Ferruccio Busoni an Philipp Jarnach arrow_backarrow_forward

Berlin · 30. Oktober 1920

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N.Mus.Depos. 56,91
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Berlin 30 O 1920

L Ph J seien Sie nicht ungeduldig, dass
ich Sie wieder epistolarisch über-
falle; es ist mir ein Bedürfnis

mit Ihnen zu verkehren: ein Bedürfnis
dass, in Zürich nicht genügend erfüllt,
um so stärker in der Entfernung sich geltend
macht. Heute las ich einen Aufsatz
P. Bekkers gegen den hiesigen D.r Krebs,
der mich als Schandfleck des musikal-
ischen Berlin hinstellt. Bekker reagiert u. a. auf den Artikel In Sachen Pfitzner kontra Bekker von Carl Krebs. Busonis Berufung zum Leiter einer Meisterklasse für Komposition an der Akademie der Künste nahm Krebs zum Anlass, seine politische Ablehnung der Berufung von Vertretern der modernen Musik und seine nationalistischen, fremdenfeindlichen Ansichten auf Busoni zu projizieren und diesen persönlich anzugreifen. Bekker verteidigt Busoni gegen diese Anfeindungen, indem er auf dessen Fähigkeiten als Lehrer und Künstler sowie auf die ideologischen Motive von Krebs verweist. Das sind so
die Willkommsbegrüssungen, die ich hier
geniesse. – Gestern wohnte ich einer Probe
meines “Concerto” bei, das von einem Erdmann
gespielt, und einem Meyrowitz dirigiert wird. Konzert am 1. November 1920 mit den Berliner Philharmonikern und dem Männerchor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (vgl. Eduard Erdmann bei den Berliner Philharmonikern).
Beide meinen es gut u. bieten so eine Art
Gegenspiel zu den obigen Verdriesslichkeiten.

| zum „Dr. Faust“ [

Die Festlichkeiten im Hofpark zu Parma
sind entstanden. Es werden gegen 30 grosse
PartiturSeiten werden, bis ich zum ersten Wort
des Textes gelange; davon sind 16 geschrieben.
Das ist schon die dritte Arbeit, die ich in B.
zu Stande brachte. Wie immer bei mir, greifen
sie in einander, u. ich benütze sie wechselseitig
zum Hauptwerke. Busoni hatte zuvor in Berlin bereits den Tanzwalzer und die Toccata für Klavier fertiggestellt. Vielerorts werden Busonis Werke dieser Zeit (auch die nicht explizit so gekennzeichneten) als Studien zu Doktor Faust aufgefasst (vgl. Ermen 1996, S. 103f.). – Vorgestern folgte ich der
Einladung, einen neuen Film zu schauen,
der nach Calderon’s „El Alcalde de Zalamea“
eingerichtet ist. Das Genie des Spaniers
siegt selbst in dieser Form: es ist

Berlin, 30. Oktober 1920

L Ph J,

seien Sie nicht ungeduldig, dass ich Sie wieder epistolarisch überfalle; es ist mir ein Bedürfnis, mit Ihnen zu verkehren: ein Bedürfnis, das, in Zürich nicht genügend erfüllt, umso stärker in der Entfernung sich geltend macht. Heute las ich einen Aufsatz P. Bekkers gegen den hiesigen Dr. Krebs, der mich als Schandfleck des musikalischen Berlin hinstellt. Bekker reagiert u. a. auf den Artikel In Sachen Pfitzner kontra Bekker von Carl Krebs. Busonis Berufung zum Leiter einer Meisterklasse für Komposition an der Akademie der Künste nahm Krebs zum Anlass, seine politische Ablehnung der Berufung von Vertretern der modernen Musik und seine nationalistischen, fremdenfeindlichen Ansichten auf Busoni zu projizieren und diesen persönlich anzugreifen. Bekker verteidigt Busoni gegen diese Anfeindungen, indem er auf dessen Fähigkeiten als Lehrer und Künstler sowie auf die ideologischen Motive von Krebs verweist. Das sind so die Willkommsbegrüßungen, die ich hier genieße. – Gestern wohnte ich einer Probe meines „Concerto“ bei, das von einem Erdmann gespielt und einem Meyrowitz dirigiert wird. Konzert am 1. November 1920 mit den Berliner Philharmonikern und dem Männerchor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (vgl. Eduard Erdmann bei den Berliner Philharmonikern). Beide meinen es gut und bieten so eine Art Gegenspiel zu den obigen Verdrießlichkeiten.

Die Festlichkeiten im Hofpark zu Parma sind entstanden. Es werden gegen 30 große Partiturseiten werden, bis ich zum ersten Wort des Textes gelange; davon sind 16 geschrieben. Das ist schon die dritte Arbeit, die ich in Berlin zu Stande brachte. Wie immer bei mir greifen sie ineinander, und ich benütze sie wechselseitig zum Hauptwerke. Busoni hatte zuvor in Berlin bereits den Tanzwalzer und die Toccata für Klavier fertiggestellt. Vielerorts werden Busonis Werke dieser Zeit (auch die nicht explizit so gekennzeichneten) als Studien zu Doktor Faust aufgefasst (vgl. Ermen 1996, S. 103f.). – Vorgestern folgte ich der Einladung, einen neuen Film zu schauen, der nach Calderons „El Alcalde de Zalamea“ eingerichtet ist. Das Genie des Spaniers siegt selbst in dieser Form: es ist erstaunlich und ergreifend, wie es Leben und Bühne beherrscht. Und solcher Stücke schrieb de la Barca – zweihundert! Ich kenne leider den „Richter von Zalamea“ nicht und bemerke zu meiner Bestürzung, dass meine Bibliothek bei Spanien eine klaffende Lücke aufweist. Sie haben eine Ausgabe „Biblioteca de Autores españoles“, die stets als die beste zitiert wird. Das muss eine prächtige Publikation sein. Besitzt sie vielleicht Ihr Herr Vater? – Sie sehen, es fehlt nicht an Begebenheiten, an denen ich in meiner Zurückgezogenheit nur vereinzelt teilnehme. – Nun bereite ich mich zu Klavierabenden vor. Am 18. und 20. November 1920 gab Busoni zwei Klavierabende in der Berliner Philharmonie (nicht, wie in der Busoni-Literatur verbreitet, am 28. November, vgl. Couling 2005, S. 329 und Beaumont 1987, S. 327). Gespielt wurden: Bach-Busoni, Goldberg-Variationen; Weber, Sonate As-Dur; Busoni, Toccata [Uraufführung]; Busoni, Carmen-Fantasie; Liszt-Busoni, Don-Juan-Fantasie (Konzert 1); Chopin, 24 Préludes, Beethoven, Sonate B-Dur op. 106, Liszt-Busoni, 6 Paganini-Etüden (Konzert 2).

Es ist schwer, richtig zu leben. Ich versuche noch immer, es zu lernen.

Ich erhoffe Ihre Nachrichten und wünsche Ihnen alles, was ein guter Bruder oder Vater wünschen kann. Grüßen Sie Frau Ursula.

Ihr herzlichst ergebener

F. Busoni

An BiolleysAndreaeBenni – gute Grüße.

Musste einen alten ledernen Taschentücherumschlag unserer Schneiderin benützen, um ein Paar Bände binden zu lassen.

                                                                
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Leben und Bühne beherrscht. Und
solcher Stücke schrieb de la Barca – zweihundert!
Ich kenne leider den “Richter von Z.” nicht
u. bemerke zu meiner Bestürzung, dass
meine Bibliothek bei Spanien eine
klaffende Lücke aufweist. Sie haben
eine Ausgabe “Biblioteca de Autores
españolas”
, die stets als die beste zitiert
wird. Das muss eine prächtige Publi-
kation sein. Besitzt sie vielleicht Ihr Herr
Vater
? – Sie sehen, es fehlt nicht an
Begebenheiten, an denen ich in
meiner Zurückgezogenheit nur ver-
einzelt theilnehme. – Nun bereite
ich mich zu KlavierAbenden vor. – Am 18. und 20. November 1920 gab Busoni zwei Klavierabende in der Berliner Philharmonie (nicht, wie in der Busoni-Literatur verbreitet, am 28. November, vgl. Couling 2005, S. 329 und Beaumont 1987, S. 327). Gespielt wurden: Bach-Busoni, Goldberg-Variationen; Weber, Sonate As-Dur; Busoni, Toccata [Uraufführung]; Busoni, Carmen-Fantasie; Liszt-Busoni, Don-Juan-Fantasie (Konzert 1); Chopin, 24 Préludes, Beethoven, Sonate B-Dur op. 106, Liszt-Busoni, 6 Paganini-Etüden (Konzert 2).

– Es ist schwer, richtig zu leben. Ich
versuche noch immer, es zu lernen.

– Ich erhoffe Ihre Nachrichten und
wünsche Ihnen Alles, was ein
guter Bruder oder Vater wünschen
kann. Grüssen Sie Frau Ursula.

Ihr herzlichst ergebener

F. Busoni

An Biolley’sAndreaeBenni
gute Grüsse. –

Musste einen alten ledernen Taschen-
-tücherUmschlag unserer Schneiderin
benützen, um ein Paar Bände binden zu lassen.

                                                                
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4Diplomatische Umschrift
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[Rückseite von Textseite 2]
30 Okt 20
2 Blätter
Busoni
Brief an Ph. Jarnach
(aus Berlin)
Nr. 3
                                                                
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doneStatus: zur Freigabe vorgeschlagen XML Faksimile Download / Zitation

Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Depos. 56,91 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
2 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Kollation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat
  • Hand Gerda Busonis, die auf der Rückseite mit Bleistift das Datum notiert hat
  • Unbekannte Hand, die auf der Rückseite mit Bleistift die Zuordnung zum Jarnach-Briefwechsel und eine Nummerierung vermerkt sowie eine Annotation am Rand vorgenommen hat
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 1234

Zusammenfassung
Busoni berichtet von Carl Krebs’ Anfeindungen gegen ihn und Paul Bekkers Erwiderung darauf; hat eine Probe seines Konzerts für Klavier und Orchester mit Männerchor besucht; hat vom Ersten Bild des Doktor Faust die ersten 16 Partiturseiten geschrieben; interessiert sich aufgrund einer Calderon-Verfilmung für dessen Bühnenwerke.
Incipit
seien Sie nicht ungeduldig, dass ich Sie

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
8. November 2021: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition
Frühere Ausgaben
Beaumont 1987, S. 326 f.