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Bologna 6. März 1924
Lieber Meister,
schon seit einigen Tagen bin ich
in diesem Land, aber das, was
ich mir unter Italien vorgestellt
hatte, habe ich erst heute u. gestern
gefunden. Die letzten Tage in
Davos waren sehr schön; da ich
viel liegen musste, habe ich sogar
etwas gearbeitet. Übrigens war es
dort oben trotz Eis und Schnee viel
wärmer als in Mailand u. hier.
Nach Zürich bin ich nicht mehr
gefahren, weil ich durch ein Tele-
fongespräch mit Geisers Mutter von
Davos aus erfahren hatte, dass Geiser
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Bologna 6. März 1924
Lieber Meister,
schon seit einigen Tagen bin ich
in diesem Land, aber das, was
ich mir unter Italien vorgestellt
hatte, habe ich erst heute und gestern
gefunden. Die letzten Tage in
Davos waren sehr schön; da ich
viel liegen musste, habe ich sogar
etwas gearbeitet. Übrigens war es
dort oben trotz Eis und Schnee viel
wärmer als in Mailand und hier.
Nach Zürich bin ich nicht mehr
gefahren, weil ich durch ein Tele-
fongespräch mit Geisers Mutter von
Davos aus erfahren hatte, dass Geiser
in Basel ist, und dass er in der
Konzertangelegenheit bereits an Sie
geschrieben hat. So habe ich den
kürzeren und schöneren Weg über die
Bernina genommen. Es ist über-
wältigend, wenn man von einer
Höhe von 2400 m unten grüne
Täler liegen sieht und sich dann
in kreisendem Abstieg einem blauen
italienischen See nähert. In Poschiavo
schien eine warme Sonne und in
Tirano erlebte ich schon eine regel-
rechte italienische Strassenszene
mit Zigeunern, Rauferei und so
schönen Tenorstimmen, dass ich mit
Wehmut an die Berliner Staasoper
dachte.
Für den Comer See ist die Jahres-
zeit noch zu früh und das viel ge-
rühmte Bellaggio verfehlte ein wenig
die versprochene Wirkung. Auch
Mailand enttäuschte mich ein
wenig. Für solche Schönheiten wie
den Dom und das erzbischöfliche
Palais ist die Stadt ein bischen zu
durchschnittlich. Aber die Scala!
Was für ein herrliches Theater!
Welch restlose Erfüllung des Be-
griffes „Theater“! Wie festlich das
Bild des weiten, breiten Parterres
und der 5 Reihen von Logen!
Und was für eine Aufführung!
Von allem Szenischen, das ich gesehen habe, kommt das dem Mahler’schen Ideal des „Konzessionslosen“
am nächsten. Man gab „Louise“
von Charpentier, Toscanini dirigierte,
und das allein war ein Ereignis,
um das sich diese ganze Reise
lohnt. Ich wusste nicht, dass
man mit solcher Freiheit, mit solchen willkürlichen Rubati „auf“ einem Orchster spielen kann. Es
wurde famos gesungen, der Chor
war verblüffend in der musikalischen
und darstellerischen Gestaltung seiner
Aufgabe. Ich weiß nicht, ob das
Stück durch diese Aufführung so
gewonnen hat – ich fand es stellenweise (wie am Anfang des 4. Aktes)
schön. Sie können sich denken, mit
welchem Schwung die große Ausstattungszene des 3. Akt herausgebracht wurde. An diesen Abend
werde ich lange denken.
Und auch an den heutigen Tag.
Morgens um 9 war ich hier, die
Stadt machte sofort einen gewaltigen Eindruck auf mich, sie bietet eine solche Anhäufung von architektonischer Erhabenheit, dass
man nicht nur vor dem Alter
dieser Gebäude auf die Knie gezwungen wird, sondern auch über
ihre absolute Schönheit von
Ehrfurchtsschaudern erfasst wird. Ich
muss viel an Sie denken; denn hier
liegen wohl Wurzeln Ihrer Kunst.
Der 15-jährige Busoni war 1881 in die Accademia Filarmonica von Bologna aufgenommen worden; 1913/14 hatte er kurzzeitig das örtliche Konservatorium, das Liceo musicale, geleitet (vgl. Theurich 1998, S. 29).
Bei Signor Conte Vatielli war ich heute
Morgen; er zeigte mir die erstaunlichen Sammlungen, die Räume des
Liceo sowie die Kirche Santo Stefano
mit den acht Gebäuden aus dem beginnenden Mittelalter; er lässt Ihnen
die freundschaftlichsten Grüße übermitteln. Und nun sitze ich in einem
Café, die Kapelle spielt Traviata,
und
alles singt mit, man wird froh und
leicht und wünscht nichts sehnlicher, als
dass Sie bald gesund genug sind, um
hier zu sein. Heute Abend bin ich in Florenz.
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in Basel ist, u. dass er in der
Konzertangelegenheit bereits an Sie
geschrieben hat. So habe ich den
kürzeren u. schöneren Weg über die
Bernina genommen. Es ist über-
wältigend, wenn man von einer
Höhe von 2400 m unten grüne
Täler liegen sieht u. sich dann
in kreisendem Abstieg einem blauen
italienischen See nähert. In Poschiavo
schien eine warme Sonne u. in
Tirano erlebte ich schon eine regel-
rechte italienische Strassenszene
mit Zigeunern, Rauferei u. so
schönen Tenorstimmen, dass ich mit
Wehmut an die Berliner Staasoper
dachte.
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Für den Comer See ist die Jahres-
zeit noch zu früh u. das viel ge-
rühmte Bellaggio verfehlte ein wenig
die versprochene Wirkung. Auch
Mailand enttäuschte mich ein
wenig. Für solche Schönheiten wie
den Dom u. das erzbischöfliche
Palais ist die Stadt ein bischen zu
durchschnittlich. Aber die Scala!
Was für ein herrliches Theater!
Welch restlose Erfüllung des Be-
griffes „Theater“! Wie festlich das
Bild des weiten, breiten Parterres
u. der 5 Reihen von Logen!
Und was für eine Aufführung!
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Von allem szenischen, das ich ge- sehen habe, kommt das dem Mah- lerschen Ideal des „konzessionslosen“
am nächsten. Man gab „Louise“
von Charpentier, Toscanini dirigierte,
u. das allein war ein Ereignis,
um das sich diese ganze Reise
lohnt. Ich wusste nicht, dass
man mit solcher Freiheit, mit sol- chen willkürlichen rubati „auf“ ei- nem Orchster spielen kann. Es
wurde famos gesungen, der Chor
war verblüffend in der musikalischen
u. darstellerischen Gestaltung seiner
Aufgabe. Ich weiss nicht, ob das
Stück durch diese Aufführung so
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gewonnen hat, – ich fand es stellen- weise (wie am Anfang des 4. Aktes)B II,5365
schön. Sie können sich denken, mit
welchem Schwung die grosse Ausstat- tungszene des 3. Akt heraus- gebracht wurde. An diesen Abend
werde ich lange denken.
Und auch an den heutigen Tagen.
Morgens um 9 war ich hier, die
Stadt machte sofort einen gewalti- gen Eindruck auf mich, sie bie- tet eine solche Anhäufung von ar- chitektonischer Erhabenheit, dass
man nicht nur vor dem Alter
dieser Gebäude auf die Knie ge- zwungen wird, sondern auch über
Deutsche
Staats
bibliothek
* Berlin *
[3]
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gewonnen hat<orig>,</orig> – ich fand es stellen
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ihre absolute Schönheit von Schönheits-
Ehrfurchtsschaudern erfasst wird. Ich
muss viel an Sie denken; denn hier
liegen wohl Wurzeln Ihrer Kunst.
Der 15-jährige Busoni war 1881 in die Accademia Filarmonica von Bologna aufgenommen worden; 1913/14 hatte er kurzzeitig das örtliche Konservatorium, das Liceo musicale, geleitet (vgl. Theurich 1998, S. 29).
Bei S. Conte Vatielli war ich heute
morgen; er zeigte mir die erstaun- lichen Sammlungen, die Räume des
Liceo, sowie die Kirche S. Stefano
mit den 8 Gebäuden aus dem be- ginnenden Mittelalter; er lässt Ihnen
die freundschaftlichsten Grüsse über- mitteln. Und nun sitze ich in einem
Café, die Kapelle spielt Traviata
u.
alles singt mit, man wird froh und
leicht und wünscht nichts sehnlicher, als
dass Sie bald gesund genug sind, um
hier zu sein. Heute abend bin ich in Florenz.
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ihre absolute Schönheit von <del rend="strikethrough">Schönheits-</del>
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<p>Bei <persName key="E0300631"><choice><abbr>S.</abbr><expan>Signor</expan></choice> Conte Vatielli</persName> war ich heute
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<lb/>Café, die Kapelle spielt <title>Traviata</title><reg>,</reg>
<choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice>
<lb/>alles singt mit, man wird froh und
<lb/>leicht und wünscht nichts sehnlicher, als
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<lb/>hier zu sein. Heute <choice><orig>a</orig><reg>A</reg></choice>bend bin ich in <placeName key="E0500086">Florenz</placeName>.
</p>
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