## Title: Ferruccio Busoni an Robert Freund (Berlin, 8. November 1910) ## Author: Ferruccio Busoni ## Version: 0.4 ## Origin: https://busoni-nachlass.org/D0100542 ## License: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/ | Verehrter Freund. Ihre Rezensionen sind mir von größtem Werte, und bei jeder Veröffentlichung zähle ich im Stillen darauf. Die Sonatina wurde hier verschimpft, die Mildesten fanden in ihr eine Nachahmung Debussys! Ich müsste meine kleine Ästhetik neu redigieren, nicht alles ist darin wohl deutlich genug ausgedrückt. Ich bin ein Anbeter der Form!! Ich bin überempfindlich dafür, und diese meine Schwäche d macht, dass ich viel leide, weil so oft gegen Form gesündigt | wird – auch im Leben, im Abstatten und Beenden eines Besuches, im Einschenken einer Tasse Tee, in einer Programmzusammenstellung, in Gesten, Worten, Handlungen. Aber ich lehne mich gegen überlieferte und unabänderliche Formen auf und empfinde, dass jeder Gedanke, jedes Motiv, jedes Individuum eine eigene im Verhältnis zum Gedanken, zum Motiv, zum Individuum stehende Form haben muss. So ist es in der Natur, und der Keim enthält schon die ausgewachsene Pflanze. Sie verstehen mich aus diesen wenigen Sätzen, doch könnte ich sehr ausführlich darüber schreiben. | In der Wiener Universal-Edition erschien dieser Tage ein von mir klaviermäßig=gestaltetes Stückchen von Arnold Schönberg, auf das ich Sie aufmerksam mache. (Leider habe ich kein Exemplar zur Verfügung.) Es wird Sie abstoßen, namentlich im harmonischen Klang, aber es enthält eine eigene Empfindung und scheint mir eben in seiner Form vollendet. – Die Architektonik der Musik ist die Sphäre, der Inhalt muss nur darin richtig verteilt sein. | Das hat derselbe Schönberg in einem jüngst hier aufgeführten Orchesterpoem (Pelleas und Melisande) nicht verstanden. Es ist wie ein Sack, der mit kantigen Gegenständen gepfropft ist. – Aber auch dieses Stück zeigt Eigenart, Unabhängigkeit und stellenweise auch Schönheit. (Es ist mit 29 Jahren komponiert.) Ich könnte noch lange mit Ihnen schwätzen – – – Vielen Dank für Ihr sehr freundliches Interesse. Ich grüße Sie und Ihre Frau Gemahlin herzlich und achtungsvoll. Ihr Ferruccio Busoni Berlin, 8. November 1910.