## Title: Arnold Schönberg to Ferruccio Busoni (Steinakirchen am Forst, prob. not after 13 August 1909) ## Author: Arnold Schönberg ## Version: 0.4 ## Origin: https://busoni-nachlass.org/D0100012 ## License: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/ | Arnold Schönberg – – – Wien – – – IX. Liechtensteinstraße 68/70 Steinakirchen am Forst, Niederösterreich Sehr verehrter Herr Busoni, vor allem: Sie tun mir sicher Unrecht. Aber es scheint, dass man einander in der einen oder der anderen Hinsicht Unrecht tuen muss, wenn man auch dazu veranlagt ist, einander in mancher anderer Beziehung sehr gut zu erkennen. Es scheint, als ob die Bezirke zweier Individua litäten etwa so gelagert wären wie exzentrische Kreise, die sich teilweise decken. Mehr oder weniger große Flächenteile fallen zusamm, aber einander gegenüber liegen Segmente, die entgegengesetzt sind. Ich nehme das für eine natürliche Sache, die so sein muss, und halte es deswegen auch für gut. Und selbstverständlich ist dieses Diver gieren absolut nicht imstande, mein Vertrauen zu erschüttern. Im Gegen teil, dieses hat sich vermehrt, seit ich | in persönliche Berührung mit Ihnen gekommen bin. Das Gefühl, das ich von Ihrer Wesens art schon früher hatte, hat sich bestätigt. Und ich bin mir jetzt darüber ziemlich klar. Ich erkenne als einen mir unendlich wert vollen Zug Ihres Wesens: das Streben, recht zu tun! Und dieses Streben setze ich über das Rechttun, so wie ich das Streben nach Wahrheit über die Wahrheit stelle. Deshalb, wenn Sie mir auch sachlich unrecht tun, menschlich könnte mir Weniges mehr Freude machen, als, wie Sie es tun. Aber, wie gesagt: sachlich, glaube ich, haben Sie nicht recht. Ich hoffe, dass Sie es erkennen werden. Ich bin ja allerdings kein Klavierspieler. Aber nichtsdestoweniger habe ich mir eingebildet, in diesen Stücken und einigen Liedern den Grund zu einem modernen Klavierstil gelegt zu haben. Es mag das anmaßend klingen, | aber, da ich es geglaubt habe, kann nichts mich hindern, es auch zu sagen. Und ich bin wirklich mit großer Bewusstheit an diese Probleme herangegangen, habe viel über den früheren Klavierstil und die Bedürfnisse meiner Ausdrucksbestrebungen nachgedacht, und da ist mir manches klar geworden. Gewiss: auf einen Wurf gelingt sowas nicht restlos. Und: wenn die Vorzüge meines Klavierstils vielleicht auch mehr in dem bestehen, was ich nicht mache, als in dem, was ich Neues bringe, so scheint mir doch, als ob eines deutlich gewonnen wäre: Ich glaube, von jenem Stil, den ich nenne den Klavierauszug=Stil, habe ich mich deutlich genug abgewen det. Es ist ja kein Zweifel, dass der Klavierstil einer Zeit eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Orchesterstil hat. Das sieht man sogar, finde ich, bei | Mozart und Beethoven. Alle, denen der Ausdruck das Wichtigste war, haben für Klavier komponiert, indem sie komponiert haben, unter Berücksichtigung der Erfordernisse, der Bedürfnisse des Instrumentes. Das Komponieren steht im Vordergrund; das Instrument wird berücksichtigt. Nicht umgekehrt. In diesem Sinne, meine ich, könnte man Beziehungen zwischen einem moder nen Orchestersatz und meinem modernen Klaviersatz finden. Aber sonst in keinem, hoffe ich. Wenigstens war das sozusagen mein Programm: weg mit dem Klavierauszugstil; weg mit dem Klavier satz, der, das Ausdrucksvermögen und die Bewegungsmöglichkeit des Klavieres überschreitend, nichts anderes ist als eine mehr oder weniger gute Übertragung von Orchestermusik. Dagegen scheint mir nun auch Ihr | Einwand nicht berechtigt, den Sie gegen die Bezeichnung < > über liegende Akkorde machen. Diese Bezeichnung habe ich sogar erst nachträglich eingefügt und verwende sie seither immer mehr in einem ganz bestimmten Sinn. Selbstverständlich habe ich mir nicht eingebildet, dass man diese Akkorde an= und abschwellen lassen kann. Ebenso wenig, wie ich das bei anderen Gelegenheiten, wo ich Arnold Schönberg, Ausschnitt aus einer nicht ermittelten Komposition geschrieben habe (das ist zwar ein anderer Fall), an die Ausführbarkeit dieses Crescendos geglaubt habe. Die erste Bezeichnung habe ich von Brahms entnommen. Es scheint, er verwendet sie nicht so wie ich. Ich meine in diesen Fällen immer | ein sehr ausdrucksvolles, aber sehr weiches Marcato, forzato. Etwa zu vergleichen mit dieser Porta mento=Bezeichnung Portamentobezeichnung in Notenschrift oder Ähnlichem. Ich verwende sie in letzter Zeit immer in diesem Sinne. Manchmal (bei Streichern oder Bläsern) auch statt: espress. Und die zweite Bezeichnung ist natürlich auch nicht wirklich zu nehmen. Es soll das bloß ein Bild sein für die Richtung, die die Linie nimmt. Oder für den Intensitätsgrad. Mehr eine Anregung zum Verständnis der Linie als eine Vortragsbezeichnung. Und dann habe ich bei diesen Bezeich nungen noch den einen Hinterge danken: Das Klavier wird sicher | in nicht allzu langer Zeit imstande sein, all das auszuführen, was uns an ihm heute fehlt. Es ist zum Staunen, dass es das heute noch nicht kann. Und nur die Pietät, richtiger: der Konservatismus, noch richtiger aber: die Indolenz der Musiker bringt es mit sich, dass am die Klavier seit mehr als hundert Jahren keine nennenswerte Verbesserung geschehen ist. Wäre das Klavier ein wichtiges Instrument etwa der Baumwollen industrie, so wäre es längst vollkommen. Ich denke aber, das wird es doch werden. Und da sollte man doch so be zeichnen, wie man sich es heute nur scheinbar hoffnungslos wünschen kann, dass es eigentlich klingen sollte. | Nun muss ich Ihnen zum Schlusse noch sagen, dass ich mich unendlich gefreut habe, dass Ihnen das eine Stück schon gefällt. Und ich hoffe bestimmt, dass Ihnen auch das andere später gefallen wird. Mir hat auch anfangs das 12/8 (das als zweites komponiert ist) besser gefallen als das erste. Aber neulich habe ich das erste wieder angesehen: Ich glaube fast, was mir an Freiheit und Buntheit des Ausdruckes, an ungebund[en]er, durch keine Logik verhinderter Beweglichkeit der Form vorgeschwebt hat, kommt im ersten noch viel mehr heraus, als im zweiten. Erreicht habe ich, was ich mir vor stelle, […] in beiden nicht. Vielleicht, sogar sicher noch nicht in dem dritten, das dieser Tage fertig wird. Einige | Orchesterstücke, die ich in der allerletzten Zeit geschrieben, haben mich in einiger Hinsicht näher, in anderer aber wieder weitab geführt von dem, was ich schon für erreicht hielt. Greifbar ist es vielleicht noch nicht. Vielleicht brauche ich noch lange, um die Musik zu schreiben, zu der es mich drängt, die mir seit mehreren Jahren vorschwebt und die ich vorläufig nicht fassen kann. Ich schreibe darüber so ausführlich, weil ich bekennen will (angeregt durch Ihre Anmerkung: meine Musik ginge Ihnen nahe, weil Sie Ähnliches als die Aufgabe unserer nächsten Entwicklung ansehen), um was es sich mir handelt. Ich strebe an: vollständige | Befreiung von allen Formen. Von allen Symbolen des Zusammenhangs und der Logik. Also: weg von der motivischen Arbeit. Weg von der Harmonien als Zement oder Baustein einer Architektur. Harmonie ist Ausdruck und nichts anderes als das. Dann: Weg vom Pathos! Weg von den 24-pfündigen Dauermusiken; von den gebauten und konstruierten Türmen, Felsen und sonstigem gigantischen Kram. Meine Musik muss kurz sein. Knapp! In zwei Noten: nicht | bauen, sondern ausdrücken!! Und das Resultat, das ich erhoffe: keine stilisierten und sterilisierten Dauergefühle. Das gibt’s im Menschen nicht: Dem Menschen ist es unmöglich, nur ein Gefühl gleichzeitig zu haben. Man hat tausende auf einmal. Und diese tausend summieren sich so wenig, als Äpfel und Birnen sich summieren. Sie gehen auseinander. Und diese Buntheit, diese Viel gestaltigkeit, diese Unlogik, die unsere Empfindungen zeigen, diese Unlogik, die die Assoziationen auf weisen, die irgendeine aufsteigende Blutwelle, irgendeine Sinnes= oder | Nervenreaktion aufzeigt, möchte ich in M meiner Musik haben. Sie soll Ausdruck der Empfindung sein, so wie die Empfindung wirklich ist, die uns mit unserem Unbewussten in Verbindung bringt, und nicht ein Wechselbalg aus Empfindung und bewusster Logik. Nun habe ich bekannt, und man möge mich verbrennen. Sie werden nicht zu denen ge hören, die mich verbrennen; das weiß ich. Mit vielen hochachtungsvollen Grüßen bin ich Ihr herzlichst ergebener Arnold Schönberg | Der vorliegende Brief blieb aus Versehen einige Tage bei mir liegen. Inzwischen hatte ich das dritte Klavierstück (vorher habe ich ein Orchesterstück geschrieben) fertig bekommen und benütze nun gleich die Gelegenheit, es Ihnen zu senden. Ich bin sehr neugierig, wie Ihnen dieses zusagen wird. Ich selbst habe vorläufig noch kein Urteil darüber. Ich habe es, wie meist, sehr rasch geschrieben, und da muss ich mich ge wöhnlich erst selbst mich an meine Musik gewöhnen. Ich möchte noch eine Sache berühren. Sie schrieben einmal, ob ich einen Verleger habe, und fragten mich ein anderes Mal, ob Sie etwas tun könnten. Ja, das wäre mir sehr recht; ich hätte es sehr nötig, denn mit meinem bisherigen Verleger ist ja ohnehin nichts mehr für mich zu machen. Dagegen häufen sich meine ungedruckten | und unaufgeführten Werke in unheimlicher Weise. Obwohl ich nicht so viel schreibe, als ich könnte, habe ich doch nicht weniger als neun fertige ungedruckte, größtenteils umfang reichere Werke liegen. Abgesehen von jenen, die ich nicht veröffentlichen will, und einer Menge solcher, die, gegenwärtig unfertig, mut maßlich einmal vollendet werden, sind es wie gesagt neun Werke im Umfang von mehr als 400 Seiten. Da scheint mir doch, als ob ich endlich wieder einmal was heraus geben müsste. Insbesondere da einiges schon, im Verhältnis zu meinem jetzigen Entwicklungsstandpunkte, schon geradezu veraltet ist. Ich wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie Ihren Einfluss bei einem Verleger geltend machen wollten. Zunächst nun aber bin ich begierig auf Ihr Urteil über das neue Stück und wie Sie sich zur Frage meines | Klavierstils nun stellen werden. Ich empfehle mich Ihnen aufs herzlichste und bin mit vollster Hochschätzung Ihr ganz ergebener Arnold Schönberg |