Ludwig Rubiner to Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Muralto · March 2, 1918

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2. März 1918.
Mus.ep. L. Rubiner 15
(Busoni-Nachl. B II)

Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4274
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Sehr lieber und verehrter
Freund!

Lassen sie mich gleich mit beiden
Füssen hineinspringen: Ich erhielt
von meiner Frau 500 Frcs;
Frau Gerda, schrieb sie mir, habe
sie ihr im Concert übergeben,
sie kämen von Herrn Biolay.
Dies verdank ich Ihrer gütigen
Fürsorge! Ich kann also ruhig arbeiten!!
Aber, lassen Sie mich einmal, mit
einem Blick auf Ihr Gesicht,
meine Gedanken offen aussprechen:
Sie kommen garnicht von Herrn
Biolay
; sie kommen von Ihnen
selbst
. Und es war nur Ihr
äusserster Takt und Ihre äusserste
Zartheit, das nicht zu sagen.

2. März 1918.

Sehr lieber und verehrter Freund!

Lassen sie mich gleich mit beiden Füßen hineinspringen: Ich erhielt von meiner Frau 500 Francs; Frau Gerda, schrieb sie mir, habe sie ihr im Konzert übergeben, sie kämen von Herrn Biolley. Dies verdank ich Ihrer gütigen Fürsorge! Ich kann also ruhig arbeiten!! Aber, lassen Sie mich einmal, mit einem Blick auf Ihr Gesicht, meine Gedanken offen aussprechen: Sie kommen gar nicht von Herrn Biolley; sie kommen von Ihnen selbst. Und es war nur Ihr äußerster Takt und Ihre äußerste Zartheit, das nicht zu sagen. Ihre Zartheit hat mich nun aber völlig geschmolzen. Und wenn ich nun richtig geraten habe, so nehme ich jetzt mit Freuden und zärtlichem Gedenken an, was ich vorher doch mit größtem Bedenken betrachtete, weil es von einem Freunde kommen sollte, dem ich mich durch Bande des Herzens und des Geistes nahe fühlte!

Ihr Brief aus Bern Dieser Brief ist nicht erhalten. hatte mich sehr verschreckt und innerlich betrübt. Huber teilte mir zudem mit, dass Sie das Konzert in Basel abgesagt hätten. Busoni musste krankheitsbedingt einen Klavierabend am 25. Februar 1918 absagen, bei dem Werke von Beethoven, Chopin und Liszt erklingen sollten, vgl. die Kommentierung des Briefes Busonis an Huber vom 2. März 1918. Meine Bestürzung erreichte den Höhepunkt, als er mir gestern sagte, eine Schülerin von Ihnen habe ihm geschrieben, Sie seien ernstlich krank. Da kam glücklicherweise Ihr Brief. Als ich ihn gestern Abend unter der Lampe las, schauten mich aus den Buchstaben der ersten Seite leibhaftig Ihre Augen an, mit einem Ausdruck von Feueraugen, so etwa wie die Wirkung der großen Beschwörungsszene in Ihrem „Faust“ ist. Gemeint ist wohl das 2. Vorspiel der Oper. Da wusste ich, dass die Krankheit vorüber und das Schwerste an Niedergeschlagenheit bei Ihnen vorbei ist.

Nun aber ist Frau Gerda krank! Könnte man ihr doch mit etwas Heiterem, Lichtem und Schönem die Zeit vertreiben, bis die Schmerzen vorbei sind!

Dass Sie selbst, in Bern, in einer Stimmung der Unlust waren, ja sogar der Resignation (dies auch jenseits der Erkrankung), traf mich tief. Es knallte geradezu auf meinen Tisch nieder, und der Gedanke daran verließ mich während dieser Tage nicht mehr. Der Fall, dass Sie keine Lust mehr haben, Ihr Werk fortzusetzen, erscheint mir unvorstellbar. Unvorstellbar, da zum ersten Mal, und wohl zum einzigen Mal, in unserer Zeit eine große, abstrakte Lebensleistung mit immer sich steigerndem und immer höher sich offenbarendem Bewusstsein von Ihnen vollzogen wurde. Unvorstellbar, wenn ich einmal egoistisch reden darf, für mich persönlich, der ich das Glück habe, durch Ihr Schaffen den höchsten Antrieb zur Selbstständigkeit zu erhalten, der ich mich seit jener Neujahrsnacht beständig im Gespräch mit Ihnen befinde und in allen wichtigen Punkten meiner Arbeit von Ihnen beraten finde – und gerade da am stärksten, wo die natürlichen Verschiedenheiten einsetzen. Umso stärker traf es mich, als ich gerade in dieser Woche in einem erbitterten Ringen lag, die fortschreitende Arbeit ganz aus der Zeitlichkeit zu lösen und zu einer erlebten Abstraktion zu führen, so gut es mir eben heute möglich ist.

Also, nach allem, und nach meinem ersten Schreck, glaube ich fest – nicht nur, dass ich es wünschte, sondern ich glaube es –, dass Sie, verehrter Mensch, Ihre ganze und umfassende Arbeit weiterführen werden. Und wenn die Welt um uns in Trümmer geht. Diesen letzten Satz von der Welt in Trümmern sprach ich, wie Sie mich kennen, gewiss nicht mit leichter Zunge aus.

Sie ist übrigens wohl schon zu einem sehr großen Teil in Trümmern. Deutschland sperrt ein grinsendes Annexionsmaul auf; Gemeint sind die deutsch-sowjetischen Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk. Im Friedensvertrag, der am 3. März 1918 unterschrieben wurde, verzichtet Sowjet-Russland auf Polen, Litauen und Kurland. es wird leider niemandem dabei wohl werden. Kurland und Estland sind „unerlöst“, aber wie ich aus den deutschen Zeitungen vernehme, „sehnt“ sich Litauen danach, ein Königreich Litauen unter einem sächsischen König zu werden, und zwar sehnt es sich schon seit der Zeit August des Starken so sehr. Gott, was wir doch alles nicht gewusst haben! – Warum hat man dann aber in Deutschland und Österreich die Irredenta Die Irredenta (ital. die Unerlösten) sind diejenigen Gebiete, in denen vor dem Ersten Weltkrieg ein Großteil der Bevölkerung italienischsprachig war, die aber nicht Teil des Königreichs Italien waren (so z. B. das Trentino und Istrien, die zum Kaiserreich Österreich gehörten). Zu den italienischen Kriegszielen gehörte die Annexion dieser Gebiete. für Unsinn erklärt?! Gegenüber diesem Vorbild ist doch der Irredentismus nur natürlich und vernünftig.

In ihrem letzten Brief legen Sie den Finger auf meine offene Wunde. Kokoschka und Schönberg wachsen auf demselben Zweig. Kokoschkas Dramen kenne ich schon seit mehreren Jahren, und schon damals, wo ich immerhin noch unsicher war, erfüllten sie mich mit Ingrimm. Man muss aber endlich doch klar sagen: Der Mensch, der über seine eigene Sexualität noch so unklar ist, dass er sie zum pseudogeistigen Mittelpunkte seines Schaffens macht – der also mit seiner eigenen Erotik noch nicht fertig ist (ich spreche nur vom Werk) –, hat nicht das Recht, die Welt zu lehren. Die Bilder Kokoschkas sind natürlich tausendmal begabter als seine Dichtungen; es sind aber doch auch in Wirklichkeit keine Schöpfungen, sondern nur sehr treffende psychologische Erklärungen, genau wie Schönbergs Musik im besten Fall, in „Pierrot lunaire“. – Sie haben aber ein erlösendes Wort ausgesprochen von den Künstlern, die sich dümmer stellen oder dümmer sind als ihr Werk. Unter den Dichtern geradezu eine Mode. In der Musik hat mich das jahrelang von der Musik entfernt. Das Gefühl, dass mit dieser – Beethoven’schen Dummheit bei gewaltigem Werk irgendein unmenschliches Vergehen in der Welt geschieht, hat mich jahrelang kunstfeindlich gemacht. Wer als Nicht-Musiker das gesagt hätte, was Sie heute ruhig aus Ihrer Musikfülle heraus sagen dürfen, wäre nur als originalitätssüchtiger Literat erschienen.

Aber vielleicht, dass Sie mir dies schrieben, vielleicht ist dies ein Zeichen, dass jener Künstlertypus eines ganzen Jahrhunderts, der sehnsüchtige Dümmling hoher Begabung, schon jenseits unserer Zeit ist; nicht mehr in ernstem Maße in Betracht kommt. Und dass wir wieder mit den schöpferischen Menschen werden leben können, die über allem auch noch das wirkliche Wissen von der Welt haben.

Übrigens kann man die Dinge auch ein klein wenig formulieren. Da ist der einfache begabte Unintelligente, der Naturalist, der die Natur einfach wiederholen will.

Dann der nicht harmlose, der den Typus für lange Zeit angegeben hat: der die Natur verklären will, idealisieren; der Schönheitskitscher (bei eventuell höchster Begabung).

Schluss.

Und nun kommt erst der wirkliche Schöpfer. Der Mensch, der aus vollkommenem Wissen und unter höchstem, absolutem Gesichtspunkt, vielleicht gar in aller Bescheidenheit: alles Existierende in sich erledigt und auf diesen Trümmern (die er als seine eigenen lebendigen Bestandteile erhält) völlig neu beginnt, wie am ersten Tag; aus sich heraus schafft.

Mit de Quincey kamen Sie als Prophet zur Wüste. Ich kenne nur Teile von ihm. „Murder“, ohne Nachtrag, und den Opiumesser. – Vielleicht eine schöne und große Entdeckung für mich.

Tolstoi kam endlich an Vgl. den Brief Rubiners an Busoni vom 19. Februar 1918. und geht an Sie ab.

Und nun herzlichen Händedruck und eine Umarmung von Ihrem dankbaren

                                                                
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2 Ihre Zartheit hat mich nun
aber völlig geschmolzen. Und
wenn ich nun richtig geraten
habe, so nehme ich jetzt mit
Freuden und zärtlichem Gedenken
an, was ich vorher doch
mit größtem Bedenken betrachtete,
weil es von einem Freunde kom⸗
men sollte, dem ich mich durch
Bande des Herzens und des Geistes
nahe fühlte!

Ihr Brief aus Bern Dieser Brief ist nicht erhalten. hatte mich
sehr verschreckt und innerlich be⸗
trübt. Huber teilte mir zudem
mit, dass Sie das Konzert in
Basel abgesagt hätten. Busoni musste krankheitsbedingt einen Klavierabend am 25. Februar 1918 absagen, bei dem Werke von Beethoven, Chopin und Liszt erklingen sollten, vgl. die Kommentierung des Briefes Busonis an Huber vom 2. März 1918. Meine
Bestürzung erreichte den Höhepunkt,
als er mir gestern sagte, eine
Schülerin von Ihnen habe ihm geschrieben,
Sie seien ernstlich krank. Da
kam glücklicherweise Ihr Brief.
Als ich ihn gestern abend
unter der Lampe las, schauten

                                                                
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ersten Seite leibhaftig Ihre
Augen an, mit einem Ausdruck
von Feueraugen, so etwa wie die
Wirkung der grossen Beschwörungs⸗
scene in Ihrem „Faust“ ist. Gemeint ist wohl das 2. Vorspiel der Oper.
Da wusste ich, dass die Krankheit
vorüber, und das Schwerste an
Niedergeschlagenheit bei Ihnen
vorbei ist.

Nun aber ist Frau Gerda krank!
Könnte man ihr doch mit
etwas Heiteren, Lichtem und
Schönen die Zeit vertreiben, bis
die Schmerzen vorbei sind!

Dass Sie selbst, in Bern, in
einer Stimmung der Unlust
waren, ja sogar der Resignation,
(dies auch jenseits der Erkrankung),
traf mich tief. Es knallte
geradezu auf meinen Tisch nieder,
und der Gedanke daran verliess
mich während dieser Tage nicht
mehr. Der Fall, dass Sie keine

                                                                
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stellbar. Unvorstellbar, da
zum ersten Mal, und wohl zum
einzigen Mal, in unserer Zeit
eine grosse, abstrakte Lebens⸗
leistung mit immer sich steigern⸗
dem und immer höher sich offen⸗
barenden Bewusstsein von
Ihnen vollzogen wurde. Unvor⸗
stellbar, wenn ich einmal egois⸗
tisch reden darf, für mich per⸗
sönlich, der ich das Glück habe,
durch Ihr Schaffen den höchsten
Antrieb zur Selbstständigkeit
zu erhalten, der ich mich seit
jener Neujahrsnacht beständig
im Gespräch mit Ihnen befinde
und in allen wichtigen Punkten
meiner Arbeit von Ihnen beraten
finde – und gerade da am stärksten,
wo die natürlichen Verschiedenheiten
einsetzen. Umso stärker traf es mich,
als ich gerade in dieser Woche
in einem erbitterten Ringen lag,

                                                                
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B II, 4274
5 die fortschreitende Arbeit ganz aus
der Zeitlichkeit zu lösen und zu
einer erlebten Abstraktion zu führen,
so gut es mir eben heute möglich
ist.

Also, nach allem, und nach meinem
ersten Schreck, glaube ich fest – nicht
nur dass ich es wünschte, sondern ich
glaube es – dass Sie, verehrter Mensch,
Ihre ganze und umfassende Arbeit
weiter führen werden. Und wenn
die Welt um uns in Trümmer
geht. Diesen letzten Satz von der
Welt in Trümmern sprach ich, wie
Sie mich kennen, gewiss nicht mit
leichter Zunge aus. Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Sie ist übrigens wohl schon zu
einem sehr grossen Teil in Trümmern.
Deutschland sperrt ein grinsendes
Annexionsmaul auf; Gemeint sind die deutsch-sowjetischen Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk. Im Friedensvertrag, der am 3. März 1918 unterschrieben wurde, verzichtet Sowjet-Russland auf Polen, Litauen und Kurland. es wird
leider niemandem dabei wohl
werden. Kurland und Esthland
sind „unerlöst“, aber, wie ich aus
den deutschen Zeitungen vernehme,

                                                                
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6 „sehnt“ sich Littauen danach
ein Königreich Littauen unter einem
sächsischen König zu werden, und
zwar sehnt es sich schon seit
der Zeit August des Starken so
sehr. Gott, was wir doch alles nicht
gewusst haben! – Warum hat
man dann aber in Deutschland
und Oesterreich die Irredenta Die Irredenta (ital. die Unerlösten) sind diejenigen Gebiete, in denen vor dem Ersten Weltkrieg ein Großteil der Bevölkerung italienischsprachig war, die aber nicht Teil des Königreichs Italien waren (so z. B. das Trentino und Istrien, die zum Kaiserreich Österreich gehörten). Zu den italienischen Kriegszielen gehörte die Annexion dieser Gebiete.
für Unsinn erklärt?! Gegenüber
diesem Vorbild ist doch der Irre⸗
dentismus nur natürlich und
vernünftig.

In ihrem letzten Brief
legen Sie den Finger auf meine
offene Wunde. Kokoschka
und Schönberg wachsen auf
demselben Zweig. Kokoschkas
Dramen kenne ich schon

                                                                
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7 seit mehreren Jahren, und schon
damals, wo ich immerhin noch
unsicher war, erfüllten sie mich
mit Ingrimm. Man muss aber
endlich doch klar sagen: Der
Mensch, der über seine eigene
Sexualität noch so unklar
ist, dass er sie zum pseudogeistigen
Mittelpunkte seines Schaffens
macht, – der also mit seiner
eigenen Erotik noch nicht fertig
ist (ich spreche nur vom Werk) –
hat nicht das Recht, die Welt
zu lehren. Die Bilder K.’[s] sind
natürlich tausendmal begabter
als seine Dichtungen; es sind
aber doch auch in Wirklichkeit
keine Schöpfungen, sondern
nur sehr treffende psychologische
Erklärungen, genau wie Schönbergs
Musik im besten Fall, in
„Pierrot lunaire“. – Sie haben

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><div type="split"><p rend="indent-first" type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive">7</note> seit mehreren Jahren, und schon <lb/>damals, wo ich immerhin noch <lb/>unsicher war, erfüllten sie mich <lb/>mit Ingrimm. Man muss aber <lb/>endlich doch klar sagen: Der <lb/>Mensch, der über seine eigene <lb/>Sexualität noch so unklar <lb/>ist, dass er sie zum pseudogeistigen <lb/>Mittelpunkte seines Schaffens <lb/>macht<orig>,</orig> – der also mit seiner <lb/>eigenen Erotik noch nicht fertig <lb/>ist (ich spreche nur vom Werk) –<reg>,</reg> <lb/>hat nicht das Recht, die Welt <lb/>zu lehren. Die Bilder <persName key="E0300341"><choice><abbr>K.’<supplied reason="omitted">s</supplied></abbr><expan>Kokoschkas</expan></choice></persName> sind <lb/>natürlich tausendmal begabter <lb/>als seine Dichtungen; es sind <lb/>aber doch auch in Wirklichkeit <lb/>keine Schöpfungen, sondern <lb/>nur sehr treffende psychologische <lb/>Erklärungen, genau wie <persName key="E0300023">Schönbergs</persName> <lb/>Musik im besten Fall, in <lb/><title key="E0400041" rend="dq-du">Pierrot lunaire</title>. – Sie haben </p></div></div>
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8 aber ein erlösendes Wort aus⸗
gesprochen von den Künstlern,
die sich dümmer stellen oder dümmer
sind als ihr Werk. Unter den
Dichtern geradezu eine Mode.
In der Musik hat mich das
jahrelang von der Musik entfernt.
Das Gefühl, dass die transcription uncertain: illegible. mit dieser – Beethoven
schen Dummheit bei gewaltigem
Werk irgend ein unmenschliches
Vergehen in der Welt geschieht, hat
mich jahrelang kunstfeindlich
gemacht. Wer, als Nicht-Musiker
das gesagt hätte, was Sie heute
ruhig aus Ihrer Musikfülle
heraus sagen dürfen, wäre
nur als originalitätssüchtiger
Literat erschienen.

Aber vielleicht, dass Sie mir
dies schrieben, vielleicht ist
dies ein Zeichen, dass jener
Künstlertypus eines ganzen
Jahrhunderts, der sehn⸗
süchtige Dümmling hoher Begabung,

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><div type="split"><p rend="indent-first" type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive">8</note> aber ein erlösendes Wort aus <lb break="no"/>gesprochen von den Künstlern, <lb/>die sich dümmer stellen oder dümmer <lb/>sind als ihr Werk. Unter den <lb/>Dichtern geradezu eine Mode. <lb/>In der Musik hat mich das <lb/>jahrelang von der Musik entfernt. <lb/>Das Gefühl, dass <subst><del rend="overwritten"><unclear reason="illegible" cert="high">die</unclear></del><add place="across">mit</add></subst> dieser – <persName key="E0300001">Beethoven</persName><reg>’</reg> <lb break="no"/>schen Dummheit bei gewaltigem <lb/>Werk irgend<orig> </orig>ein unmenschliches <lb/>Vergehen in der Welt geschieht, hat <lb/>mich jahrelang kunstfeindlich <lb/>gemacht. Wer<orig>,</orig> als Nicht-Musiker <lb/>das gesagt hätte, was Sie heute <lb/>ruhig aus Ihrer Musikfülle <lb/>heraus sagen dürfen, wäre <lb/>nur als originalitätssüchtiger <lb/>Literat erschienen.</p> <p type="pre-split">Aber vielleicht, dass Sie mir <lb/>dies schrieben, vielleicht ist <lb/>dies ein Zeichen, dass jener <lb/>Künstlertypus eines ganzen <lb/>Jahrhunderts, der sehn <lb break="no"/>süchtige Dümmling hoher Begabung, </p></div></div>
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B II, 4274
9 schon jenseits unserer Zeit ist;
nicht mehr in ernstem Maasse
in Betracht kommt. Und dass
wir wieder mit den schöpferischen
Menschen werden leben können,
die über allem auch noch das
wirkliche Wissen von der Welt
haben. Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Übrigens kann man die Dinge
auch ein klein wenig formulieren.
Da ist der einfache begabte
Unintelligente, der Naturalist,
der die Natur einfach wiederholen
will.

Dann der nicht harmlose, der
den Typus für lange Zeit ange⸗
geben hat: der die Natur
verklären will, idealisieren;
der Schönheitskitscher (bei
eventuell höchster Begabung).

Schluss.

Und nun kommt erst der
wirkliche Schöpfer. Der

                                                                
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10. Mensch, der aus vollkommenem
Wissen und unter höchstem,
absolutem Gesichtspunkt,
vielleicht gar in […] at least 2 char: cancelled. aller
Bescheidenheit: alles Existieren⸗
de in sich erledigt, und
auf diesen Trümmern (die er
als seine eigenen lebendigen
Bestandteile erhält) völlig
neu beginnt, wie am ersten
Tag; aus sich heraus schafft.

Mit de Quincey kamen Sie
als Prophet zur Wüste. Ich
kenne nur Teile von ihm.
„Murder“, ohne Nachtrag, und
den Opiumesser. – Vielleicht eine
schöne und grosse Entdeckung
für mich.

Tolstoi kam endlich an, Vgl. den Brief Rubiners an Busoni vom 19. Februar 1918. und geht
an Sie ab. Und nun herzlichen
Händedruck und eine Umarmung von
Ihrem dankbaren

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><div type="split"><p type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive">10.</note> Mensch, der aus vollkommenem <lb/>Wissen und unter höchstem, <lb/>absolutem Gesichtspunkt, <lb/>vielleicht gar in <del rend="strikethrough"><gap reason="strikethrough" atLeast="2" unit="char"/></del> aller <lb/>Bescheidenheit: alles Existieren <lb break="no"/>de in sich erledigt<orig>,</orig> und <lb/>auf diesen Trümmern (die er <lb/>als seine eigenen <hi rend="underline">lebendigen</hi> <lb/>Bestandteile erhält) völlig <lb/><hi rend="underline">neu</hi> beginnt, wie am ersten <lb/>Tag; aus sich heraus schafft.</p> </div> <milestone unit="section" style="—" rend="align(center)"/> <div> <p>Mit <persName key="E0300349">de Quincey</persName> kamen Sie <lb/>als Prophet zur Wüste. Ich <lb/>kenne nur Teile von ihm. <lb/><title key="E0400315" rend="dq-du">Murder</title>, ohne Nachtrag, und <lb/>den <title key="E0400314">Opiumesser</title>. – Vielleicht eine <lb/>schöne und gro<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>e Entdeckung <lb/>für mich. <milestone unit="section" style="—" rend="inline"/></p> <p><rs key="E0800166"><persName key="E0300091">Tolstoi</persName></rs> kam endlich an<orig>,</orig> <note type="commentary" resp="#E0300388"> Vgl. den <ref target="#D0100314" n="8">Brief</ref> <persName key="E0300126">Rubiners</persName> an <persName key="E0300017">Busoni</persName> vom <date when-iso="1918-02-19">19. Februar 1918</date>. </note> und geht <lb/>an Sie ab. <seg type="closer" subtype="salute">Und nun herzlichen <lb/>Händedruck und eine Umarmung von <lb/>Ihrem dankbaren</seg> </p> </div> <closer> <signed rend="align(right)"><persName key="E0300126">Ludwig Rubiner</persName>.</signed> </closer> </div>
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-2 III.18.25[1]7
[amb]ulant
-2 III.18.2517
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<address xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0"> <addrLine>Herrn</addrLine> <addrLine rend="align(right)"><persName key="E0300017"> Prof. Ferruccio Busoni</persName></addrLine> <addrLine rend="align(right) underline"><placeName key="E0500132">Zürich VI</placeName></addrLine> <addrLine rend="align(right)"><placeName key="E0500189">Scheuchzerstr. 36</placeName>.</addrLine> </address>
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Zürich
-2 III.18–11
Brf.Exp.
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Nachlaß Busoni B II
Mus.ep. L. Rubiner 15

Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4274-Beil.
                                                                
<address xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" rend="align(center)"> <addrLine>Abs.: <persName key="E0300126">Rubiner</persName>.</addrLine> <addrLine><placeName key="E0500291">Muralto</placeName> – <placeName key="E0500183">Locarno</placeName>.</addrLine> <addrLine><placeName key="E0500447">Villa Rossa</placeName>.</addrLine> </address>
<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" place="right" resp="#post" rend="rotate(-90)"> <stamp xml:id="post_rec" rend="round border majuscule align(center)"> <placeName key="E0500132">Zürich</placeName> <lb/><date when-iso="1918-03-02">-2 III.18</date>–11<lb/>Brf.Exp. </stamp> </note> <note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" place="bottom-center" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName> </stamp> </note> <note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="shelfmark" place="below" resp="#archive" rend="align(center)"> <subst><del rend="strikethrough"><stamp resp="#sbb_st_blue">Nachlaß Busoni <handShift new="#archive_red"/>B II</stamp> Mus.ep. L. Rubiner 15</del><add place="below">Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4274-Beil.</add></subst> </note>

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Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4274 | olim: Mus.ep. L. Rubiner 15 (Busoni-Nachl. B II) |

proof Kalliope

Condition
Der Brief ist gut erhalten.
Extent
3 Bogen, 10 beschriebene Seiten
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Ludwig Rubiner, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift dieSignaturen eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
Image source
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 123456789101112

Summary
Rubiner dankt Busoni für den Erhalt einer Geldsumme über dessen Agenten Biolley; ermutigt ihn, die Arbeit an Doktor Faust nicht aufzugeben; kritisiert deutsche Pläne einer Annexion des Baltikums; diskutiert Werke Kokoschkas und Schönbergs; entwirft eine Typologie des „schöpferischen Menschen“.
Incipit
Lassen Sie mich gleich mit beiden Füßen hineinspringen

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
February 18, 2018: proposed (transcription and coding done, awaiting proofreading)
Direct context
Preceding Following
Near in this edition