Ich erlaube mir, Ihnen meinen
AufsatzRubiner verfasste einen Aufsatz mit dem Titel „Ferruccio Busonis Musikästhetik“, welcher in der Zeitschrift “Der Demokrat“ (2. Jahrgang, 06. Juli 1910, Nummer 28) erschien.
über Ihre Musik-Aesthe- tik zu übersenden. Hoffentlich
missfällt er Ihnen nicht all- zusehr. Von einem so furcht- bar aufregenden Buch konnte
ich nur in der allerkühlsten Form
sprechen.
Mein Aufsatz hat demagogische Ab- sichten, das gebe ich offen zu. Das
heisst, er soll den Kreisen ge- bildeter Nichtmusiker anre- gende Stimmung für die Lektü- re geben. Bei den wirklichen
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Ich erlaube mir, Ihnen meinen
AufsatzRubiner verfasste einen Aufsatz mit dem Titel „Ferruccio Busonis Musikästhetik“, welcher in der Zeitschrift „Der Demokrat“ (2. Jahrgang, 06. Juli 1910, Nummer 28) erschien.
über Ihre Musik-Ästhetik zu übersenden. Hoffentlich
missfällt er Ihnen nicht allzusehr. Von einem so furchtbar aufregenden Buch konnte
ich nur in der allerkühlsten Form
sprechen.
Mein Aufsatz hat demagogische Absichten, das gebe ich offen zu. Das
heißt, er soll den Kreisen gebildeter Nichtmusiker anregende Stimmung für die Lektüre geben. Bei den wirklichen
Musikern ist ja doch Hopfen und
Malz verloren. Ich bin also bei
Fragen, die Ihnen vielleicht praktisch
als wichtiger erscheinen werden,
z.B. den harmonischen Problemen,
nicht ins Detail gegangen. Ich
habe das allerwesentlichste, menschlich und künstlerisch wichtigste
Motiv – von dem sich übrigens
auch alle anderen fest mathematisch ableiten lassen – herausgegriffen, und an ihm die symptomatische Bedeutung des Buches
gezeigt.Rubiner schreibt in seinem Aufsatz: „Busonis Deutung geht vom Subjekt aus. Er nimmt die Musik als Gegebenes“, und er gebe „mit dem Begriff des Organischen dem Musikwerk eine neue Deutung mit unendlichen Folgerungen“. Dabei seien die persönlichen Erfahrungen des Komponisten, dem „Schaffenden“, keine „Wesensbestandteile des Kunstwerkes“.
Dies, wenn Sie wollen,
zur Entschuldigung.
Im Übrigen ist Ihr Buch
das einzig lesenswerte, das ich
über Musik kenne. Für deutsche
Verhältnisse ist es leider viel
zu gut und zu interessant
geschrieben. Da heut in Deutschland die Musik als soziologischer
Faktor eine grausam überschätzte Kunst ist, gibt es
viel zu viel Musiker von Fach.
Alle Leute mit Gummikragen
und schmutzigen Fingern laufen
heut mit der Partitur zum
"Heldenleben" herum, und die
meisten können dieses
document réactionnaireFranz. für „konservatives/fortschrittsfeindliches Werk“ auch
lesen. Infolgedessen kann niemand
mehr anständiges Deutsch lesen,
oder anständiges Französisch oder
Italienisch, sondern bloß mit
blöden Augen Musik machen.
Es wäre sehr schön, wenn ein
bedeutender Mann einiges zur
Diskreditierung der Musik
und der Musiker unternähme,
damit die verblödeten Leute
mal merken, wenn wirklich
was menschlich Bedeutsames
geschieht. Dies ist meine Privatmeinung, die ich mir erlaubte Ihnen mitzuteilen, da ich für musikalische Angelegenheiten sonst
nicht die geringsten Ambitionen
habe.
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<lb/>ich nur in der allerkühlsten Form
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<lb break="no"/>sichten, das gebe ich offen zu. Das
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<lb break="no"/>re geben. Bei den wirklichen
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2Faksimile
2Diplomatische Umschrift
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Musikern ist ja doch Hopfen und
Malz verloren. Ich bin also bei
Fragen, die Ihnen vielleicht praktisch
als wichtiger erscheinen werden,
z.B. den harmonischen Problemen,
nicht ins Detail gegangen. Ich
habe das allerwesentlichste, mensch- lich und Künstlerisch wichtigste
Motiv – von dem sich übrigens
auch alle anderen fest mathema- tisch ableiten lassen – herausgegrif- fen, und an ihm die sympto- matische Bedeutung des Buches gezeigt.Rubiner schreibt in seinem Aufsatz: „Busonis Deutung geht vom Subjekt aus. Er nimmt die Musik als Gegebenes“, und er gebe „mit dem Begriff des Organischen dem Musikwerk eine neue Deutung mit unendlichen Folgerungen“. Dabei seien die persönlichen Erfahrungen des Komponisten, dem „Schaffenden“, keine „Wesensbestandteile des Kunstwerkes“.
Dies, wenn Sie wollen,
zur Entschuldigung.
Im übrigen ist Ihr Buch das einzig lesenswerte, das ich
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<lb/>Musikern ist ja doch Hopfen und
<lb/>Malz verloren. Ich bin also bei
<lb/>Fragen, die Ihnen vielleicht praktisch
<lb/>als wichtiger erscheinen werden,
<lb/>z.B. den harmonischen Problemen,
<lb/>nicht ins Detail gegangen. Ich
<lb/>habe das allerwesentlichste, mensch
<lb break="no"/>lich und <choice><orig>K</orig><reg>k</reg></choice>ünstlerisch wichtigste
<lb/>Motiv – von dem sich übrigens
<lb/>auch alle anderen fest mathema
<lb break="no"/>tisch ableiten lassen – herausgegrif
<lb break="no"/>fen, und an ihm die sympto
<lb break="no"/>matische Bedeutung des <rs key="E0400043">Buches</rs>
<lb/>gezeigt.
<note type="commentary" resp="#E0300418"><persName key="E0300126">Rubiner</persName> schreibt in seinem <rs key="E0800251">Aufsatz</rs>: <q><persName key="E0300017">Busonis</persName> Deutung geht vom Subjekt aus. Er nimmt die Musik als Gegebenes</q>, und er gebe <q rend="dq-du">mit dem Begriff des Organischen dem Musikwerk eine neue Deutung mit unendlichen Folgerungen</q>. Dabei seien die persönlichen Erfahrungen des Komponisten, dem <q>Schaffenden</q>, keine <q>Wesensbestandteile des Kunstwerkes</q>.</note>
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3Faksimile
3Diplomatische Umschrift
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[2] über Musik kenne. Für deutsche
Verhältnisse ist es leider viel
zu gut, und zu interessant
geschrieben. Da heut in Deutsch- land die Musik als soziologischer
Faktor eine grausam über- schätzte Kunst ist, giebt es
viel zu viel Musiker von Fach.
Alle Leute mit Gummikragen
und schmutzigen Fingern laufen
heut mit der Partitur zum
Heldenleben herum, und die
meisten können dieses
document réactionnaireFranz. für „konservatives/fortschrittsfeindliches Werk“ auch
lesen. Infolgedessen kann niemand
mehr anständiges Deutsch lesen,
oder anständiges Französisch oder
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<lb/>über Musik kenne. Für deutsche
<lb/>Verhältnisse ist es leider viel
<lb/>zu gut<orig>,</orig> und zu interessant
<lb/>geschrieben. Da heut in Deutsch
<lb break="no"/>land die Musik als soziologischer
<lb/>Faktor eine grausam über
<lb break="no"/>schätzte Kunst ist, gi<orig>e</orig>bt es
<lb/>viel zu viel Musiker von Fach.
<lb/>Alle Leute mit Gummikragen
<lb/>und schmutzigen Fingern laufen
<lb/>heut mit der Partitur zum
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<lb/>lesen. Infolgedessen kann niemand
<lb/>mehr anständiges Deutsch lesen,
<lb/>oder anständiges Französisch oder
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4Faksimile
4Diplomatische Umschrift
4XML
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin Italienisch, sondern bloss mit
blöden Augen Musik machen.
Es wäre sehr schön, wenn ein
bedeutender Mann einiges zur
Diskreditierung der Musik
und der Musiker unternähme,
damit die verblödeten Leute
mal merken, wenn wirklich
was menschlich Bedeutsames
geschieht. Dies meine Privat- meinung, die ich mir erlaubte Ih- nen mitzuteilen, da ich für musi- kalische Angelegenheiten sonst
nicht die geringsten Ambitionen
habe.
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<lb/>blöden Augen Musik machen.
<lb/>Es wäre sehr schön, wenn ein
<lb/>bedeutender Mann einiges zur
<lb/>Diskreditierung der Musik
<lb/>und der Musiker unternähme,
<lb/>damit die verblödeten Leute
<lb/>mal merken, wenn wirklich
<lb/>was menschlich Bedeutsames
<lb/>geschieht. Dies <reg>ist</reg> meine Privat
<lb break="no"/>meinung, die ich mir erlaubte Ih
<lb break="no"/>nen mitzuteilen, da ich für musi
<lb break="no"/>kalische Angelegenheiten sonst
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Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4260 | olim:
Mus.ep. L. Rubiner 1 (Busoni-Nachl. B II)
|
Brief von Ludwig Rubiner an Ferruccio Busoni (Berlin, 15. Januar 1910), bearbeitet von Marlene Everling, in: Briefwechsel Ferruccio Busoni – Ludwig Rubiner, hrsg. von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Berlin: Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Januar 2018: Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, https://busoni-nachlass.org/D0100301 (6. April 2018: in Korrekturphase)
Download der bereinigten Lesefassung im PDF-Dateiformat (.pdf)
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<title xml:lang="de">Brief von Ludwig Rubiner an Ferruccio Busoni (Berlin, 15. Januar 1910)</title>
<title xml:lang="en">Letter by Ludwig Rubiner to Ferruccio Busoni (Berlin, 15 January 1910)</title>
<author key="E0300126">Ludwig Rubiner</author>
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<publisher>Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin</publisher>
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<title type="main">Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften</title>
<title type="genre">Briefe</title>
<title type="subseries" key="E010005">Briefwechsel Ferruccio Busoni – Ludwig Rubiner</title>
<editor key="E0300314">Christian Schaper</editor>
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<collection>Nachlass Ferruccio Busoni</collection>
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<summary><persName key="E0300126">Rubiner</persName> übersendet <persName key="E0300017">Busoni</persName> seinen <rs key="E0800251">Aufsatz</rs> über dessen <title key="E0400043">Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst</title>; kritisiert die vorherrschenden Verhältnisse der deutschen Musikszene.</summary>
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<incipit>Ich erlaube mir, Ihnen meinen Aufsatz über Ihre Musik-Aesthetik zu übersenden.</incipit>
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<measure type="folio">1 Bogen</measure>
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<condition>Der Brief ist gut erhalten.</condition>
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<handNote xml:id="major_hand" scope="major" medium="black_ink" scribe="author" scribeRef="#E0300126">Hand des Absenders Ludwig Rubiner, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.</handNote>
<handNote xml:id="archive" scope="minor" medium="pencil" scribe="archivist">Hand des Archivars, der die Signaturen mit Bleistift eingetragen hat.</handNote>
<handNote xml:id="archive_red" scope="minor" medium="red_pen" scribe="archivist">Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat</handNote>
<handNote xml:id="dsb_st_red" scope="minor" medium="red_ink" scribe="archivist">Bibliotheksstempel (rote Tinte)</handNote>
<handNote xml:id="post" scope="minor" medium="black_ink" scribe="postoffice">Poststempel (schwarze Tinte)</handNote>
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<p>Erfassung von Briefen und Schriften von Ferruccio Busoni, ausgehend von Busonis Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz.</p>
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<p>Worttrennungen an Zeilenumbrüchen im Original mit einfachen Bindestrichen.</p>
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<p>Alle im Text vorkommenden Interpunktionszeichen wurden beibehalten und werden in der diplomatischen Umschrift wiedergegeben. Bei Auszeichnung durch XML-Elemente wurden umgebende Satzzeichen nicht mit einbezogen.</p>
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<p>Anführungszeichen wurden i. d. R. nicht beibehalten; die Art der Zeichenwurde im Attribut <att>rend</att> der entsprechenden Elemente codiert.</p>
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<p>Die Übertragung folgt den Editionsrichtlinien des Projekts. <ptr target="http://www.busoni-nachlass.org/E1000003"/></p>
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<!-- Nachgesehen in der StaBi; Signatur 2" F 601; http://eds.a.ebscohost.com/eds/detail/detail?vid=4&sid=79ee8884-b820-4006-8609-6e2b54d8b66b-->
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<lb/><placeName key="E0500013">Italienisch</placeName>, sondern blo<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice> mit
<lb/>blöden Augen Musik machen.
<lb/>Es wäre sehr schön, wenn ein
<lb/>bedeutender Mann einiges zur
<lb/>Diskreditierung der Musik
<lb/>und der Musiker unternähme,
<lb/>damit die verblödeten Leute
<lb/>mal merken, wenn wirklich
<lb/>was menschlich Bedeutsames
<lb/>geschieht. Dies <reg>ist</reg> meine Privat
<lb break="no"/>meinung, die ich mir erlaubte Ih
<lb break="no"/>nen mitzuteilen, da ich für musi
<lb break="no"/>kalische Angelegenheiten sonst
<lb/>nicht die geringsten Ambitionen
<lb/>habe.</p>
<closer rend="align(center)">
<salute rend="indent-first">Mit vorzüglicher Hochachtung</salute>
<signed rend="indent-first">Ihr sehr ergebener
<lb/><seg rend="first-right"><persName key="E0300126">Ludwig Rubiner</persName>.</seg>
</signed>
</closer>
</div>
</body>
</text>
</TEI>