Ferruccio Busoni to Hans Huber arrow_backarrow_forward

Zürich · April 13, 1919

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75.13 Aug 1919

Lieber, Verehrter,

ich zweifle nicht, dass es
bei Liszt auf Intuition ankam. Er
verwandte übrigens den liturgischen
Gesang als „Dichter“, nicht als Forscher.

Als ich d’Annunzio in Paris aufsuchte,
war er mit seinem Drama „La
Pisanella“
beschäftigt. – Auf einem
Regal stand eine ganze kleine
Bibliothek von Büchern, die von
der Geschichte Cyperns handelten,
auf welcher Insel sein Stück sich ab-
spielt. – Nur in 3 von diesen Bänden
war je eine Seite durch ein Papier-
streifen angemerkt. Ein charakterisierender
Satz, den eine solche Seite enthielt,
hatte ihm genügt, nur die Athmosphäre
des Landes u. der Zeit für seinen Zweck
zu erfassen. Das Übrige hatt er nie gelesen.

– Ein Gegenstück. In Genf gibt es
einen Professeur M., Zeichenlehrer
an der Akademie. Als er selber
dort noch Schüler war, wurde ihm
als SchlussAufgabe auftragen: die
Werkstätte eines Uhrmachers
als Bild darzustellen.

75.

Lieber, Verehrter,

ich zweifle nicht, dass es bei Liszt auf Intuition ankam. Er verwandte übrigens den liturgischen Gesang als „Dichter“, nicht als Forscher.

Als ich d’Annunzio in Paris aufsuchte, war er mit seinem Drama „La Pisanella“ beschäftigt. – Auf einem Regal stand eine ganze kleine Bibliothek von Büchern, die von der Geschichte Zyperns handelten, auf welcher Insel sein Stück sich abspielt. – Nur in drei von diesen Bänden war je eine Seite durch ein Papierstreifen angemerkt. Ein charakterisierender Satz, den eine solche Seite enthielt, hatte ihm genügt, nur die Atmosphäre des Landes und der Zeit für seinen Zweck zu erfassen. Das Übrige hat er nie gelesen.

Ein Gegenstück. In Genf gibt es einen Professeur M., Zeichenlehrer an der Akademie. Als er selber dort noch Schüler war, wurde ihm als Schlussaufgabe auftragen: die Werkstätte eines Uhrmachers als Bild darzustellen. Darauf verschwand M. auf dreiviertel Jahr, und nur die Register erinnerten sich noch des Umstandes. Am Ende des Jahres tauchte aber M. wieder auf mit einer von Studien strotzenden Mappe; mehrere hundert Blätter, worauf die geringsten Bestandteile einer Uhr einzeln und peinlich beobachtet und wiedergegeben waren. – Das Bild hat er nie gemalt.

Ich glaube, Liszt hat es eher wie d’Annunzio gemacht. Warum staunen Sie ihn gerade von dieser Seite an, der des gregorianischen Cantus? Hat er nicht von Bach – über Bellini – und Schubert und Weber – bis Wagner, alles sich zu eigen gemacht, die Volksweisen aller Völker im richtigen Geiste verarbeitet; weshalb sollte er just vor Gregor Halt machen? – Katholik war er stets, überdies, und Rom sein Aufenthalt.

Dank für Ihren teueren Brief. Vielleicht besucht Sie Frau Gerda.

Ihr herzlich und verehrungsvoll ergebener

F Busoni

13. A. 1919.
                                                                
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(2)
Darauf verschwand M. auf drei-
viertel Jahr, und nur die Register
erinnerten sich noch des Umstandes.
Am Ende des Jahres tauchte aber
M. wieder auf mit einer von
Studien strotzenden Mappe; mehrere
hundert Blätter, worauf die
geringsten Bestandtheile einer Uhr
einzeln u. peinlich beoabachtet u. wiedergegeben
waren. – Das Bild hat er nie gemalt.

Ich glaube, Liszt hat es eher
wie d’Annunzio gemacht. Warum
staunen Sie ihn gerade von dieser
Seite an, der des gregorianischen Cantus?
Hat er nicht von Bach – über Bellini
u. Schubert u. Weber – bis Wagner, Alles sich zu
eigen gemacht, die Volksweisen aller
Völker im richtigen Geiste verarbeitet;
weshalb sollte er just vonr Gregor
Halt machen? – Katholik war er stets,
überdies, und Rom sein Aufenthalt.

– Dank für Ihren theueren Brief.
Vielleicht besucht Sie Frau Gerda.

Ihr herzlich u. verehrungsvoll
ergebener

F Busoni

13. A. 1919.
                                                                
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warningStatus: unfinished XML Facsimile Download / Cite

Provenance
Schweiz | Basel | Universitätsbibliothek | NL 30 : 22:A-H:16
Condition
Der Brief ist gut erhalten.
Extent
2 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Collation
Nur die Vorderseiten beschrieben.
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift Nummerierung und Foliierung vorgenommen und das Datum auf die erste Seite übertragen hat.

Incipit
ich zweifle nicht, dass es bei Liszt auf Intuition ankam

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
in collaboration with
Revision
August 24, 2017: unfinished (currently being prepared (transcription, coding))
Direct context
Preceding Following
Near in this edition
Previous editions
Refardt 1939, S. 44 Beaumont 1987, S. 285 f.