. cis bis h) und Drittelunterteilung der Ganztöne.</figDesc>
                    <graphic width="320px" height="118px" url="D0200002_ex_2.png"/>
                </figure>
                
                <p>Um es zusammenzufassen: Wir stellen entweder zwei
                    <lb/>Reihen Dritteltöne, voneinander um einen halben Ton ent
                    <lb break="no"/>fernt, auf; oder: dreimal die übliche Zwölftonreihe im
                    <lb/>Abstande von je einem Drittelton.</p>
                
                <p type="pre-split">Nennen wir, um sie irgendwie zu unterscheiden, den ersten
                    <lb/>Ton <hi rend="antiqua">C</hi> und die beiden nächsten Dritteltöne <hi rend="antiqua">Cis</hi> und <hi rend="antiqua">Des</hi>;
                    <lb/>den ersten Halbton (klein-)<hi rend="antiqua">c</hi> und seine folgenden Dritt<reg>t</reg>eile
                    
                    </p></div> | 
                                                
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                    cis und des; – die vorhergehende Tabelle erklärt alles
                    Fehlende.
 Die Frage der Notation halte ich für nebensächlich. Wichtig
                    und drohend ist dagegen die Frage, wie und worauf diese
 Töne zu erzeugen sind. Es trifft sich glücklich, daß ich während
 der Arbeit an diesem Aufsatz eine direkte und authentische
 Nachricht aus Amerika erhalte, welche die Frage in einfacher
 Weise löst. Es ist die Mitteilung von 
                        Dr. Thaddeus Cahills
 Erfindung.1
                    
                    Dieser Mann hat einen umfangreichen Appa⸗
 rat konstruiert, welcher es ermöglicht, einen elektrischen Strom
 1.
                                
                        
                                »
                                New Music for an old World. Dr. Thaddeus Cahills Dyna⸗mophone, an extraordinary electrical Invention for producing scienti⸗
 fically perfect music by 
                                        Ray Stannard Baker
                                    «. Mc. Clure’s Magazine,
 July 1906. Vol. XXVII, No. 3.
                                –
 Über diesen transzendentalen Tonerzeuger berichtet Mr. Baker des
                            weiteren:
                                                                    Der folgende Text ist eine freie Paraphrase Busonis, kein direktes Zitat des Artikels von Ray Stannard Baker.
                            
                            … Die Wahrnehmung der Unvollkommenheit der Ton⸗
 gebung bei allen Instrumenten führte 
                                Dr. Cahill zum Nachdenken.
 Material, Indisposition, Temperatur, klimatische Zustände beeinträch⸗
 tigen die Zuverlässigkeit eines jeden. Der Klavierspieler verliert die
 Macht über den absterbenden Klang der Saite von dem Augenblick an,
 wo die Taste angeschlagen wurde. Auf der Orgel kann die Empfindung
 an der festgehaltenen Note nichts ändern. 
                                Dr. Cahill ersann die Idee
 eines Instruments, welches dem Spieler die absolute Kontrolle über
 jeden zu erzeugenden Ton und über dessen Ausdruck gewährte. Er
 nahm sich die Theorien Helmholtz’ zum Vorbild, die ihn lehrten, daß
 die Verhältnisse der Zahl und der Stärke der Obertöne zum Grund⸗
 ton den Ausschlag über den Klangcharakter der verschiedenen Instrumente
 geben. Demnach konstruierte er zu dem Apparat, welcher den Grund⸗
 ton schwingen läßt, eine Anzahl supplementärer Apparate, von welchen
 jeder einen der Obertöne erzeugt, und konnte solche in beliebiger An⸗
 ordnung und Stärke dem Grundton zuhäufen. So ist jeder Klang einer
 mannigfaltigsten Charakterisierung fähig, sein Ausdruck auf das emp⸗
 findlichste dynamisch zu regeln, die Stärke vom fast unhörbaren Pia⸗
 nissimo bis zur unerträglichen Lautmacht zu produzieren. Und weil das
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                    cis und des; – die vorhergehende Tabelle erklärt alles
                     Fehlende. Die Frage der Notation halte ich für nebensächlich. Wichtig
                     und drohend ist dagegen die Frage, wie und worauf diese
                     Töne zu erzeugen sind. Es trifft sich glücklich, dass ich während
                     der Arbeit an diesem Aufsatz eine direkte und authentische
                     Nachricht aus Amerika erhalte, welche die Frage in einfacher
                     Weise löst. Es ist die Mitteilung von 
                        Dr. Thaddeus Cahills
                     Erfindung.1
                    
                    Dieser Mann hat einen umfangreichen Apparat konstruiert, welcher es ermöglicht, einen elektrischen Strom
                    
                     1.
                        
                        
                                „
                                New Music for an old World. Dr. Thaddeus Cahills Dynamophone, an extraordinary electrical Invention for producing scientifically perfect music by 
                                        Ray Stannard Baker
                                    “. Mc. Clure’s Magazine,
                                     July 1906. Vol. XXVII, No. 3.
                                –
                         Über diesen transzendentalen Tonerzeuger berichtet Mr. Baker des
                             
                            Weiteren:
                                                                    Der folgende Text ist eine freie Paraphrase Busonis, kein direktes Zitat des Artikels von Ray Stannard Baker.
                            
                            … Die Wahrnehmung der Unvollkommenheit der Tongebung bei allen Instrumenten führte 
                                Dr. Cahill zum Nachdenken.
                             Material, Indisposition, Temperatur, klimatische Zustände beeinträchtigen die Zuverlässigkeit eines jeden. Der Klavierspieler verliert die
                             Macht über den absterbenden Klang der Saite von dem Augenblick an,
                             wo die Taste angeschlagen wurde. Auf der Orgel kann die Empfindung
                             an der festgehaltenen Note nichts ändern. 
                                Dr. Cahill ersann die Idee
                             eines Instruments, welches dem Spieler die absolute Kontrolle über
                             jeden zu erzeugenden Ton und über dessen Ausdruck gewährte. Er
                             nahm sich die Theorien Helmholtz’ zum Vorbild, die ihn lehrten, dass
                             die Verhältnisse der Zahl und der Stärke der Obertöne zum Grundton den Ausschlag über den Klangcharakter der verschiedenen Instrumente
                             geben. Demnach konstruierte er zu dem Apparat, welcher den Grundton schwingen lässt, eine Anzahl supplementärer Apparate, von welchen
                             jeder einen der Obertöne erzeugt, und konnte solche in beliebiger Anordnung und Stärke dem Grundton zuhäufen. So ist jeder Klang einer
                             mannigfaltigsten Charakterisierung fähig, sein Ausdruck auf das empfindlichste dynamisch zu regeln, die Stärke vom fast unhörbaren Pianissimo bis zur unerträglichen Lautmacht zu produzieren. Und weil das
                            
                             | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d44-1916" corresp="#d37-1907"><p type="split">
                    
                    <hi rend="antiqua">cis</hi> und <hi rend="antiqua">des</hi>; – die vorhergehende Tabelle erklärt alles
                    <lb/>Fehlende.</p>
                
                <milestone unit="division" xml:id="d44a-1916" corresp="#d39-1907"/>
                
                <p type="pre-split">Die Frage der Notation halte ich für nebensächlich. Wichtig
                    <lb/>und drohend ist dagegen die Frage, wie und worauf diese
                    <lb/>Töne zu erzeugen sind. Es trifft sich glücklich, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> ich während
                    <lb/>der Arbeit an diesem Aufsatz eine direkte und authentische
                    <lb/>Nachricht aus <placeName key="E0500942">Amerika</placeName> erhalte, welche die Frage in einfacher
                    <lb/>Weise löst. Es ist die Mitteilung von <persName key="E0300018">
                        <hi rend="antiqua">Dr.</hi> Thaddeus Cahills</persName>
                    <lb/>Erfindung.
                    
                    <note type="pre-split" place="bottom" n="1">
                        <p><hi rend="antiqua">
                                <anchor subtype="quoteStart" type="delimiter" rend="dq-chev"/>
                                <bibl><title key="E0800042">New Music for an old World. <persName key="E0300018">Dr. Thaddeus Cahills</persName> Dyna
                                    <lb break="no"/>mophone, an extraordinary electrical Invention for producing scienti
                                    <lb break="no"/>fically perfect music</title> by <author>
                                        <persName key="E0300089">Ray Stannard Baker</persName>
                                    </author><anchor subtype="quoteEnd" type="delimiter" rend="dq-chev"/>. Mc. Clure’s Magazine,
                                    <lb/>July 1906. Vol. XXVII, No. 3.</bibl>
                                –</hi>
                        </p>
                        <p type="pre-split">Über diesen transzendentalen Tonerzeuger berichtet <persName key="E0300089">Mr. Baker</persName> des
                            <lb/>
                            <choice><orig>w</orig><reg>W</reg></choice>eiteren:
                            
                            <note type="commentary" resp="#E0300314">Der folgende Text ist eine freie Paraphrase <persName key="E0300017">Busonis</persName>, kein direktes Zitat des <rs key="E0800042">Artikels</rs> von <persName key="E0300089">Ray Stannard Baker</persName>.</note>
                            
                            … Die Wahrnehmung der Unvollkommenheit der Ton
                            <lb break="no"/>gebung bei allen Instrumenten führte <persName key="E0300018">
                                <hi rend="antiqua">Dr.</hi> Cahill</persName> zum Nachdenken.
                            <lb/>Material, Indisposition, Temperatur, klimatische Zustände beeinträch
                            <lb break="no"/>tigen die Zuverlässigkeit eines jeden. Der Klavierspieler verliert die
                            <lb/>Macht über den absterbenden Klang der Saite von dem Augenblick an,
                            <lb/>wo die Taste angeschlagen wurde. Auf der Orgel kann die Empfindung
                            <lb/>an der festgehaltenen Note nichts ändern. <persName key="E0300018">
                                <hi rend="antiqua">Dr.</hi> Cahill</persName> ersann die Idee
                            <lb/>eines Instruments, welches dem Spieler die absolute Kontrolle über
                            <lb/>jeden zu erzeugenden Ton und über dessen Ausdruck gewährte. Er
                            <lb/>nahm sich die Theorien <persName key="E0300003">Helmholtz’</persName> zum Vorbild, die ihn lehrten, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>
                            <lb/>die Verhältnisse der Zahl und der Stärke der Obertöne zum Grund
                            <lb break="no"/>ton den Ausschlag über den Klangcharakter der verschiedenen Instrumente
                            <lb/>geben. Demnach konstruierte er zu dem Apparat, welcher den Grund
                            <lb break="no"/>ton schwingen lä<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>t, eine Anzahl supplementärer Apparate, von welchen
                            <lb/>jeder einen der Obertöne erzeugt, und konnte solche in beliebiger An
                            <lb break="no"/>ordnung und Stärke dem Grundton zuhäufen. So ist jeder Klang einer
                            <lb/>mannigfaltigsten Charakterisierung fähig, sein Ausdruck auf das emp
                            <lb break="no"/>findlichste dynamisch zu regeln, die Stärke vom fast unhörbaren Pia
                            <lb break="no"/>nissimo bis zur unerträglichen Lautmacht zu produzieren. Und weil das
                            
                            </p><notebreak sameAs="#pb_n45"/><p type="split">
                            
                            Instrument von einer Klaviatur aus gehandhabt wird, bleibt ihm die
                            <lb/>Fähigkeit bewahrt, der Eigenart eines Künstlers zu folgen.</p>
                        <p>Eine Reihe solcher Klaviaturen, von mehreren Spielern gespielt, kann
                            <lb/>zu einem Orchester zusammengestellt werden.</p>
                        <p>Der Bau des Instrumentes ist außerordentlich umfangreich und kost
                            <lb break="no"/>spielig, und sein praktischer Wert mü<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>te mit Recht angezweifelt werden.
                            <lb/>Zum Vermittler der Schwingungen zwischen dem elektrischen Strom
                            <lb/>und der Luft wählte der Erfinder das Telephon-Diaphragma. Durch
                            <lb/>diesen glücklichen Einfall ist es möglich geworden, von einer Zentralstelle
                            <lb/>aus nach allen den mit Drähten verbundenen Plätzen selbst auf große
                            <lb/>Entfernungen hin, die Klänge des Apparates zu versenden; und ge
                            <lb/>lungene Experimente haben erwiesen, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> auf diesem Wege weder von
                            <lb/>den Feinheiten noch von der Macht der Töne etwas eingebüßt wird.
                            <lb/>Der in Verbindung stehende Raum wird zauberhaft mit Klang er
                            <lb break="no"/>füllt, einem wissenschaftlich vollkommenen, niemals versagenden Klang;
                            <lb/>unsichtbar, mühelos und unermüdlich. Dem Bericht, dem ich diese Nach
                            <lb break="no"/>richten entnehme, sind authentische Photographien des Apparates bei
                            <lb break="no"/>gegeben, welche jeden Zweifel über die Wirklichkeit dieser allerdings
                            <lb/>fast unglaublichen Schöpfung beseitigen. Der Apparat sieht aus wie
                            <lb/>ein Maschinenraum.</p>
                    </note>
                    
                    Dieser Mann hat einen umfangreichen Appa
                    <lb break="no"/>rat konstruiert, welcher es ermöglicht, einen elektrischen Strom
                    
                    </p></div> | 
                                                
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                    in eine genau berechnete, unalterable Anzahl Schwingungen
                    zu verwandeln. Da die Tonhöhe von der Zahl der Schwin⸗
 gungen abhängt und der Apparat auf jede gewünschte Zahl
 zu „stellen“ ist, so ist durch diesen die unendliche Abstufung
 der Oktave einfach das Werk eines Hebels, der mit dem
 Zeiger eines Quadranten korrespondiert.
 Nur ein gewissenhaftes und langes Experimentieren, eine
                    fortgesetzte Erziehung des Ohres, werden dieses ungewohnte
 Material einer heranwachsenden Generation und der Kunst
 gefügig machen.
 Welch schöne Hoffnungen und traumhafte Vorstellun⸗gen erwachen für sie! Wer hat nicht schon im Traume
 
                            
                            Instrument von einer Klaviatur aus gehandhabt wird, bleibt ihm die
                            Fähigkeit bewahrt, der Eigenart eines Künstlers zu folgen.Eine Reihe solcher Klaviaturen, von mehreren Spielern gespielt, kann
 zu einem Orchester zusammengestellt werden.Der Bau des Instrumentes ist außerordentlich umfangreich und kost⸗
 spielig, und sein praktischer Wert müßte mit Recht angezweifelt werden.
 Zum Vermittler der Schwingungen zwischen dem elektrischen Strom
 und der Luft wählte der Erfinder das Telephon-Diaphragma. Durch
 diesen glücklichen Einfall ist es möglich geworden, von einer Zentralstelle
 aus nach allen den mit Drähten verbundenen Plätzen selbst auf große
 Entfernungen hin, die Klänge des Apparates zu versenden; und ge
 lungene Experimente haben erwiesen, daß auf diesem Wege weder von
 den Feinheiten noch von der Macht der Töne etwas eingebüßt wird.
 Der in Verbindung stehende Raum wird zauberhaft mit Klang er⸗
 füllt, einem wissenschaftlich vollkommenen, niemals versagenden Klang;
 unsichtbar, mühelos und unermüdlich. Dem Bericht, dem ich diese Nach⸗
 richten entnehme, sind authentische Photographien des Apparates bei⸗
 gegeben, welche jeden Zweifel über die Wirklichkeit dieser allerdings
 fast unglaublichen Schöpfung beseitigen. Der Apparat sieht aus wie
 ein Maschinenraum.
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                    in eine genau berechnete, unalterable Anzahl Schwingungen
                     zu verwandeln. Da die Tonhöhe von der Zahl der Schwingungen abhängt und der Apparat auf jede gewünschte Zahl
                     zu „stellen“ ist, so ist durch diesen die unendliche Abstufung
                     der Oktave einfach das Werk eines Hebels, der mit dem
                     Zeiger eines Quadranten korrespondiert. Nur ein gewissenhaftes und langes Experimentieren, eine
                     fortgesetzte Erziehung des Ohres werden dieses ungewohnte
                     Material einer heranwachsenden Generation und der Kunst
                     gefügig machen. Welch schöne Hoffnungen und traumhafte Vorstellungen erwachen für sie! Wer hat nicht schon im Traume
                    
                     
                            
                            Instrument von einer Klaviatur aus gehandhabt wird, bleibt ihm die
                             Fähigkeit bewahrt, der Eigenart eines Künstlers zu folgen.Eine Reihe solcher Klaviaturen, von mehreren Spielern gespielt, kann
                             zu einem Orchester zusammengestellt werden.Der Bau des Instrumentes ist außerordentlich umfangreich und kostspielig, und sein praktischer Wert müsste mit Recht angezweifelt werden.
                             Zum Vermittler der Schwingungen zwischen dem elektrischen Strom
                             und der Luft wählte der Erfinder das Telephon-Diaphragma. Durch
                             diesen glücklichen Einfall ist es möglich geworden, von einer Zentralstelle
                             aus nach allen den mit Drähten verbundenen Plätzen selbst auf große
                             Entfernungen hin, die Klänge des Apparates zu versenden; und ge
                             lungene Experimente haben erwiesen, dass auf diesem Wege weder von
                             den Feinheiten noch von der Macht der Töne etwas eingebüßt wird.
                             Der in Verbindung stehende Raum wird zauberhaft mit Klang erfüllt, einem wissenschaftlich vollkommenen, niemals versagenden Klang;
                             unsichtbar, mühelos und unermüdlich. Dem Bericht, dem ich diese Nachrichten entnehme, sind authentische Photographien des Apparates beigegeben, welche jeden Zweifel über die Wirklichkeit dieser allerdings
                             fast unglaublichen Schöpfung beseitigen. Der Apparat sieht aus wie
                             ein Maschinenraum. | 
                                                            
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                    in eine genau berechnete, unalterable Anzahl Schwingungen
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                <p>Nur ein gewissenhaftes und langes Experimentieren, eine
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                <p type="pre-split">Welch schöne Hoffnungen und traumhafte Vorstellun
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                    „geschwebt“? Und fest geglaubt, daß er den Traum erlebe? – 
                    Nehmen wir es uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen
 zurückzuführen; befreien wir sie von architektonischen, aku⸗
 stischen und ästhetischen Dogmen; lassen wir sie reine Er⸗
 findung und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen
 und Klangfarben (denn Erfindung und Empfindung sind
 nicht allein ein Vorrecht der Melodie); lassen wir sie der
 Linie des Regenbogens folgen und mit den Wolken um die
 Wette Sonnenstrahlen brechen; sie sei nichts anderes als
 die Natur in der menschlichen Seele abgespiegelt und von
 ihr wieder zurückgestrahlt; ist sie doch tönende Luft und über
 die Luft hinausreichend; im Menschen selbst ebenso uni⸗
 versell und vollständig wie im Weltenraum; denn sie kann
 sich zusammenballen und auseinanderfließen, ohne an
 Intensität nachzulassen.
 In seinem Buche „Jenseits von Gut und Böse“ sagt
                    Das Zitat umfasst den gesamten Abschnitt Nr. 255. Busonis Zitierpraxis (bzw. die des Verlages) folgt in Orthographie und Interpunktion den bis 1906 verfügbaren Ausgaben recht frei; wir weisen nur bedeutendere Abweichungen von der Erstausgabe nach.Nietzsche:
 „Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht
                        für geboten. Gesetzt, daß man
                                                                Bei  (219): ‚Einer‘.
                        
                        den Süden liebt, wie ich
 ihn liebe, als eine große Schule der Genesung, im Geistig⸗
 sten und Sinnlichsten, als eine unbändige Sonnenfülle
 und Sonnenverklärung, welche sich über ein selbstherrliches,
 an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein solcher wird sich
 etwas vor der deutschen Musik in acht nehmen lernen, weil
 sie, indem sie seinen Geschmack zurückverdirbt, ihm die Ge⸗
 sundheit mit zurückverdirbt.
 Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem
                        Glauben
                                                                Bei  (220) ‚Glauben‘ mit Hervorhebung.
                        
                        nach, muß, falls er von der Zukunft der Musik
 träumt, auch von einer Erlösung der Musik vom Norden
 träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren, viel⸗
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                    „geschwebt“? Und fest geglaubt, dass er den Traum erlebe? – 
                     Nehmen wir es uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen 
                     zurückzuführen; befreien wir sie von architektonischen, akustischen und ästhetischen Dogmen; lassen wir sie reine Erfindung und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen
                     und Klangfarben (denn Erfindung und Empfindung sind
                     nicht allein ein Vorrecht der Melodie); lassen wir sie der
                     Linie des Regenbogens folgen und mit den Wolken um die
                     Wette Sonnenstrahlen brechen; sie sei nichts anderes als
                     die Natur, in der menschlichen Seele abgespiegelt und von
                     ihr wieder zurückgestrahlt; ist sie doch tönende Luft und über
                     die Luft hinausreichend; im Menschen selbst ebenso universell und vollständig wie im Weltenraum; denn sie kann 
                     sich zusammenballen und auseinanderfließen, ohne an
                     Intensität nachzulassen. In seinem Buche „Jenseits von Gut und Böse“ sagt
                     
                    Nietzsche:Das Zitat umfasst den gesamten Abschnitt Nr. 255. Busonis Zitierpraxis (bzw. die des Verlages) folgt in Orthographie und Interpunktion den bis 1906 verfügbaren Ausgaben recht frei; wir weisen nur bedeutendere Abweichungen von der Erstausgabe nach. „Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht
                         für geboten. Gesetzt, daß man
                                                                Bei  (219): ‚Einer‘.
                        
                        den Süden liebt, wie ich
                         ihn liebe, als eine große Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine unbändige Sonnenfülle
                         und Sonnenverklärung, welche sich über ein selbstherrliches,
                         an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein solcher wird sich
                         etwas vor der deutschen Musik in acht nehmen lernen, weil
                         sie, indem sie seinen Geschmack zurückverdirbt, ihm die Gesundheit mit zurückverdirbt. Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem
                         Glauben
                                                                Bei  (220) ‚Glauben‘ mit Hervorhebung.
                        
                        nach, muß, falls er von der Zukunft der Musik
                         träumt, auch von einer Erlösung der Musik vom Norden
                         träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren, viel⸗ | 
                                                            
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                <note type="commentary" resp="#E0300314">Das Zitat umfasst den gesamten <ref type="ext" target="https://archive.org/stream/jenseitsvongutu00nietgoog#page/n233/mode/2up">Abschnitt Nr. 255</ref>. Busonis Zitierpraxis (bzw. die des Verlages) folgt in Orthographie und Interpunktion den bis 1906 verfügbaren Ausgaben recht frei; wir weisen nur bedeutendere Abweichungen von der <rs key="E0400054">Erstausgabe</rs> nach.</note>
                
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                        den Süden liebt, wie ich
                        <lb/>ihn liebe, als eine große Schule der Genesung, im Geistig
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                        nach, muß, falls er von der Zukunft der Musik
                        <lb/>träumt, auch von einer Erlösung der Musik vom Norden
                        <lb/>träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren, viel
                        
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                        leicht böseren und geheimnisvolleren Musik in seinen Ohren
                        haben, einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick
 des blauen, wollüstigen Meeres und der mittelländischen
 Himmelshelle nicht verklingt, vergilbt, verblaßt, wie es alle
 deutsche Musik tut, einer übereuropäischen Musik, die noch
 vor den braunen Sonnenuntergängen der Wüste recht be⸗
 hält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter
 großen, schönen, einsamen Raubtieren heimisch zu sein und
 zu schweifen versteht. – –
 Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber
                        darin bestände, daß sie von Gut und Böse1
                        
                        nichts mehr
 wüßte, nur daß vielleicht irgendein Schifferheimweh, irgend⸗
 welche goldne Schatten und zärtliche Schwächen hier und
 da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von großer Ferne
 her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich
 gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die
 gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten
 Flüchtlinge wäre …“
 Und Tolstoi läßt einen landschaftlichen Eindruck zu Mu⸗sikempfindung werden,
                    wenn er in „Luzern“ schreibt:
 „Weder auf dem See, noch an den Bergen, noch am
                        Himmel eine einzige gerade Linie, eine einzige ungemischte
 Farbe, ein einziger Ruhepunkt – überall Bewegung, Un⸗
 regelmäßigkeit, Willkür, Mannigfaltigkeit, unaufhörliches
 Ineinanderfließen von Schatten und Linien, und in allem
 die Ruhe, Weichheit, Harmonie und Notwendigkeit des
 Schönen.“
 1.
                                
                            Hier macht sich Nietzsche eines Widerspruchs schuldig; träumt er 
                            vorher von einer vielleicht „böseren“ Musik, so denkt er sich jetzt eine
 Musik, die „von Gut und Böse nichts mehr wüßte“; – doch war mir
 bei der Anführung um den letzteren Sinn zu tun.
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                        leicht böseren und geheimnisvolleren Musik in seinen Ohren
                         haben, einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick
                         des blauen, wollüstigen Meeres und der mittelländischen
                         Himmelshelle nicht verklingt, vergilbt, verblaßt, wie es alle
                         deutsche Musik tut, einer übereuropäischen Musik, die noch
                         vor den braunen Sonnenuntergängen der Wüste recht behält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter
                         großen, schönen, einsamen Raubtieren heimisch zu sein und
                         zu schweifen versteht. – – Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber
                         darin bestände, daß sie von Gut und Böse1
                        
                        nichts mehr
                         wüßte, nur daß vielleicht irgendein Schifferheimweh, irgendwelche goldne Schatten und zärtliche Schwächen hier und
                         da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von großer Ferne
                         her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich
                         gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die
                         gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten
                         Flüchtlinge wäre …“ Und Tolstoi lässt einen landschaftlichen Eindruck zu Musikempfindung werden,
                    wenn er in „Luzern“ schreibt: „Weder auf dem See, noch an den Bergen, noch am
                         Himmel eine einzige gerade Linie, eine einzige ungemischte
                         Farbe, ein einziger Ruhepunkt – überall Bewegung, Unregelmäßigkeit, Willkür, Mannigfaltigkeit, unaufhörliches
                         Ineinanderfließen von Schatten und Linien, und in allem
                         die Ruhe, Weichheit, Harmonie und Notwendigkeit des
                         Schönen.“ 1.
                        
                            Hier macht sich Nietzsche eines Widerspruchs schuldig; träumt er 
                             vorher von einer vielleicht „böseren“ Musik, so denkt er sich jetzt eine 
                             Musik, die „von Gut und Böse nichts mehr wüsste“; – doch war mir 
                             bei der Anführung um den letzteren Sinn zu tun. | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split" xml:id="d46-1916" corresp="#d41-1907"><quote type="split" rend="dq-du"><p type="split">
                        
                        leicht böseren und geheimnisvolleren Musik in seinen Ohren
                        <lb/>haben, einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick
                        <lb/>des blauen, wollüstigen Meeres und der mittelländischen
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                    <p>Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber
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                        <note place="bottom" n="1">
                            <p>Hier macht sich <persName key="E0300090">Nietzsche</persName> eines Widerspruchs schuldig; träumt er 
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                        </note>
                        
                        nichts mehr
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                        <lb/>da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von großer Ferne
                        <lb/>her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich
                        <lb/>gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die
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                        <lb/>Flüchtlinge wäre …</p>
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                <p>Und <persName key="E0300091">Tolstoi</persName> lä<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>t einen landschaftlichen Eindruck zu Mu
                    <lb break="no"/>sikempfindung werden,
                    wenn er in <title key="E0400055" rend="dq-du">Luzern</title> schreibt:</p>
                    
                    <quote rend="dq-du">Weder auf dem See, noch an den Bergen, noch am
                        <lb/>Himmel eine einzige gerade Linie, eine einzige ungemischte
                        <lb/>Farbe, ein einziger Ruhepunkt – überall Bewegung, Un
                        <lb break="no"/>regelmäßigkeit, Willkür, Mannigfaltigkeit, unaufhörliches
                        <lb/>Ineinanderfließen von Schatten und Linien, und in allem
                        <lb/>die Ruhe, Weichheit, Harmonie und Notwendigkeit des
                        <lb/>Schönen.</quote>
                    
                    </div> | 
                                                
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                    Wird diese Musik jemals erreicht? „Nicht alle erreichen das Nirwana; aber jener, der von
                        1
                    
                    (Kern, „Geschichte des Buddhismus in Indien“).Anfang an begabt, alles kennenlernt, was man kennen
 soll, alles durchlebt, was man durchleben soll, verläßt, was
 man verlassen soll, entwickelt, was man entwickeln soll,
 verwirklicht, was man verwirklichen soll, der gelangt zum
 Nirwana.“
 Ist Nirwana das Reich „Jenseits von Gut und Böse“,
                    so ist hier ein Weg dahin gewiesen. Bis an die Pforte.
 Bis an das Gitter, das Menschen und Ewigkeit trennt –
 oder das sich auftut, das zeitlich Gewesene einzulassen. Jen⸗
 seits der Pforte ertönt Musik. Keine Tonkunst.2
                    
                    –
 Vielleicht, daß wir erst selbst die Erde verlassen müssen, um
 sie zu vernehmen. Doch nur dem Wanderer, der der irdi⸗
 schen Fesseln unterwegs sich zu entkleiden gewußt, öffnet sich
 das Gitter. –
 1.
                                
                        Wie auf Verabredung schreibt mir dieser Tage (1906) Mr. Vincent
                            2.d’Indy: ».... laissant de côté les contingences et les petitesses de
 la vie pour regarder constamment vers un idéal, qu’on ne pourra ja⸗
 mais atteindre, mais dont il est permis de se rapprocher.« –
 Ich 
                            glaube gelesen zu haben, daß Liszt seine 
                                Dante
                                =Symphonie auf die
 beiden Sätze 
                                »Inferno«
                             und 
                                »Purgatorio«
                             beschränkte, „weil unsere
 Tonsprache für die Seligkeiten des Paradieses nicht ausreichte.“
 | 
                    
                    Wird diese Musik jemals erreicht? „Nicht alle erreichen das Nirwana; aber jener, der von
                         Anfang an begabt, alles kennenlernt, was man kennen
                         soll, alles durchlebt, was man durchleben soll, verläßt, was
                         man verlassen soll, entwickelt, was man entwickeln soll,
                         verwirklicht, was man verwirklichen soll, der gelangt zum
                         Nirwana.“1
                    
                    (Kern, „Geschichte des Buddhismus in Indien“). Ist Nirwana das Reich „Jenseits von Gut und Böse“,
                     so ist hier ein Weg dahin gewiesen. Bis an die Pforte.
                     Bis an das Gitter, das Menschen und Ewigkeit trennt –
                     oder das sich auftut, das Zeitlich-Gewesene einzulassen. Jenseits der Pforte ertönt Musik. Keine Tonkunst.2
                    
                    –
                     Vielleicht, dass wir erst selbst die Erde verlassen müssen, um
                     sie zu vernehmen. Doch nur dem Wanderer, der der irdischen Fesseln unterwegs sich zu entkleiden gewusst, öffnet sich
                     das Gitter. – 1.
                        
                        Wie auf Verabredung schreibt mir dieser Tage (1906) Mr. Vincent
                             d’Indy: „.... laissant de côté les contingences et les petitesses de
                                 la vie pour regarder constamment vers un idéal, qu’on ne pourra jamais atteindre, mais dont il est permis de se rapprocher.“ –2. Ich 
                             glaube gelesen zu haben, dass Liszt seine 
                                Dante
                                -Symphonie auf die 
                             beiden Sätze 
                                „Inferno“
                             und 
                                „Purgatorio“
                             beschränkte, „weil unsere
                                 Tonsprache für die Seligkeiten des Paradieses nicht ausreichte.“
                         | 
                                                            
                                                                <div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xml:id="d46-1916" corresp="#d41-1907" type="split">
                    
                    <p>Wird diese Musik jemals erreicht?</p>
                    
                <cit>
                    <quote rend="dq-du">Nicht alle erreichen das Nirwana; aber jener, der von
                        <lb/>Anfang an begabt, alles kennenlernt, was man kennen
                        <lb/>soll, alles durchlebt, was man durchleben soll, verläßt, was
                        <lb/>man verlassen soll, entwickelt, was man entwickeln soll,
                        <lb/>verwirklicht, was man verwirklichen soll, der gelangt zum
                        <lb/>Nirwana.</quote>
                    
                    <note place="bottom" n="1">
                        <p>Wie auf Verabredung schreibt mir dieser Tage (<date when-iso="1906">1906</date>) <persName key="E0300016">Mr. Vincent
                            <lb/>d’Indy</persName>: <q xml:lang="fr" rend="antiqua dq-chev">.... laissant de côté les contingences et les petitesses de
                                <lb/>la vie pour regarder constamment vers un idéal, qu’on ne pourra ja
                                <lb break="no"/>mais atteindre, mais dont il est permis de se rapprocher.</q> –</p>
                    </note>
                    
                    <bibl>(<persName key="E0300092">Kern</persName>, <title key="E0800044" rend="dq-du">Geschichte des Buddhismus in <placeName key="E0500808">Indien</placeName></title>).</bibl>
                </cit>
                
                <p>Ist Nirwana das Reich <q rend="dq-du">Jenseits von Gut und Böse</q>,
                    <lb/>so ist hier ein Weg dahin gewiesen. Bis an die Pforte.
                    <lb/>Bis an das Gitter, das Menschen und Ewigkeit trennt –
                    <lb/>oder das sich auftut, das <choice><orig>zeitlich </orig><reg>Zeitlich-</reg></choice>Gewesene einzulassen. Jen
                    <lb break="no"/>seits der Pforte ertönt Musik. Keine Tonkunst.
                    
                    <note place="bottom" n="2" rend="inline">
                        <p>Ich 
                            <lb/>glaube gelesen zu haben, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> <persName key="E0300013">Liszt</persName> seine <title key="E0400056">
                                <hi rend="antiqua">Dante</hi>
                                <pc>=</pc>Symphonie</title> auf die 
                            <lb/>beiden Sätze <hi rend="antiqua">
                                <title key="E0400603" rend="dq-chev">Inferno</title>
                            </hi> und <hi rend="antiqua">
                                <title key="E0400604" rend="dq-chev">Purgatorio</title>
                            </hi> beschränkte, <q rend="dq-du">weil unsere
                                <lb/>Tonsprache für die Seligkeiten des Paradieses nicht ausreichte.</q>
                        </p>
                    </note>
                    
                    –
                    <lb/>Vielleicht, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> wir erst selbst die Erde verlassen müssen, um
                    <lb/>sie zu vernehmen. Doch nur dem Wanderer, der der irdi
                    <lb break="no"/>schen Fesseln unterwegs sich zu entkleiden gewu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>t, öffnet sich
                    <lb/>das Gitter. –</p>
                
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