## Title: Ferruccio Busoni an Philipp Jarnach (Paris, 10. März 1920) ## Author: Ferruccio Busoni ## Version: 0.4 ## Origin: https://busoni-nachlass.org/D0101684 ## License: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/ | Paris, 10 mars 1920 48 rue de Villejust Lieber Jarnach, ich danke Ihnen dafür, dass Sie die Improvisation geschickt haben. Da wir schon beim Notenleihen sind, so bitte ich Sie, bei nächster (Ihnen passender) Gelegenheit die Partitur von van Dieren an Andreae zu geben. Ich habe versprochen, dies zu tun, und bin darin skrupulös. (Sie haben sie etwa drei Monate bei sich.) Ich schrieb Ihnen vom Hôtel aus. Nun bin ich Gast des Hôteliers in seinem Privathause. Was ich Ihnen schrieb, war mir ganz impulsiv in den Kopf und von dort in die Feder gekommen. Es war mehr eine allgemeine Reflexion als ein persönlicher Wink. Ich hoffe, dass Sie dieses von mir nicht als unbescheiden empfanden. | Die Kunst ist so hat so viele Enden, dass man von Zeit zu Zeit auf die hingewiesen werden muss, die auf der anderen Seite der eigenen Betätigung und Forschung liegen. Das gilt für alle . Darum sollen Sie meine Bemerkung – die ich auch zu meiner eigenen Befestigung aufschrieb – nicht als Rechthaberei von meiner Seite auffassen. Nach Zürichs Sanatorium-Dasein wirkt Paris befreiend. Der Bogen der weit ausgreifenden Geste (so schrieb ich an Andreae) ist mir wie eine Heimkehr, so vertraut und n lang entbehrt. Man zählt hier einem auch weder die Jahre an, noch was er ausgibt, noch ob er in Begleitung einer Dame gesehen wird, noch ob er ein Automobil besteigt. Ich war mit der großen Geste erzogen dass und konnte mich nie dareinfinden, dass sie etwas Tadelnswertes sei, wie Zürcher gelten lassen wollen. | Ich war überhaupt damit aufgewachsen, nie sichtbar zu werden zu lassen, ob ich arm oder reich war. (Ich war arm und galt für reich.) Nun ist mir dieses Abrechnen auf Heller und Pfennig, im Vermögen, im öffentlichen und privaten Leben, sehr verletzend. Das ist in der Schweiz normal und selbst offiziell. Mein erster Abend – der auf meinen Brief an Sie folgte – war vibrierend und erschütternd. Ich werde ihn nie vergessen. Nicht als Virtuose, aber als Mensch empfand ich diese unbändige Hin gabe eines fast fremden Publikums in einer verwöhnten und geprüften Weltstadt als wie ein Phänomen. Der Applaus dauerte den ganzen Abend von dem Schluss einer Nummer bis zum Anfang der nächsten: da zwischen die religiöseste Stille. | Alle Abende sind ausverkauft, zwei additionale Recitals (26. und 27.) schon festgesetzt. Das Wetter, bis vor vier Tagen unnatürlich heiß, hat jäh umgeschlagen: Ich habe mich dabei ernstlich erkältet. So sitze ich zu Hause (ich bewohne zwei ganze Etagen auf der Avenue du Bois de Boulogne) und beschäftige mich in verschiedener Weise. Zum Dank an meinen Wirt versuche ich eine kleine Carmenfantasie zu konstruieren, die mich nett anregt. – Aber im Hintergrunde des Bewusstseins lauert das ungeduldige Gewissen; ich sehe la Peau de Chagrin ziemlich nutzlos zusammenschrumpfen; diesem Zustande ein Ende zu bereiten, ist meine Sehnsucht, die mich – wie fast in meinem ganzen Leben – den Augenblick versäumen lässt. Leben Sie wohl und befriedigt. Herzlichste Grüße. Freundschaftlichst F. Busoni | | | |