Ferruccio Busoni to Philipp Jarnach arrow_backarrow_forward

Paris · March 10, 1920

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N.Mus.Depos. 56, 90
1
Paris 10 Mars 1920

Lieber Jarnach,

ich danke Ihnen, dafür,
dass Sie die Improvisation Busoni hatte zuvor zwei Zürcher Aufführungen seiner Improvisation für zwei Klaviere durch Jarnach und Ernst Lochbrunner verpasst (vgl. Brief an Jarnach, 1. Dezember 1919; Brief von Jarnach, 29. Januar 1920). Unter den geplanten Konzerten Busonis in Paris war kein Rezital für zwei Klaviere vorgesehen. geschickt
haben. Da wir schon beim Notenleihen
sind, so bitte ich Sie, bei nächster (Ihnen
passender) Gelegenheit, die Partitur
von van Dieren an Andreae zu geben. Um welches Werk es sich handelt, geht auch aus Busonis Briefwechsel mit Volkmar Andreae (Willimann 1994) nicht hervor. Diesen bittet Busoni, sich noch vor seiner Abreise nach London zu van Dieren als Komponist zu äußern, damit er den Kommentar – wohl an den Komponisten selbst – übermitteln könne (Brief vom 27. Mai 1920,vgl. ibid., S. 125). Gegenüber Emil Hertzka setzte sich Busoni für die Veröffentlichung zweier Werke van Dierens ein, der 6 Skizzen für Klavier sowie der (hier möglicherweise gemeinten) Carnival Ouverture für 16 Instrumente (Briefe an Hertzka vom 20. November 1919 und 5. Januar 1920, vgl. Beaumont 1987, S. 298 bzw. 303).
Ich habe versprochen, dies zu thun,
u. bin darin skrupulös. (Sie haben
sie etwa drei Monate bei sich.) Bei Beaumont 1987 (304) ist der Briefbeginn bis hierhin ausgelassen.

Ich schrieb Ihnen
vom Hôtel aus. Nun bin ich Gast
des Hôteliers in seinem PrivatHause. Seinen Gastgeber, den Hotelier Leonhard Tauber, kannte Busoni noch aus seiner Jugendzeit (vgl. Willimann 1994, S. 118 f.; Dent 1974, S. 246).
Was ich Ihnen schrieb, war mir
ganz impulsiv in den Kopf, und
von dort in die Feder gekommen.
Es war mehr eine allgemeine
Reflexion, als ein persönlicher
Wink. Beaumont 1987 (262) übersetzt „Wink“ eher im wörtlichen („gesture“) als im übertragenen Sinn („hint“). Ich hoffe, dass Sie dieses
von mir nicht als unbescheiden
empfanden.

Paris, 10 mars 1920

Lieber Jarnach,

ich danke Ihnen dafür, dass Sie die Improvisation Busoni hatte zuvor zwei Zürcher Aufführungen seiner Improvisation für zwei Klaviere durch Jarnach und Ernst Lochbrunner verpasst (vgl. Brief an Jarnach, 1. Dezember 1919; Brief von Jarnach, 29. Januar 1920). Unter den geplanten Konzerten Busonis in Paris war kein Rezital für zwei Klaviere vorgesehen. geschickt haben. Da wir schon beim Notenleihen sind, so bitte ich Sie, bei nächster (Ihnen passender) Gelegenheit die Partitur von van Dieren an Andreae zu geben. Um welches Werk es sich handelt, geht auch aus Busonis Briefwechsel mit Volkmar Andreae (Willimann 1994) nicht hervor. Diesen bittet Busoni, sich noch vor seiner Abreise nach London zu van Dieren als Komponist zu äußern, damit er den Kommentar – wohl an den Komponisten selbst – übermitteln könne (Brief vom 27. Mai 1920,vgl. ibid., S. 125). Gegenüber Emil Hertzka setzte sich Busoni für die Veröffentlichung zweier Werke van Dierens ein, der 6 Skizzen für Klavier sowie der (hier möglicherweise gemeinten) Carnival Ouverture für 16 Instrumente (Briefe an Hertzka vom 20. November 1919 und 5. Januar 1920, vgl. Beaumont 1987, S. 298 bzw. 303). Ich habe versprochen, dies zu tun, und bin darin skrupulös. (Sie haben sie etwa drei Monate bei sich.)

Ich schrieb Ihnen vom Hôtel aus. Nun bin ich Gast des Hôteliers in seinem Privathause. Seinen Gastgeber, den Hotelier Leonhard Tauber, kannte Busoni noch aus seiner Jugendzeit (vgl. Willimann 1994, S. 118 f.; Dent 1974, S. 246). Was ich Ihnen schrieb, war mir ganz impulsiv in den Kopf und von dort in die Feder gekommen. Es war mehr eine allgemeine Reflexion als ein persönlicher Wink. Ich hoffe, dass Sie dieses von mir nicht als unbescheiden empfanden.

Die Kunst hat so viele Enden, dass man von Zeit zu Zeit auf die hingewiesen werden muss, die auf der anderen Seite der eigenen Betätigung und Forschung liegen. Das gilt für alle. Darum sollen Sie meine Bemerkung – die ich auch zu meiner eigenen Befestigung aufschrieb – nicht als Rechthaberei von meiner Seite auffassen.

Nach Zürichs Sanatorium-Dasein wirkt Paris befreiend. Der Bogen der weit ausgreifenden Geste (so schrieb ich an Andreae) „Es thut mir wohl, große Verhältnisse zu sehen, im Raum und in der Verausgabung der Mittel, den Bogen der weitausgreifenden Geste, den immer übrigbleibenden Rest von Unbekanntem und Unnahbarem im Bewusstsein zu hüten, kurz: die Mystik des Unüberschaulichen um mir [sic] zu empfinden.“ (Busoni an Volkmar Andreae, Paris, 9. März 1920, zit. nach Willimann 1994, S. 118 f.). ist mir wie eine Heimkehr, so vertraut und lang entbehrt. Man zählt hier einem auch weder die Jahre an, noch was er ausgibt, noch ob er in Begleitung einer Dame gesehen wird, noch ob er ein Automobil besteigt. Ich war mit der großen Geste erzogen und konnte mich nie dareinfinden, dass sie etwas Tadelnswertes sei, wie Zürcher gelten lassen wollen.

Ich war überhaupt damit aufgewachsen, nie sichtbar werden zu lassen, ob ich arm oder reich war. (Ich war arm und galt für reich.) Nun ist mir dieses Abrechnen auf Heller und Pfennig, im Vermögen, im öffentlichen und privaten Leben, sehr verletzend. Das ist in der Schweiz normal und selbst offiziell.

Mein erster Abend – der auf meinen Brief an Sie folgte – war vibrierend und erschütternd. Ich werde ihn nie vergessen. Nicht als Virtuose, aber als Mensch empfand ich diese unbändige Hingabe eines fast fremden Publikums in einer verwöhnten und geprüften Weltstadt als wie ein Phänomen. Der Applaus dauerte den ganzen Abend von dem Schluss einer Nummer bis zum Anfang der nächsten: dazwischen die religiöseste Stille. Alle Abende sind ausverkauft, zwei additionale Recitals (26. und 27.) schon festgesetzt. Am Abend des 4. März 1920 spielte Busoni Werke von Franz Liszt im Pariser Konservatorium. Zu den geplanten Rezitals am 12. und 19. März sowie den drei geplanten Orchesterkonzerten am 14., 21. und 24. März wurden zwei weitere Rezitals am 26. und 27. März sowie ein weiteres Orchesterkonzert am 2. April anberaumt (vgl. Busonis Brief an Volkmar Andreae, 9. März 1920, in: Willimann 1994, S. 118 f.; siehe auch Beaumont 1987, S. 304, Anm. 2).

Das Wetter, bis vor vier Tagen unnatürlich heiß, hat jäh umgeschlagen: Ich habe mich dabei ernstlich erkältet.

So sitze ich zu Hause (ich bewohne zwei ganze Etagen auf der Avenue du Bois de Boulogne) und beschäftige mich in verschiedener Weise. Zum Dank an meinen Wirt versuche ich eine kleine Carmenfantasie zu konstruieren, die mich nett anregt. Die Sonatina super Carmen datiert Busoni auf den 20. März 1920. Die Originalausgabe von 1921 trägt die Widmung: „En souvenir d’éstime et de reconnaissance, à Monsieur Tauber, Paris, Mars 1920“ (vgl. Kindermann 1980, S. 342). – Aber im Hintergrunde des Bewusstseins lauert das ungeduldige Gewissen; ich sehe „la Peau de Chagrin“ ziemlich nutzlos zusammenschrumpfen; In Honoré de Balzacs Roman La Peau de chagrin geht der Protagonist einen Teufelspakt mit einem Chagrinleder ein, das ihm sämtliche Wünsche erfüllt, mit jedem Mal jedoch schrumpft und damit sein Leben verkürzt. diesem Zustande ein Ende zu bereiten, ist meine Sehnsucht, die mich – wie fast in meinem ganzen Leben – den Augenblick versäumen lässt.

Leben Sie wohl und befriedigt.

Herzlichste Grüße. Freundschaftlichst

F. Busoni

                                                                
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Die Kunst ist so hat so viele
Enden, dass man von Zeit zu Zeit
auf die hingewiesen werden muss,
die auf der anderen Seite der
eigenen Bethätigung u. Forschung
liegen. Das gilt für Alle transcription uncertain. alternative reading:
Alles
. Darum
sollen Sie meine Bemerkung – die
ich auch zu meiner eigenen Befestigung
aufschrieb – nicht als Rechthaberei
von meiner Seite auffassen.

Nach Zürich’s Sanatorium-Dasein
wirkt Paris befreiend. Der Bogen
der weitausgreifenden Geste (so
schrieb ich an Andreae) „Es thut mir wohl, große Verhältnisse zu sehen, im Raum und in der Verausgabung der Mittel, den Bogen der weitausgreifenden Geste, den immer übrigbleibenden Rest von Unbekanntem und Unnahbarem im Bewusstsein zu hüten, kurz: die Mystik des Unüberschaulichen um mir [sic] zu empfinden.“ (Busoni an Volkmar Andreae, Paris, 9. März 1920, zit. nach Willimann 1994, S. 118 f.). ist mir wie
eine Heimkehr, so vertraut und
n lang entbehrt. Man zählt hier
Einem auch weder die Jahre an,
noch was er ausgiebt, noch
ob er in Begleitung einer Dame
gesehen wird, noch ob er ein
Automobil besteigt. Ich war mit
der großen Geste erzogen, dass u. konnte mich
nie darein finden, dass sie etwas
Tadelnswerthes sei, wie Zürcher gelten
lassen wollen. Bei Beaumont 1987 (305) ohne den folgenden Absatzwechsel.

                                                                
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Ich war überhaupt damit
aufgewachsen, nie sichtbar zu
werden zu lassen, ob ich arm
oder reich war. (Ich war arm,
und galt für reich). Nun ist
mir dieses Abrechnen auf Heller
u. Pfennig, im Vermögen, im
öffentlichen u. privaten Leben,
sehr verletzend. Das ist in der
Schweiz normal u. selbst offiziell.

– Mein erster Abend – der
auf meinen Brief an Sie folgte –
war vibrirend u. erschütternd.
Ich werde ihn nie vergessen.
Nicht als Virtuose, aber als Mensch,
empfand ich diese unbändige Hin-
-gabe eines fast fremden Publikums,
in einer verwöhnten u. geprüften
Weltstadt, als wie ein Phänomen. Bei Beaumont 1987 (305) danach Absatzwechsel.
Der Applaus dauerte den ganzen
Abend von dem Schluss einer Nummer
bis zum Anfang der nächsten: Da-
-zwischen die religiöseste Stille.

                                                                
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4 Alle Abende sind ausverkauft,
zwei additionale Recitals
(26. u. 27.) schon festgesetzt. Am Abend des 4. März 1920 spielte Busoni Werke von Franz Liszt im Pariser Konservatorium. Zu den geplanten Rezitals am 12. und 19. März sowie den drei geplanten Orchesterkonzerten am 14., 21. und 24. März wurden zwei weitere Rezitals am 26. und 27. März sowie ein weiteres Orchesterkonzert am 2. April anberaumt (vgl. Busonis Brief an Volkmar Andreae, 9. März 1920, in: Willimann 1994, S. 118 f.; siehe auch Beaumont 1987, S. 304, Anm. 2).

– Das Wetter, bis vor 4 Tagen,
unnatürlich heiss, hat jäh
umgeschlagen: ich habe mich
dabei ernstlich erkältet. –

So sitze ich zu Hause
(ich bewohne zwei ganze Etagen
auf der Avenue du Bois de Boulogne)
u. beschäftige mich in verschiedener
Weise. Zum Dank an meinen
Wirth
, versuche ich eine kleine
Carmenfantasie zu konstruieren,
die mich nett anregt. Die Sonatina super Carmen datiert Busoni auf den 20. März 1920. Die Originalausgabe von 1921 trägt die Widmung: „En souvenir d’éstime et de reconnaissance, à Monsieur Tauber, Paris, Mars 1920“ (vgl. Kindermann 1980, S. 342). – Aber
im Hintergrunde des Bewusstseins
lauert das ungeduldige Gewissen;
ich sehe “la Peau de Chagrin”
ziemlich nutzlos zusammenschrumpfen; In Honoré de Balzacs Roman La Peau de chagrin geht der Protagonist einen Teufelspakt mit einem Chagrinleder ein, das ihm sämtliche Wünsche erfüllt, mit jedem Mal jedoch schrumpft und damit sein Leben verkürzt.
diesem Zustande ein Ende zu bereiten
ist meine Sehnsucht, die mich –
wie fast in meinem ganzen Leben –
den Augenblick versäumen lässt.

Leben Sie wohl und befriedigt.

Herzlicheste Grüsse. Freundschaftlichst

F. Busoni

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split"> <note type="foliation" place="top-right" resp="#archive">4</note> Alle Abende sind ausverkauft, <lb/>zwei additionale Recitals <lb/>(<date when-iso="1920-03-26/1920-03-27">26. <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> 27.</date>) schon festgesetzt. <note type="commentary" resp="#E0300616">Am Abend des <date when-iso="1920-03-04">4. März 1920</date> spielte <persName key="E0300017">Busoni</persName> Werke von <persName key="E0300013">Franz Liszt</persName> im <rs key="E0600175"><placeName key="E0500012">Pariser</placeName> Konservatorium</rs>. Zu den geplanten Rezitals am <date when-iso="1920-03-12">12.</date> und <date when-iso="1920-03-19">19. März</date> sowie den drei geplanten Orchesterkonzerten am <date when-iso="1920-03-14">14.</date>, <date when-iso="1920-03-21">21.</date> und <date when-iso="1920-03-24">24. März</date> wurden zwei weitere Rezitals am <date when-iso="1920-03-26">26.</date> und <date when-iso="1920-03-27">27. März</date> sowie ein weiteres Orchesterkonzert am <date when-iso="1920-04-02">2. April</date> anberaumt <bibl>(vgl. <persName key="E0300017">Busonis</persName> Brief an <persName key="E0300129">Volkmar Andreae</persName>, <date when-iso="1920-03-09">9. März 1920</date>, in: <ref target="#E0800058"/>, S. 118 f.; siehe auch <ref target="#E0800060"/>, S. 304, Anm. 2)</bibl>.</note> </p> <p><orig>– </orig>Das Wetter, bis vor <choice><orig>4</orig><reg>vier</reg></choice> Tagen<orig>,</orig> <lb/>unnatürlich hei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>, hat jäh <lb/>umgeschlagen: <choice><orig>i</orig><reg>I</reg></choice>ch habe mich <lb/>dabei ernstlich erkältet.<orig> –</orig></p> <p rend="indent-first">So sitze ich <rs key="E0500764">zu Hause</rs> <lb/>(ich bewohne zwei ganze Etagen <lb/>auf der <placeName key="E0500765">Avenue du Bois de Boulogne</placeName>) <lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> beschäftige mich in verschiedener <lb/>Weise. Zum Dank an <rs key="E0300640">meinen <lb/>Wirt<orig>h</orig></rs><orig>,</orig> versuche ich eine kleine <lb/><hi rend="underline"><title key="E0400479"><title key="E0400483">Carmen</title>fantasie</title></hi> zu konstruieren, <lb/>die mich nett anregt. <note type="commentary" resp="#E0300616">Die <title key="E0400479">Sonatina super <title key="E0400483">Carmen</title></title> datiert <persName key="E0300017">Busoni</persName> auf den <date when-iso="1920-03-20">20. März 1920</date>. Die Originalausgabe von <date when-iso="1921">1921</date> trägt die Widmung: <q>En souvenir d’éstime et de reconnaissance, à <persName key="E0300640">Monsieur Tauber</persName>, <placeName key="E0500012">Paris</placeName>, <date when-iso="1920-03">Mars 1920</date></q> <bibl>(vgl. <ref target="#E0800121"/>, S. 342)</bibl>.</note> – Aber <lb/>im Hintergrunde des Bewusstseins <lb/>lauert das ungeduldige Gewissen; <lb/>ich sehe <title rend="dq-uu" key="E0400532" xml:lang="fr">la Peau de Chagrin</title> <lb/>ziemlich nutzlos zusammenschrumpfen; <note type="commentary" resp="#E0300616">In <persName key="E0300345">Honoré de Balzacs</persName> Roman <title key="E0400532">La Peau de chagrin</title> geht der Protagonist einen Teufelspakt mit einem Chagrinleder ein, das ihm sämtliche Wünsche erfüllt, mit jedem Mal jedoch schrumpft und damit sein Leben verkürzt.</note> <lb/>diesem Zustande ein Ende zu bereiten<reg>,</reg> <lb/>ist meine Sehnsucht, die mich – <lb/>wie fast in meinem ganzen Leben – <lb/>den Augenblick versäumen lässt.</p> <closer> <salute>Leben Sie wohl und befriedigt.</salute> <salute rend="indent-2-first">Herzlich<subst><del rend="overwritten">e</del><add place="across">s</add></subst>te Grü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>e. Freundschaftlichst</salute> <signed rend="align(right)"><persName key="E0300017">F. Busoni</persName></signed> </closer> </div>
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8Diplomatic transcription
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[Rückseite von Textseite 4]
(Paris)
10 März 20
4 Blätter
Busoni an Ph. Jarnach
Nr. 2
                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="objdesc" resp="#E0300616">[Rückseite von Textseite 4]</note> <note xml:id="unknown_date" type="annotation" place="bottom-left" rend="small rotate(180)" resp="#unknown_hand"> (<placeName key="E0500012">Paris</placeName>) <lb/><handShift new="#gerda.busoni"/><date when-iso="1920-03-10" xml:id="gerda_date">10 März 20</date> <lb/><handShift new="#unknown_hand"/><hi rend="underline">4 Blätter</hi> </note> <note type="annotation" place="bottom-right" rend="small rotate(180) indent-2" resp="#unknown_hand"> <hi rend="underline"><persName key="E0300017">Busoni</persName> an <persName key="E0300376"><abbr>Ph.</abbr> Jarnach</persName></hi> <lb/><seg rend="indent huge square border">Nr. 2</seg> </note> </div>

Document

doneStatus: candidate XML Facsimile Download / Cite

Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Depos 56,90 |

proof Kalliope

Condition
Der Brief ist gut erhalten.
Extent
4 Blatt, 4 beschriebene Seiten
Collation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand Gerda Busonis, die auf der Rückseite mit Bleistift das Datum notiert hat
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat
  • Unbekannte Hand, die auf der Rückseite mit Bleistift die Zuordnung zum Jarnach-Briefwechsel und eine Nummerierung vermerkt hat
Image source
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 12345678

Summary
Busoni dankt für die Zusendung seiner Improvisation für zwei Klaviere; bittet um Übergabe einer Partitur Bernard van Dierens an Volkmar Andreae; relativiert seine Kritik an Jarnachs Kompositionsstil; stellt Zürichs Sanatorium-Dasein“ das als „befreiend“ erlebte Paris gegenüber; berichtet von seinem erfolgreichen ersten Pariser Konzertabend; entwirft für seinen Gastgeber Leonhard Tauber eine Sonatina super Carmen.
Incipit
ich danke Ihnen dafür, dass Sie die Improvisation

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
December 22, 2021: candidate (coding checked, proofread)
Direct context
Preceding Following
Near in this edition
Previous editions
Beaumont 1987, S. 304 f.