Mus.ep. H. Huber 77 (Busoni-Nachl. B II)
[1]
Locarno 5/2 18
(? – 5.3.)
Der Poststempel weist den 5. März als Versanddatum aus; zudem antwortet Huber auf den [Brief vom 3. März.](#D0100179) Huber datiert also irrtümlich auf Februar 1918.
Mein lieber Freund!
Die Kunde von Ihrer unzeitgemäßen
Erkrankung drang von allen
Seiten &und Leuten zu mir ins Teßssin!
Betrachten Sie das Geschick als eine
wahrscheinlich nöthige Ausschaltung
der physischen Anstrengungen &und als
kurze Pause des Unkörperlichen!
Mit der Bekan̅nntschaft Ihres
sympathischen Freundes Rubiner
Offenbar lernte Huber Ludwig Rubiner erst in Locarno kennen. Vgl. hierzu die Kommentierung des [vorangegangenen Briefs](#D0100179).
verband ich logischerweise auch die
Ken̅tnißnntnisnahme der letzten Tagebücher
von Tolstoi.
Rubiner hatte soeben eine Auswahl aus den Tagebüchern von Tolstoi unter dem Titel Leo Tolstoi – Tagebuch 1895–1899 herausgegeben und mit einem Vorwort versehen.
Neben hohen &und tiefen
Gedanken, die dieser slavwische Prophet
niederschreibt, finde ich doch sehr
Vvieles, zu dem ich weder einen Anschlußss
noch nur ein sypimples Verhältnißs
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2303
anbinden möchte. Für mich, der
zudem die lyrische Philosophie
haßsst, besitzt Tolstoi in seinem
Denken zu viel von der Naivität
der Alttestamentler oder zu wenig
von der Induktionslehre eines
Sockrates
Der Schluss von Einzelbeobachtungen auf eine übergeordnete, allgemeine Gesetzmäßigkeit wird in der wissenschaftlichen Theorie als Induktion bezeichnet. Sokrates folgte diesem Ansatz, indem er aus Einzelfällen allgemeine Begriffe abzuleiten versuchte (, S. 741).
– item
Lat.: ebenso, desgleichen; hier im Sinne von kurzum.
menschlicher gesagt:
ich kan̅nn das Gefühl des Dilettantischen
&und Autodidaktischen nicht überwinden.
Was, wäre Tolstoi in Deutschland
oder in England geboren? Man
mußss seine eigene Naivität nicht
preisgeben &und sich den Werken dieser
Rußssen gegenüber ungefähr so gebeärden,
wie ich es einem Schönberg gegenüber
thue., zu deßssen letzten Dingen ich mich
absolut ablehnend verhalte, so gut
mir einige frühere Werke gefallen, weil
ich in der Entwicklung des Künstlers
keinen Zug ins Große mehr ent
[2]
decken kan̅ &nn und mich
A
a
lles Spätere, speckulativ
empfunden, anwiedert.
Hubers Kritik an Schönberg mag sich, da dieser von 1912 bis 1923 kaum Werke vollendete, auf die Schaffensperiode zwischen 1907 und 1909 beziehen, in welcher Schönberg mit op. 10 den Schritt in die Atonalität gewagt hatte. Auch die Reihe von Skandalen, welche Aufführungen von Schönbergs Werken zwischen 1905 und 1913 in Wien hervorgerufen hatten (vgl. [Brief Schönbergs vom 20. Juli 1909](#D0100008)), mögen hier eine Rolle spielen (vgl. , Sp. 1587 ff.). Inwieweit Huber mit Schönbergs Werken (und mit welchen) genauer vertraut war, ist bisher nicht erforscht.
R.Robert Freund schrieb mir vor einiger
Zeit zwei Briefe mit ckontentem,Nach lat./frz. content(us): froh, zufrieden.
ckonkretem, sein
Alter mit Dignität behandelnden
Inhalts.
Weder über das [Findbuch des Huber-Nachlasses](http://www.ub.unibas.ch/digi/a100/kataloge/nachlassverzeichnisse/IBB_5_000069548_cat.pdf) noch über das [Nachlassverzeichnis Freunds](https://www.zb.uzh.ch/Medien/spezialsammlungen/musik/nachlaesse/freund.pdf) lässt sich die erwähnte Korrespondenz zwischen Huber und Freund nachweisen. Der langjährige Freund Hubers brachte mehrere von dessen Werken als Solist zur Uraufführung (, S. 24), u. a. das Zweite und Dritte Klavierkonzert (, S. 147 f.).
Aus Letzterem freute mich
namentlich eine prächtige Schätzung
Ihrer Kunst, Ihres Gesam̅mmmtwerkes &und
Ihrer Persönlichkeit.
Busoni stand selbst in intensivem Austausch mit Robert Freund, wie die 65 Briefe fassende Korrespondenz im Nachlass Busonis erkennen lässt. Auszüge wurden bereits veröffentlicht (vgl. ).
In meiner Antwort
betonte ich namentlichvor allen Dingen die Bitte,
doch wieder in seine eigentliche Heimat
zurückzukehren, in derindem es zu den
ersten Regeln der Lebensweisheit gehört,
über Fehlendes, namentlich wen̅nn es
nicht schwerer wiegt als das Gute,
das ja in diesem Falle genügend
vorhanden ist, hinwegsehen zu lernen.
Mit meinem symphonischen
Oratorium mache ich nur in̅nnerlich
Fortschritte; vor allen Dingen bin ich
jetzt über das Formale sicher; im Kopfe
befestige ich das Motivische, der für
solche Dinge ein gutes Gedächtnißs
einschließt, so daßss ich Werke jahrelang
fertig aufbewahren kan̅nn. Aus
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
exegetischen Gründen schickte ich den
Text noch einmal an einen gelehrten
Pater in Soletta, um denselben nach
der
Vulgata &und den liturgischen Büchern
einzuschätzen.
Huber hatte Dompropst Karl Arnold Walther um Hilfe bei der Zusammenstellung der Texte zu seinem unvollendet gebliebenen Oratorium Mors et vita gebeten (, S. 14 f.). Walther, ein enger Jugendfreund Hubers aus Solothurn und Widmungsträger der Missa in honorem Sancti Ursi, konnte die Redaktion der liturgischen Texte für Mors et vita durch den Tod Hubers nicht mehr abschließen, konstatierte jedoch später, dass es vielleicht so besser war, denn die lebendige Schöpferkraft des Musikers war versiegt, der Erfolg wäre diesem Werke versagt gewesen.
(, S. 2).
–
Noch eine Frage! Darf ich Ihnen im
Som̅mmer einige Freude bringende
Schüler zu Ihrem pädagogischen
Nachmittage in Zürich schicken?
Offenbar handelte es sich (zumal Nachweise fehlen) nicht um einen öffentlichen Meisterkurs, sondern um Unterricht für einen exklusiven Kreis von Schülern, möglicherweise im Hause Busonis; gegenüber Verpflichtungen als Pädagoge eher abgeneigt (, S. 150), konzentrierte sich Busoni lieber auf ausgewählte Schüler in privatem Umfeld (, S. 150 ff.). Möglicherweise fand der pädagogische Nachmittag
am 8. April u. a. mit Hubers Schüler Franz Josef Hirt statt (vgl. den [folgenden Brief](#D0100181)).
–
Damit lenke ich wieder ins
tägliche Brodtgebiet über, das Brodt,
das sogar in der Schweiz je länger je
schlechter wird &und für das man kein
beßsseres Surrogat einsetzen kan̅nn,
als die Gesundheit, welche ich uns
Bbeiden mit Inbrunst herwünsche.
Damit aber noch viele herzliche
Grüße
Ihr erg.ergebener und in Treuen
Hans Huber