Mus.ep. H. Huber 75 (Busoni-Nachl. B II)
[1]
Locarno Mercoledi
Ital.: Mittwoch (16. Januar 1918).
15 Jan 1918
Da Huber den Brief auf Mittwoch datiert und sich retrospektiv auf Busonis Konzerte vom 14./15. Januar 1918 bezieht, ist Busonis Datierung auf den 15. Januar 1918 (Dienstag) vermutlich falsch. Solche Vordatierungen um einen Tag durch den Empfänger sind kein Einzelfall; vgl. etwa den [Brief vom 8. November 1917](#D0100168).
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Lieber Freund!
heute morgen bin ich mit dem
Gedanken an Ihre solistische Unter
stützung des letzten Abonnementskzt’skonzerts
in Zürich erwacht &und nehme an,
daßss Ihnen die Durchführung der
heterogenen &und doch nur einen halben
Ton von einander entfernten Aufgaben
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2301
so geglückt ist, daßss Sie sich noch einige
Tage in dem Glanze des Erlebten
freuen dürfen.
Busoni hatte am 14. und 15. Januar in Zürich unter Leitung von Volkmar Andreae mit dem Orchester der Tonhalle-Gesellschaft Mozarts Klavierkonzert d-Moll KV 466 sowie das Klavierkonzert Nr. 1 Es-Dur von Franz Liszt gespielt. Ursprünglich war Mozarts Klavierkonzert c-Moll KV 491 geplant; Busoni entschied sich, wie er Andreae am 9. Oktober 1917 mitteilte, aber für das Konzert in d-Moll: Inzwischen habe ich mir 3 Mozart’sche Klavierkonzerte durchgesehen u.und gefunden, daß das d moll das bedeutsamste bleibt; dass im Übrigen […] sie alle ziemlich nach einem Schnitt gestaltet sind
(vgl. , S. 60 f.). Auf dem Programm standen außerdem die 4. Symphonie von Gustav Mahler sowie die Ouvertüre Le Carneval romain von Hector Berlioz (vgl. , S. 395).
In dieser eigentlich
selbstverständlichen Annahme möchte
ich Sie um die Beantwortung folgd.folgender
drei Fragen bitten, die aber kein
retour de courrier
Frz.: eilige Rückmeldung, postwendende Antwort.
verlangen.
-
1. Wer ist Bruno Goetz?
Ich begreife vollständig; wen̅nn Sie mir
sagen, daßss derselbe in Ihrem Freundeskreise
lebt!
Bruno Goetz hatte Busoni im Mai 1917 in Zürich kennengelernt und zählte bald zu dessen engstem Freundeskreis (vgl. , S. 1078).
Den̅nn er besitzt die sichere UeÜber
legenheit, die auch aus Ihnen herausströmt,
wen̅nn Sie das Polemische reizt. Noch
selten hat mir ein Urtheil über ein
an krankhafter Abnormität leidendes Schaffen,
oder ein an parasitischer Ausbildung einzelner
künstlerischer Organe auf Kosten anderer
gesegnetes Individuum so imponiert
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
wie in diesem Artikel der Zürcherschen
Zeitschrift!
In der NZZ vom 10. Dezember 1917 war ein Artikel von Goetz erschienen, der Pfitzners Palestrina scharf kritisierte. Die ansonsten weithin gefeierte Uraufführung des Werks (, Sp. 469) war in der NZZ als das Sprödeste und Trockenste, was man seit langem gehört hat
, abgetan worden (, Sp. 3). Goetz’ Artikel stellt jedoch einen vernichtenden Verriss dar: dieser Musik fehlt es an lebendigem, göttlichem, freiem Geist; sie ist trocken, abstrakt gelehrt und gelegentlich sogar brutal. Sie ist tief im Sinne jener, denen Schwerfälligkeiten gleichbedeutend mit Tiefe sind
(, Sp. 6).
Seelisch kam ich nie zu
einem Verhältnißs zu den Werken Pfitzners,
nur fiel mir im̅mmer eine Mischung
von Jüdischem &und Christlichem sehr unan
genehm in die Ohren. Ob das Aandere
nie empfunden haben?
Dieser Vorwurf gegen Pfitzner, einen latenten Antisemiten (, Sp. 489), muss, ebenso wie zuvor genannten drastischen Kritikpunkte, vor dem Hintergrund der schwelenden Auseinandersetzung Busonis mit Pfitzner gelesen werden. Dieser hatte 1917 Busoni mit der Veröffentlichung seiner Schrift Futuristengefahr als Reaktion auf den Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst polemisch angegriffen (, Sp. 1384), da er sich und sein (der Vergangenheit verpflichtetes) Werk durch das revolutionäre Gedankengut von Busonis Schrift in den Grundfesten angegriffen sah (, S. 12 ff.). Die Betroffenheit Busonis über Pfitzners Attacke schlug sich auch im Briefwechsel mit Huber nieder (vgl. v. a. den [Brief vom 26. Mai 1917](#D0100159)); Huber war also über den Konflikt genau im Bilde.
-
2. Am Abend sitzt Herr von Zweygberg
hie &und da bei mir in einem Kreise
von Malern und Sculptoren.
Dabei mag es sich u. a. um die Künstler Knut Åkerberg und Otto Roos handeln, welche mit Huber in Locarno verkehrten (vgl. , S. 67 f.).
Aus
dem schweigsamen, nach
Ihnen
Iinnen
verkehrenden,
[2]
aber sympathischen Manne habe ich entziffern
kön̅nnen, daßss er seine Kunst, die er vor einigen
Wochen in Basel mit Erfolg ausgeübt hat,
mehr in die Welt heraustragen möchte.
Ob es wirklich künstlerische Lust ist,
oder ob Existenzfragen dabei mitwirken,
weiß ich nicht. Auf alle Fälle hat er Aspirationen
auf Ihre Mithilfe, weßshalb ich eher, annehme,
daßss dabei eher künstlerische Motive mitvi
brieren. In Basel will ich selbstverständlich
durch meine Freunde das Konzert arrangieren
&und
prosperieren
praeäparieren laßssen. Nur wen̅nn Sie
mit ihm die beiden Städte Lugano &und
Locarno z. bB. im März besuchen würden?
Da hätten Sie jedenfalls einen großen
Erfolg! Wie gern möchte ich dem jungen
retpublikanischen
Nach der russischen Oktoberrevolution hatte Finnland am 6. Dezember 1917 seine Unabhängigkeit erklärt und war im Januar 1918 von der Russischen SFSR sowie vielen weiteren Staaten anerkannt worden.
Fin̅nnländer dieses
Glück gön̅nnen!
Vermutlich bezieht sich Hubers Bitte um Unterstützung für Lennart von Zweygberg auf ein seit Februar 1917 geplantes Konzert Busonis mit Zweygberg ([Brief vom 5. Februar 1917](#D0100143)), das am 2. oder 16. März 1917 im Basler Konservatorium stattfinden sollte und für Zweygberg von einiger wirtschaftlicher Bedeutung war ([Brief vom 8. Februar 1917](#D0100144)). Busoni vertagte das Vorhaben jedoch ([Brief vom 9. Februar 1917](#D0100145)) und ließ Hubers Bitte um Ersatztermine ([Brief vom 11. Februar 1917](#1917-02-11-hb)) offenbar unbeantwortet. Da das fragliche Konzert in der zwischenzeitlichen Korrespondenz keine Rolle mehr spielt, wurde vermutlich kein Ersatztermin gefunden. Huber erinnert Busoni folglich an eine alte Abmachung.
–
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3. Ich besitze einen vorzüglichen Schüler
in der Person des Bruders vom
Basler Konzertmeister Fritz Hirt.
Seit langer Zeit ist dieser Franz-
Joseph
Josef Hirt die begabteste
Künstlernatur – auch in wißssenschaftlicher
Beziehung aufgeweckt –, die mir
begegnete. Im Herbst möchte ich
ihn auf entwöhnen &und einem anderen
Lehrer übergeben. Ich spreche mit diesen
Termini, weil der Jüngling mein
Pathenkind repräesentiert. Und
nun: soll ich ihn Petri schicken?
Hirt, seit 1913 Privatschüler Hubers und 1916–1918 Schüler des Basler Konservatoriums, führte tatsächlich seine Studien bei Petri fort (, S. 135). Auch scheint Hirt am 8. April 1918 Busoni vorgespielt zu haben ([Brief vom 9. April](#D0100181) an Huber). Der Briefwechsel Busoni–Petri weist diesbezüglich keine Hinweise auf (vgl. ).
Mit dieser Dreiheit
schicke ich Ihnen eine Vielheit
von lieben Grüßen an Aalle Lieben
Ihres Hauses &und zeichne als
Ihr treuer
Hans Huber