Mus.Nachl. F. Busoni
B II, 4555
Mus.ep. A. Schönberg 16
(Busoni-Nachl.B II)
29/.8.1911
Berg am Starnberger- See
bei Zimmermeister Widl, Bayern
Verehrter
(186) und (185): Verehrter
. Herr Busoni, ich erfuhr, daßss Sie sich für die UeÜber
siedlung nach Berlin, die man mit mir vor hat, interessieren.
Schönbergs wirtschaftliche Situation in in Wien war trotz eines Zuwachses an Schülern und wachsender Bekanntheit alles andere als gesichert; die erhoffte Professur an der Wiener Akademie bliebt ihm (vermutlich aus antisemitischen Gründen) zunächst verwehrt (, S. 128 ff.). Von Berlin erhoffte er sich eine wesentliche pekuniäre Verbesserung und besonders die Möglichkeit, Anerkennung (vgl. , S. 60) sowie neue Wege zur künstlerischen Entwicklung zu finden (, S. 60 ff.). Die Bekanntschaft mit Kandinsky und Reinhardt sowie der Tod Mahlers mögen die Entscheidung ebenfalls beeinflusst haben (, S. 133 f.). Dabei scheint Schönberg lange fest mit einer Rückkehr nach Wien gerechnet zu haben ([Brief von Schönberg an Bopp vom 22. August](#7933)). Die endgültige Entscheidung für Berlin fiel erst aufgrund des erfolgreichen [Aufrufs](https://archive.org/stream/Pan1910-111.jgnr.1-22?ui=embed#page/n784/mode/1up) im Pan (vgl. Kommentierung des [Briefes vom 16. September](#D0100025) sowie , S. 105). Dass Schönberg hier eine passivische Formulierung wählt, mag auf die vorangegangenen Bemühungen seiner Berliner Unterstützer anspielen (vgl. [Brief von Clark an Schönberg vom 9. Juni 1911](#20358)).
Da jetzt durch ein unglückseliges Ereignis zu dieser Angelegenheit
ein beschleunigendes Element hinzugetreten ist, das eine
Situation erzeugt hat, zu deren Entwirrung eine starke Hand
nötig ist, wende ich mich an Sie.
Ich kann Ihnen die ganze Geschichte nicht erzählen; sie
ist zu lang und zu unglaublich. Ich sage morgen alles
Fried, der Ihnen Bberichten wird.
Fried, der mit Schönberg und Busoni bekannt war und sich stark für eine Förderung der Werke beider einsetzte (, Sp. 130), stand bereits im Juli und August mit Schönberg bezüglich einer möglichen Übersiedlung nach Berlin in Kontakt (vgl. Frieds Briefe an Schönberg vom [6.](#20877), [11.](#20881) und [26. Juli](#20882) sowie vom [23. August](#20885)). Am 31. August traf Fried Schönberg in München, wo dieser Reinhardt kennenlernte (, S. 130). Fried scheint direkt im Anschluss nach Berlin zurückgekehrt zu sein; mit Busoni stand er gewiss aufgrund der bevorstehenden Aufführung der Turandot-Musik (, S. 37) in enger Verbindung (vgl. hierzu Kommentierung des Briefes vom [19. September 1911](#D0100026)).
Die Hauptsache ist
fFolgendes: Ein mit mir im selben Hause in Wien wohnender
Unmensch, der zweifellos wahnsinnig ist (was sich aber
vorderhand ärztlich nicht konstatieren läßt)sst), bildet sich
ein, daßss er mich umbringen mußss. Was er als Grund
für seine Wut angiebtbt, sind Lügen, aber selbst
(186) und (186): selbst
.
als solche
so belanglos, daßss sie diese Wut, die mir nach
dem Leben trachtet, nicht zu rechtfertigen geeignet
istsind. Der Gefahr, entweder selbst umgebracht, zu werden
oder wegen UeÜberschreitung der Notwehr eingesperrt
zu werden, und den damit verbundenen Aufregungen,
mußsste ich, nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, mir
durch die Behörden, oder sogar durch den Revolver,
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
[1]
Ruhe und Sicherheit zu verschaffen, am 4. August
mich durch eine Flucht mit meiner Familie vor
läufig z entziehen. Deshalb kam ich hieher.
(186) und (186): hierher
.
In den Wochen vor Schönbergs Abreise war es mehrfach zu hitzigen Auseinandersetzungen mit dem Ingenieur van Wouvermans gekommen; Gegenstand der Auseinandersetzung war dessen Behauptung, die damals neunjährige Gertrude Schönberg habe einen schlechten Einfluss auf dessen Kinder. Nach zahlreichen Beschwerden gegen Wouvermans wurde dessen Mietvertrag am 4. August 1911 gekündigt, woraufhin der Streit eskalierte und Schönberg mithilfe einer von Polnauer besorgten Pistole den Ingenieur davon abhalten musste, in seine Wohnung einzudringen (, S. 57). Daraufhin reiste Schönberg zunächst alleine nach Berg ab – Mathilde sowie die Kinder Gertrude und Georg konnten erst einige Tage später nachkommen (, S. 129 f.).
Nun aber hoffte ich, die Angelegenheit durch den
Advokaten inzwischen in Ordnung zu bringen, sehe
aber nach mehreren hin und her=SchreibereienHin-und-Her-Schreibereien, daßss
ich keine Aussicht habe, mir den zweifellos Tob
süchtigen, der einstweilen noch weiter tobt!!!,
vom Hals
(186) und (186): Halse
.
zu schaffen.
So kann ich also nicht nach Wien
zurück!! Und deshalbSo ist die Frage meiner
UeÜbersiedlung durch diesen Unglücksfall, der
die force majeure
Frz.: höhere Gewalt
.
spielt, nicht mehr von meinem
Willen abhängig, sondern ich stehe unter einem
Zwang.
Trotzdem könnte ich nicht ohne weiteres einen
so tollkühnen Streich, wie es diese UeÜber
siedlung mit meiner Familie wäre, unternehmen,
ohne daßss ich eine Sicherheit habe, daßss ich
wenigstens eine Saison, solange bis ich mich
eingearbeitet habe, in Berlin zuschauen kann.
Lieber Herr Busoni, mißssverstehen Sie mich nicht:
das ist kein genialer Streich; kein Versuch, auf
fremde Kosten schmarotzen zu wollen! keine Absicht,
nicht arbeiten zu wollen und dgldergleichen mehr. Im Gegen
teil: ich bin wohl einer der arbeitsamsten Men
schen, die es heute giebt! Wenn ich also so etwas
fordern mußss, was die OeÖffentlichkeit mir
wegen meiner Leistungen wohl bewilligen sollte,
ohne daßss ich darum bitte, so tue ich es mit größtem
Widerstreben! Trotzdem ich ein Anrecht darauf
fühle!!
(186), (186) und (410) fälschlich: hätte
(bzw. should have
).
Nun aber steht die Sache so: Mein Geld
geht zu Ende.
Schönbergs finanzielle Situation hatte sich in den vergangenen Jahren zwar u. a. durch einen Zuwachs von Schülern verbessert, die wirtschaftliche Sicherung der Familie reichte dennoch gerade für die nächsten Monate aus. Im Sommer 1911 verschlimmerte sich die Lage durch die niedrigen Verkaufszahlen der Werke Schönbergs beim Verlag Dreililien; auch das für die musiktheoretischen Kurse an der Wiener Akademie gewährte Gehalt in Höhe von 400 Kronen reichte für eine finanzielle Stabilisierung nicht aus. Der ungeplante Aufenthalt der gesamten Familie in Berg erforderte das Eingreifen von Unterstützern (, S. 119 ff.).
Ich hatte diese
(186), (186) und (410) fälschlich: die
(bzw. the high costs
).
hohen Kosten, die
mich sonst ruiniert hätten, durch Freunde auf
gebracht, und nur so war es mir möglich,
vom 4. August bis jetzt hier zu leben.
Kurzfristig hatte Webern eine Summe von 1000 Kronen organisiert, zu denen er selbst, Berg, Jalowetz, Horwitz und Stein jeweils 200 Kronen beigetragen hatten. Schönberg hatte die Summe am 18. August erhalten (, S. 46). Außerdem hatte sich Schönberg an Hertzka mit der dringenden Bitte gewandt, ihm kurzfristig 1500 Kronen zur Verfügung zu stellen ([Brief von Schönberg an Hertzka vom 23. Juli 1911](#6698)). Dieser versprach unter Auflagen, 1000 Kronen auszuhändigen ([Brief von Hertzka an Schönberg vom 25. Juli 1911](#23512)); Cassirer versprach dieselbe Summe, Schönberg hatte 2000 gefordert (, S. 130). Des weiteren ging ein Gesuch an Bahr, mithilfe von Mäzenen 6000 Kronen im Jahr bereitzustellen (, S. 56).
Anfangs September müßsste ich in Wien
sein; Aaber ich kann nicht. Und d in 14
Tagen werde ich nicht mehr das Geld zur
Rückfahrt haben.
Bitte:, mißssverstehen Sie mich nicht:
Ich pumpe Sie nicht an; im Gegenteil,
[2]
ich wünsche sogar, daßss Sie sich selbst an
der Geldbeschaffung nur durch Ihren Einflußss
beteiligen und sonst durch nichts!!!!
Busoni setzte sich in seinem weitläufigen Bekannten- und Freundeskreis stark für Schönberg ein (, S. 143, 204), neben Kerr, Cassirer (, S. 136) u. a. auch bei van Dieren und Petri. Steuermann vermittelte er als Schüler an Schönberg (, S. 143). Der wichtigste Kontakt dürfte jedoch derjenige zur damaligen Leiterin der Konzertagentur Wolff, Frau Luise Wolff, gewesen sein, die sich sofort zur Unterstützung Schönbergs bereiterklärte. Durch ihre Vermittlung führten in den kommenden Jahren u. a. Nikisch, Siloti, Mysz-Gmeiner oder das Rosé-Quartett Werke von Schönberg auf bzw. vermittelten weitere Aufführungsmöglichkeiten (, S. 136 f.).
Aber um daßs
(187) und (187): das
.
bitte ich Sie: Ich habe keine
Woche mehr Zeit,
(187) und (187) mit Komma.
aber schreckliche Sorgen um
die Zukunft. Schließlich, wir sind vier Per
sonen; das ist nicht so einfach! Und warum
soll ich, der Werte schafft, im Dreck leben!
Ich bitte Sie also um Eeines: tTun Sie
das Äußerste bei Ihren Freunden und Be
kannten für mich, aber vor Aallem:
tun Sie es rasch!!
Es tut mir furchtbar leid, daßss ich Ihnen
mit solchen Sachen kommen mußss. Aber
ich meine: einem Künstler, das ist einer, der
ein Vollmensch ist, kann man mit Aallem
kommen. Und ich soll mich doch hoffentlich nicht
an die Feinde wenden.
Es ist unklar, ob Schönberg hiermit auf konkrete Personen anspielt oder lediglich eine mögliche Abkehr von seinen Umzugsplänen andeuten möchte.
Ich hoffe, bald Nachricht von Ihnen zu
haben, und bin mit vielen herzlichen Grüßen
Ihr Arnold Schönberg
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Nachlaß Busoni