## Title: Ludwig Rubiner an Ferruccio Busoni (Locarno, 22. April 1918) ## Author: Ludwig Rubiner ## Version: 0.4 ## Origin: https://busoni-nachlass.org/D0100322 ## License: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/ | 22. Apr. 1918. Egregio amico, was im Latein, mit Purpurtoga be hangen, hieße: O egregi amice! Hoffen will ich, dass diese Zeilen noch vor Ihrer Genfer Abreise zu Ihnen kommen. Und meinen Glückwunsch zu Ihrem Riesen- und Massenerfolg in Genf, den ich aus einer Kritik der Feuille schließe (übrigens die einzige Zeitung, die es gibt, die sich wirklich vor dem Krieg genau so ekelt wie Sie und ich). Ich springe heute Nachmittag endlich in das Abenteuer meines letzten Aktes. (Schloss, nach beglückendem Empfang Ihres gestrigen Briefes, das vorhergehende in unaufhaltsamer achtstündiger Sturmarbeit.) Meine Vorbereitung zu diesem letzten Aufgebot meiner Kräfte ist: Ich bat telegraphisch meine Frau herzukommen und einige Tage bei mir zu bleiben. Anders könnte ich diesen letzten Anfang gar nicht fertigbringen. Es ist nun ein mal so: Wenn ich vor einem neuen oder endgültigen Ansprung stehe, dann kann mir über die entsetzliche Angst nur meine Frau weghelfen, nur das Gespräch mit ihr, über hundert | ganz reale, oder ganz ganz abstrakte Dinge; der innere Mut eines langjährigen Freundes und vertrautesten Kameraden, auch gelegentlich anderer Meinung zu sein, hebt mich; das Unlyrische in ihr lässt mich mich auf meine dunkelsten Quellen besinnen; ihr Sinn für Humor – wie selten bei Frauen! – hilft mir über die Todesangst hinweg. Kurz, in diesem Moment der entsetzli chen, schreckenerfüllten, luftleeren Pause konnte und kann nur sie mir helfen. Quest’ è la vita. – Wenn ich an das denke, was von einem Menschen schließlich mal übrig bleibt, an die Arbeit, so entdecke ich, bei aller nie versiegenden Dankbar keit gegen die Frauen, mit denen ich je befreundet war, doch nur menschliche und geistige Kuriositätenkrüppel,(natürlich rede ich nicht von wirklichen Verkrüppelten!) rechte langhaarige Freaks, Kunst=Klavier Gefühls=Coitier=Freaks – für mein Leben, das wirkliche Leben, für meine Arbeit keine mit Verständnis, Anre gung oder womöglich Hülfe. Gar nicht erst an die armen Wesen zu denken, die ich seit meinem Aufenthalt in der Schweiz kennen gelernt habe, die Ahnungslosen, die sich im besten Fall an ein wenig Kunst ganz teilweise betrinken, und die – ach! – jede | mitfühlende Burschikosität ei[…][…] wohlwollendes Mitgefühl mit ihrem Spur von Wohlwollen mit ihrem hoffnungslosen Schicksal sofort glän zend missverstehen! – Ja, was machte ich wohl ohne meine Frau — Aber genug jetzt von mir und meiner Arbeit, denn mein unglückliches Naturell fordert dann wieder für den Fortlauf der Arbeit Einsamkeit, die durch den Brief eines Fremden aufs Wunderbarste gesteigert werden kann. Aber alles, was ich Ihnen hier sage, kennen Sie gewiss persönlich Punkt für Punkt von sich. (Merkwürdig: Man ist nie so allein wie mit einem wirklichen Freunde! Mit Huber bin ich seit langem sehr unzufrieden. Er versprach mir mit heiligstem Schweizer Antlitz seinen offenen Brief im Journal de Genève; denn nach langwöchigen Ausweichen sagte er, er wolle lieber einen Artikel für eine Schweizer Musikzeitung draus machen. – Seit ich aber heraus habe, dass etwas von ihm auf dem Neuchâteler Musikfest aufgeführt wird, weiß ich, dass er einfach Angst hat, es [sich] mit den großen Musikkritikern der West- Schweiz zu verderben. Hoffentlich tue ich ihm damit Unrecht, und er ist nur zu schwach, um seine eigene Meinung zu haben. – | Casino Kursaal #lb#de #lb#Locarno #lb#(Lac Majeur – Suisse) Locarno,___________________ Von jeher war das an meisten Anziehende in Faust und was ich stets von vornherein verstand: Die Mütter. Die vollkommenen Erneuerungs- und Wandlungsquellen der Menschen, und jedes neuen Lebenszustands gewissermaßen! unter einer neuen Gottheit stehend. Dass man kein Faust nach dem Verstehen fragt, habe ich stets als ungerecht und spießig empfunden.Es ist gar nichts zu verstehen, wenn man nur jede Figur als wirklich plastische Verkörperung ansieht ein paar Privatscherze Goethes ausgenommen). Habe mich stets geweigert, einen Faustkommen tar zu lesen. – Meine Frage an Sie betraf auch gar nicht das Verstehen des Faust II, sondern sein Ziel auf der Erde, seinen Welt-Sinn, seine nachwirkende Produktiv kraft. Was denken Sie davon? Es gibt herrliche Werke, die in sich bleiben. Ich erlaube mir, auch der ungeheuren Größe gegenüber, meinem Kontaktsinn zu folgen, und finde dass "– ohne Vergleich, durch erdenkte und sogar notwendige überweltliche Wertung "– ein Werk wie Dantes nachwirkende, heraus aus sich wirkende Schöpferkraft bis auf die spätesten Zeiten haben wird (die nur historisch veralteten Details zählen nicht), Faust II aber nicht, wohl aber viel Kleineres von Goethe. | Das Tiefste und bedeutendste Wort, das Goethe gesprochen hat, vielleicht das größte Geheimnis, das er berührt hat, sind unzwei felhaft Die Mütter. Dass er nicht gewagt hat, es auch selbst zu lösen, danach ist, meines Erachtens, seine unglückliche Abhängigkeit von den Naturwissenschaften und seine ganze Rousseauische Überschätzung der Natur schuld – also gerade das, weswegen das 19. Jahrhundert ihn dummerweise so sehr lobt, und was sein nur Historisches ausmacht. – Natur ist der strikte Gegen satz zum freien Willen. Ich sah, als ich soweit gekommen war, in meinem Leben an Gott zu glauben, als Erwachsener, weil ich spürte und erkannte, dass es den freien Willen gibt . Ich sah, dass der freie Wille der Urquell aller Religionen am Ursprung ist. Die Natur [ist] | nur das Akzidens, das der Mensch erst selbst, während seines Handelns, durch Erkenntnis, schafft. Das naturwissenschaftlich verbohrte 19. Jahrhundert nahm an, die Natur habe den Menschen geschaffen oder werden lassen. Die Zukunft wird einsehen, dass es umgekehrt ist. Die Zukunft? Jene heilige Zukunft, die immer bestand, die im Altertum in den Mysterien war. Beispiel: Mozart, Busoni sind typische Vertreter (als Schöpfer) des freien Willens. Beethoven, Wagner, (Debussy): der (unfreien, fatalistischen) Natur. (Immer von den Werten geredet.) – Corneille las ich, weil er die allerstrengste Form Calderón kenne ich, trotz der grauenhaften Übersetzungen, sehr gut. Ich darf ihn jetzt nicht lesen, es ist zuviel mir verwandtes zu diesen herlichen Dichter! Ich wollte möchte einen, der mich zügelt durch Fremdheit. – Und alles andere auf bald und mündlich. Ich umarme Sie in tiefer Freundschaft Ihr Ludwig Rubiner. | — Confiserie & patisserie — #lb# E. Scheurer #lb#PIAZZA GRANDE – LOCARNO – PIAZZA GRANDE #lb#— #lb#Buffet du Kursaal #lb#— Locarno, le ....... 19.. |