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Zurich, 29 Mai 1920
Sehr verehrter Herr Bekker,
gestern – gleich nach
Empfang Ihres Briefes – depeschierte ich an Sie:
‹dankend für freundschaftliche Haltung er- ‹bitte freundliche Mühe eingeschriebener Rücksendung
‹Manuskriptes.›
Vgl. Busonis Telegramm vom Tag zuvor, in dem er um Rücksendung seines „Bayreuther Briefes“ bat (Anlage zu Busonis Schreiben vom 14. Mai 1920). Bekker kam dem Wunsch umgehend nach (vgl. nachfolgender Brief).
— An dieser Rücksendung
ist mir um so mehr gelegen, als ich einen nur
unvollständigen Entwurf des „Bayreuther Briefes“
So bezeichnet von Bekker in seinem Schreiben vom 23. Mai 1920.
besitze, in den ich überdies Manches ein u. zu zu
-fügen beabsichtige.
Gemeint ist sehr wahrscheinlich die im Busoni-Nachlass überlieferte Fassung B des „Bayreuther Briefes“ (D-B, Mus.Nachl. F. Busoni C I, 157B, Digitalisat der Staatsbibliothek zu Berlin).
(Vorläufig für mich.) Denn
es ist ein Fehler, den ich sowohl als Schreiber wie auch
als Komponist begehe, dass ich nur die Summe meiner
Betrachtungen (oder Eingebungen) hinstelle, und dem
Leser – oder Hörer – die Arbeit zumuthe, die Komponenten
der Summe zu rekonstruieren, die zu meinem Ergebnis
ihn führen sollen. — Schon dieses eine Princzip
(das bei mir eine gefühlte Notwendigkeit ist) steht
zur Umständlichkeit Wagner’s im Gegensatz .....
Aber ich gebe zu, dass
meine Art leicht zum Misverständnis, im besseren
Falle nicht zum vollen Verständnis meines In- -haltes leitet. So enthält der Bayreuther Brief
im Grunde Nichts, das nicht in meinem Kl.
Entwurf einer neuen Tonkunst und selbst in
dem Brief für die Frkf. Ztg.
Bezieht sich auf Busonis Schreiben vom 20. Januar 1920, in dem er erstmals seine Vision einer „jungen Klassizität“ verbalisierte; der Brief wurde wenig später in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht (vgl. Busoni 1920c).
schon enthalten wäre:
zwei Schriften, die Ihre Zustimmung fanden; –
allerdings ist es auch hier die Arbeit des Lesers,
aus dem Gesagten das Unausgesprochene zu folgern.
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Zürich, 29. Mai 1920
Sehr verehrter Herr Bekker,
gestern – gleich nach
Empfang Ihres Briefes – depeschierte ich an Sie:
‚dankend für freundschaftliche Haltung erbitte freundliche Mühe eingeschriebener Rücksendung
Manuskriptes.‘
Vgl. Busonis Telegramm vom Tag zuvor, in dem er um Rücksendung seines „Bayreuther Briefes“ bat (Anlage zu Busonis Schreiben vom 14. Mai 1920). Bekker kam dem Wunsch umgehend nach (vgl. nachfolgender Brief).
— An dieser Rücksendung
ist mir umso mehr gelegen, als ich einen nur
unvollständigen Entwurf des „Bayreuther Briefes“
So bezeichnet von Bekker in seinem Schreiben vom 23. Mai 1920.
besitze, in den ich überdies manches ein- und zuzufügen beabsichtige.
Gemeint ist sehr wahrscheinlich die im Busoni-Nachlass überlieferte Fassung B des „Bayreuther Briefes“ (D-B, Mus.Nachl. F. Busoni C I, 157B, Digitalisat der Staatsbibliothek zu Berlin).
(Vorläufig für mich.) Denn
es ist ein Fehler, den ich sowohl als Schreiber wie auch
als Komponist begehe, dass ich nur die Summe meiner
Betrachtungen (oder Eingebungen) hinstelle und dem
Leser – oder Hörer – die Arbeit zumute, die Komponenten
der Summe zu rekonstruieren, die zu meinem Ergebnis
ihn führen sollen. — Schon dieses eine Prinzip
(das bei mir eine gefühlte Notwendigkeit ist) steht
zur Umständlichkeit Wagners im Gegensatz …
Aber ich gebe zu, dass
meine Art leicht zum Missverständnis, im besseren
Falle nicht zum vollen Verständnis, meines Inhaltes leitet. So enthält der Bayreuther Brief
im Grunde nichts, das nicht in meinem kleinen
Entwurf einer neuen Tonkunst und selbst in
dem Brief für die Frankfurter Zeitung
Bezieht sich auf Busonis Schreiben vom 20. Januar 1920, in dem er erstmals seine Vision einer „jungen Klassizität“ verbalisierte; der Brief wurde wenig später in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht (vgl. Busoni 1920c).
schon enthalten wäre:
zwei Schriften, die Ihre Zustimmung fanden; –
allerdings ist es auch hier die Arbeit des Lesers,
aus dem Gesagten das Unausgesprochene zu folgern.
Ich glaube, dass der, der einen Raum
von außen kommend betritt, den vollen
und widrigen Druck der eingeschlossenen Luft
wahrnimmt; während die darin Eingefangenen
dagegen verstumpft sind. So geschaut, ist
meine „Begrenztheit“ eine „Unbefangenheit“.
Ihre zweite Einwendung fällt
insoweit richtig, als sie die „realpolitischen“
Folgen dieser meiner Unbefangenheit betrifft:
Dass diese Bedenken Sie um meinetwillen besorgt
machen, schätze ich eben als die „freundschaftliche
Haltung“, die das Telegramm dankend erwähnt.
Allein, Sie sind unvollkommen
unterrichtet, wenn Sie a priori annehmen,
dass keiner sich auf meine Seite stellte.
Auf ein befreiendes Wort in unserer Frage
wartet so mancher vergeblich: Ich begegnete
und sprach auch eine Anzahl junger Männer,
die erst zwischen ihrem zwanzigsten und dreißigsten
Jahre zum ersten Male „Wagner“ hörten und sahen.
Sie waren sämtlich nicht nur enttäuscht und
geärgert, sondern ich merkte überdies, dass
die gesamte Angelegenheit ihnen schon fern,
überwunden und gleichgültig erschien; als wie
Leuten, die an eigenen und ganz anderen
Ideen und Zielen zu schaffen haben. (Anders
steht der Eindruck mit jungen Frauen:
Die untätige Erotik bestrickt sie bis
zur Widerstandslosigkeit.)
Sofern also meine Wirkung auf die
neue männliche Generation berechnet
wäre, so schiene mir selbst, dass
„keine absolut notwendige Tat“
damit vollführt würde: Das Argument
interessierte sie nicht mehr.
Es ist auch keine Tat
und – wie mein Begleitschreiben Ihnen erläutern wollte – auch keine momentane
Aufwallung: sondern „ad litteram“
ad litteram [lat.]: buchstäblich
der
Ausbruch eines 40 Jahre lang verhaltenen
Leidens.
Im hier referierten Schreiben äußerte sich Busoni bereits ganz ähnlich: Was in seinem Bayreuther Brief „zu lesen steht, [sei] nicht die Frucht momentaner Aufwallung, sondern eines lebenslangen Leidens“ (siehe Busonis Brief vom 14. Mai 1920).
Ich war 14, als es begann, und
es gab ein ganzes Leben lang kein Entrinnen, keine Pause. Üppig und breit
wie Wagners Stil, ließ auch seine Herrschaft kein noch so winziges Eckchen
unausgefüllt.
Nein, ich habe Sie nicht missverstanden
und Ihre gewiss lautere Absicht erkannt.
Aber missverstehen auch Sie mich nicht:
Könnten Sie, bei der Schätzung, die Sie mir
schenken, erwarten, dass ich – sollte ich
wirklich in Deutschland und an hervorstechender
Stelle tätig sein dürfen – mit einer Lüge
beginnen würde? Und überdies: Was Ihrem
Glauben wie Verbitterung und Gewaltsamkeit
klingt, wird vielleicht einem späteren Glauben
die einfache Feststellung eines historisch, d. i.
indifferent gewordenen Falles.
Ihre freundlichen Wünsche und Grüße
herzlichst erwidernd, verbleibe ich
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<placeName key="E0500132">Z<choice><orig>u</orig><reg>ü</reg></choice>rich</placeName>, <date when-iso="1920-05-29">29<reg>.</reg> Mai 1920</date>
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<salute rend="indent-2-first space-below">Sehr verehrter Herr <persName key="E0300111">Bekker</persName>,</salute>
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— An dieser Rücksendung
<lb/>ist mir um<orig> </orig>so mehr gelegen, als ich einen nur
<lb/>unvollständigen Entwurf des <q rend="dq-du"><placeName key="E0500027">Bayreuther</placeName> Briefes</q>
<note type="commentary" resp="#E0300361">
So bezeichnet von <persName key="E0300111">Bekker</persName> in seinem <ref target="#D0100406">Schreiben vom <date when-iso="1920-05-23">23. Mai 1920</date></ref>.
</note>
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Gemeint ist sehr wahrscheinlich die im <persName key="E0300017">Busoni</persName>-Nachlass überlieferte Fassung B des <q><placeName key="E0500027">Bayreuther</placeName> Briefes</q> (D-B, Mus.Nachl. F. Busoni C I, 157B, <ref type="ext" target="http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB000237CB00000021">Digitalisat</ref> der Staatsbibliothek zu <placeName key="E0500029">Berlin</placeName>).
</note>
<!-- lt. Kalliope wurde der Brief veröffentlicht => Joseph Willimann in: Festschrift "10 Jahre Paul-Sacher-Stiftung" (1996)
* gemeint ist vmtl. folgendes Buch:
Klassizistische Moderne: eine Begleitpublikation zur Konzertreihe im Rahmen der Veranstaltungen "10 Jahre Paul-Sacher-Stiftung". Werkeinführungen, Essays, Quellentexte, hrsg. von Felix Meyer
* @ Muwi-Bib verfügbar: Freihand LP 19507 M612 -->
(Vorläufig für mich.) Denn
<lb/>es ist ein Fehler, den ich sowohl als Schreiber wie auch
<lb/>als Komponist begehe, dass ich nur die Summe meiner
<lb/>Betrachtungen (oder Eingebungen) hinstelle<orig>,</orig> und dem
<lb/>Leser – oder Hörer – die Arbeit zumut<orig>h</orig>e, die Komponenten
<lb/>der Summe zu rekonstruieren, die zu meinem Ergebnis
<lb/>ihn führen sollen. — Schon dieses eine Prin<subst><del rend="overwritten">c</del><add place="across">z</add></subst>ip
<lb/>(das bei mir eine gefühlte Notwendigkeit ist) steht
<lb/>zur Umständlichkeit <persName key="E0300006">Wagner</persName><orig>’</orig>s im Gegensatz <choice><orig>.....</orig><reg>…</reg></choice></p>
<p rend="first-right">Aber ich gebe zu, dass
<lb/>meine Art leicht zum Mis<reg>s</reg>verständnis, im besseren
<lb/>Falle nicht zum vollen Verständnis<reg>,</reg> meines In
<lb break="no" rend="after:-"/>haltes leitet. So enthält der <placeName key="E0500027">Bayreuther</placeName> Brief
<lb/>im Grunde <choice><orig>N</orig><reg>n</reg></choice>ichts, das nicht in meinem <choice><abbr>Kl.</abbr><expan>kleinen</expan></choice>
<lb/><rs key="E0400043">Entwurf einer neuen Tonkunst</rs> und selbst in
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<note type="commentary" resp="#E0300361">
Bezieht sich auf <persName key="E0300017">Busonis</persName> <ref target="#D0100404">Schreiben vom <date when-iso="1920-01-20">20. Januar 1920</date></ref>, in dem er erstmals seine Vision einer <q>jungen Klassizität</q> verbalisierte; der Brief wurde wenig später in der <orgName key="E0600070"><placeName key="E0500153">Frankfurter</placeName> Zeitung</orgName> veröffentlicht (vgl. <bibl><ref target="#E0800320"/></bibl>).
</note>
<hi rend="underline">schon enthalten</hi> wäre:
<lb/>zwei Schriften, die Ihre Zustimmung fanden; –
<lb/>allerdings ist es auch hier die Arbeit des Lesers,
<lb/>aus dem Gesagten das Unausgesprochene zu folgern.</p>
</div>
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Ich glaube, dass der, der einen Raum
von Aussen kommend betritt, den vollen
u. widrigen Druck der eingeschlossenen Luft
wahrnimmt; während die darin Ein-Gefangenen
dagegen verstumpft sind. So geschaut, ist
meine „Begrenztheit“ eine „Unbefangenheit.“
Ihre zweite Einwendung fällt
insoweit richtig, als sie die „realpolitischen“
Folgen dieser meiner Unbefangenheit betrifft:
dass diese Bedenken Sie um meinetwillen besorgt
machen, schätze ich eben als die „freundschaftliche
Haltung“, die das Telegramm dankend erwähnt.
Allein, Sie sind unvollkommen
unterrichtet, wenn Sie a priori annehmen,
dass keiner sich auf meiner Seite stellte.
Auf ein befreiendes Wort in unserer Frage
wartet so Mancher vergeblich: ich begegnete
u. sprach auch eine Anzahl junger Männer,
die erst zwischen ihrem zwanzigsten u. dreissigsten
Jahre zum ersten Male “Wagner” hörten u. sahen.
Sie waren sämtlich nicht nur enttäuscht u.
geärgert, sondern ich merkte überdies, dass
die gesamte Angelegenheit ihnen schon fern,
überwunden und gleichgültig erschien; als wie
Leuten die an eigenen u. ganz anderen
Ideen und Zielen zu schaffen haben. (anders
steht der Eindruck mit jungen Frauen:
die unthätige Erotik bestrickt sie bis
zur Widerstandslosigkeit.)
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<p>Ich glaube, dass der, der einen Raum
<lb/>von <choice><orig>A</orig><reg>a</reg></choice>u<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en kommend betritt, den vollen
<lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> widrigen Druck der eingeschlossenen Luft
<lb/>wahrnimmt; während die darin <add place="above" rend="small">Ein<orig>-</orig></add><choice><orig>G</orig><reg>g</reg></choice>efangenen
<lb/>dagegen verstumpft sind. So geschaut, ist
<lb/>meine <mentioned rend="dq-du">Begrenztheit</mentioned> eine <mentioned rend="dq-du">Unbefangenheit<orig>.</orig></mentioned><reg>.</reg></p>
<p rend="indent-2-first">Ihre zweite Einwendung fällt
<lb/>insoweit richtig, als sie die <mentioned rend="dq-du">realpolitischen</mentioned>
<!-- erwähnt in Bekkers Brief D0100406 -->
<lb/>Folgen dieser meiner Unbefangenheit betrifft:
<lb/><choice><orig>d</orig><reg>D</reg></choice>ass diese Bedenken Sie um meinetwillen besorgt
<lb/>machen, schätze ich eben als die <q rend="dq-du">freundschaftliche
<lb/>Haltung</q>, die das <ref type="E010006" target="#D0100407">Telegramm</ref> dankend erwähnt.</p>
<p rend="indent-2-first">Allein, Sie sind unvollkommen
<lb/>unterrichtet, wenn Sie a priori annehmen,
<lb/>dass keiner sich auf meine<del rend="strikethrough">r</del> Seite stellte.
<lb/>Auf ein befreiendes Wort in unserer Frage
<lb/>wartet so <choice><orig>M</orig><reg>m</reg></choice>ancher vergeblich: <choice><orig>i</orig><reg>I</reg></choice>ch begegnete
<lb/><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> sprach auch eine Anzahl junger Männer,
<lb/>die erst zwischen ihrem zwanzigsten <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> drei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>igsten
<lb/>Jahre zum <hi rend="underline">ersten</hi> Male <soCalled rend="dq-uu"><persName key="E0300006">Wagner</persName></soCalled> hörten <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> sahen.
<lb/>Sie waren sämtlich nicht nur enttäuscht <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice>
<!-- Gibt’s Beispiele für die »jungen Männer«? -->
<lb/>geärgert, sondern ich merkte überdies, dass
<lb/>die gesamte Angelegenheit ihnen schon fern,
<lb/>überwunden und gleichgültig erschien; als wie
<lb/>Leuten<reg>,</reg> die an eigenen <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> ganz anderen
<lb/>Ideen und Zielen zu schaffen haben. (<choice><orig>a</orig><reg>A</reg></choice>nders
<lb/>steht der Eindruck mit jungen <hi rend="underline">Frauen</hi>:
<lb/><choice><orig>d</orig><reg>D</reg></choice>ie unt<orig>h</orig>ätige Erotik bestrickt sie bis
<lb/>zur Widerstandslosigkeit.)</p>
</div>
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So fern also meine Wirkung auf die
neue männliche Generation berechnet
wäre, so schiene mir selbst, dass
„keine absolut notwendige Tat“
damit vollführt würde: das Argument
interessierte sie nicht mehr.
Es ist auch keine That,
und – wie mein Begleitschreiben Ihnen er- laütern wollte – auch keine momentane
Aufwallung: sondern „ad litteram“
ad litteram [lat.]: buchstäblich
der
Ausbruch eines 40 Jahre lang verhaltenen
Leidens.
Im hier referierten Schreiben äußerte sich Busoni bereits ganz ähnlich: Was in seinem Bayreuther Brief „zu lesen steht, [sei] nicht die Frucht momentaner Aufwallung, sondern eines leben[s]langen Leidens“ (siehe Busonis Brief vom 14. Mai 1920).
Ich war 14, als es begann und
es gab ein ganzes Leben lang kein Ent- rinnen, keine Pause. Üppig und breit
wie Wagner’s Styl, liess auch seine Herr- schaft kein noch so winziges Eckchen
unausgefüllt.
Nein, ich habe Sie nicht misverstanden
und iIhre gewiss lautere Absicht erkannt.
Aber misverstehen auch Sie mich nicht:
Könnten Sie, bei der Schätzung die Sie mir
schenken, erwarten, dass ich – sollte ich
wirklich in Deutschland u. an hervorstechender
Stelle thätig sein dürfen – mit einer Lüge
beginnen würde? Und überdies: was Ihrem
Glauben wie Verbitterung u. Gewaltsamkeit
klingt, wird vielleicht einem späteren Glauben
die einfache Feststellung eines historisch, d. i.
indifferent gewordenen Falles.
Ihre freundlichen Wünsche und Grüsse
herzlichst erwiedernd, verbleibe ich
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split">
<p>So<orig> </orig>fern also meine Wirkung auf die
<lb/>neue männliche Generation berechnet
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<lb/><seg rend="align(center)"><q rend="dq-du">keine absolut notwendige Tat</q></seg>
<!-- Zitat? woher? -->
<lb/>damit vollführt würde: <choice><orig>d</orig><reg>D</reg></choice>as Argument
<lb/>interessierte sie nicht mehr.</p>
<p rend="first-right">Es <hi rend="underline">ist</hi> auch keine T<orig>h</orig>at<orig>,</orig>
<lb/>und – wie mein <ref type="E010006" target="#D0100405">Begleitschreiben</ref> Ihnen er
<lb break="no"/>l<choice><sic>aü</sic><corr>äu</corr></choice>tern wollte – auch keine momentane
<lb/>Aufwallung: sondern <soCalled rend="dq-du"><foreign xml:lang="la">ad litteram</foreign></soCalled>
<note type="commentary" resp="#E0300361">ad litteram [lat.]: buchstäblich</note>
der
<lb/>Ausbruch eines 40 Jahre lang verhaltenen
<lb/>Leidens.
<note type="commentary" resp="#E0300361">
Im hier referierten Schreiben äußerte sich <persName key="E0300017">Busoni</persName> bereits ganz ähnlich: Was in seinem <placeName key="E0500027">Bayreuther</placeName> Brief <q>zu lesen steht, [sei] nicht die Frucht momentaner Aufwallung, sondern eines leben<supplied reason="omitted">s</supplied>langen Leidens</q> (siehe <persName key="E0300017">Busonis</persName> <ref target="#D0100405">Brief vom <date when-iso="1920-05-14">14. Mai 1920</date></ref>).
</note>
Ich war 14, als es begann<reg>,</reg> und
<!-- Ausschlaggebendes Moment? Was ist passiert, als er 14 war (also ca. 1880)?
1. Wagner-Oper? vllt. hat sich Busoni auch um 2 Jahre vertan: 1882 gab’s die ersten Bayreuther Festspiele (abgesehen von 1876)?
Ist es wirklich ein »Ausbruch«? Nirgendwo sonst vorher Äußerungen dazu? -->
<lb/>es gab ein ganzes Leben lang kein Ent
<lb break="no"/>rinnen, keine Pause. Üppig und breit
<lb/>wie <persName key="E0300006">Wagner</persName><orig>’</orig>s St<choice><orig>y</orig><reg>i</reg></choice>l, lie<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice> auch seine Herr
<lb break="no"/>schaft kein noch so winziges Eckchen
<lb/>unausgefüllt.</p>
<p rend="indent-2-first">Nein, ich habe Sie nicht mis<reg>s</reg>verstanden
<lb/>und <subst><del rend="overwritten">i</del><add place="across">I</add></subst>hre gewiss lautere Absicht erkannt.
<lb/>Aber mis<reg>s</reg>verstehen auch Sie mich nicht:
<lb/>Könnten Sie, bei der Schätzung<reg>,</reg> die Sie mir
<lb/>schenken, erwarten, dass ich – sollte ich
<lb/>wirklich in <placeName key="E0500015">Deutschland</placeName> <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> an hervorstechender
<lb/>Stelle t<orig>h</orig>ätig sein dürfen – mit einer Lüge
<!-- Sept. 1920 Rückkehr nach Berlin; Prof-Stelle an HS -->
<lb/>beginnen würde? Und überdies: <choice><orig>w</orig><reg>W</reg></choice>as Ihrem
<lb/>Glauben wie Verbitterung <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> Gewaltsamkeit
<lb/>klingt, wird vielleicht einem späteren Glauben
<lb/>die einfache Feststellung eines historisch, d. i.
<lb/>indifferent gewordenen Falles.</p>
<p rend="indent-2-first">Ihre freundlichen Wünsche und Grü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>e
<lb/>herzlichst erwi<orig>e</orig>dernd, verbleibe ich</p>
<closer>
<salute rend="align(right)">Ihr hochachtungsvoll ergebener</salute>
<signed rend="align(right) space-above"><persName key="E0300017">Ferruccio Busoni</persName></signed>
</closer>
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Zürich 3
29 V.20.•19
VIII
Bahnh[of]
Zürich 3
29 V.20.•19
VIII
Bahnhof
Einschreiben
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<lb xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0"/>
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<addrLine>Herrn <persName key="E0300111">Paul Bekker</persName><orig>,</orig></addrLine>
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8
Auf Grund
der Verord[n]ung vom 15. November 1918
(Reichsges[e]tzblatt S. 1324) geöffnet.
|
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<seg rend="align(left) tiny">8</seg>
<seg rend="align(center) small">Auf Grund
<lb/>der Verord<supplied reason="damage">n</supplied>ung vom <date when-iso="1918-11-15">15. November 1918</date>
<lb/>(Reichsges<supplied reason="damage">e</supplied>tzblatt S. 1324) geöffnet.</seg>
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<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" place="center" rend="small" resp="#post">
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