Ferruccio Busoni an Robert Freund arrow_backarrow_forward

Berlin · 22. April 1912

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Mus.Nachl. F. Busoni B I, 543

Mus.ep. F. Busoni 45 (Busoni-Nachl. B I)

Verehrtester Freund

ich reise heute nach Italien,
u. lasse Order, dass man Ihnen
meinen Clavier Ausz. zuschicke.

Im vorhergehenden Brief erwähnt Freund als Hindernis einer fundierten Kritik mehrfach seine „fehlende Ken̅tnis des Klavierauszuges“ von Busonis Oper Die Brautwahl.

Ich las vor wenigen Minuten
Ihren guten Brief: – Ihre
Eindrücke sind mir stets eine
Richtschnur gewesen und auch
diesmal werden ich sie mich
zum Nachdenken führen.

Mit dem Vorsp. zum III Akt
nehme ich an daß Sie die ganze
Scene am Froschteich meinen. Szene 14 der Oper. In dem vorhergehenden Brief bezeichnet Freund das Vorspiel zum III. Akt als „ein Juwel“.

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Was dann folgt, (im selben
Akte), liegt durchaus in den
Haenden des "Leonhard", der
am Abend der Erstaufführung
entweder gar nicht sang, oder
unrichtig. In der Uraufführung der Brautwahl am 13. April 1912 im Hamburger Stadtheater sang Robert vom Scheidt die Rolle des Leonhard. – Das Nachspiel wollte
in zwei Theile zerfallen; einen
heiteren Lustspielhälfte und
eine mystisch sich abwendende Schluss-
hälfte.

Verehrtester Freund,

ich reise heute nach Italien, und lasse Order, dass man Ihnen meinen Klavierauszug zuschicke.

Im vorhergehenden Brief erwähnt Freund als Hindernis einer fundierten Kritik mehrfach seine „fehlende Ken̅tnis des Klavierauszuges“ von Busonis Oper Die Brautwahl.

Ich las vor wenigen Minuten Ihren guten Brief: – Ihre Eindrücke sind mir stets eine Richtschnur gewesen, und auch diesmal werden sie mich zum Nachdenken führen.

Mit dem Vorspiel zum III. Akt nehme ich an, dass Sie die ganze Szene am Froschteich meinen. Szene 14 der Oper. In dem vorhergehenden Brief bezeichnet Freund das Vorspiel zum III. Akt als „ein Juwel“.

Was dann folgt (im selben Akte), liegt durchaus in den Händen des „Leonhard“, der am Abend der Erstaufführung entweder gar nicht sang, oder unrichtig. In der Uraufführung der Brautwahl am 13. April 1912 im Hamburger Stadtheater sang Robert vom Scheidt die Rolle des Leonhard. – Das Nachspiel wollte in zwei Teile zerfallen; eine heitere Lustspielhälfte und eine mystisch sich abwendende Schlusshälfte.

Der szenische Stil war von vornherein auf einen unrichtigen Ton gestimmt: er hätte raffinierter, unwahrer, bilderbuch- u. Puppenspiel-artiger sein sollen. Die technischen Mittel der alten Hamburger Bühne reichten für den Hokuspokus nicht aus. Für den Leonhard denke ich mir eine Erscheinung, etwa wie jene Liszts in seinen Fünfziger Jahren. Nobel, gütig, ironisch, überlegen.

Das Orchester versagte mehr als zur Hälfte: Dirigent der Uraufführung war Gustav Brecher. (die Partitur ist thatsächlich sauber, eigenartig und ohne Nähte: solid gefügt.)

Sechs Sommer lang hat mich das Werk beschäftigt: die erste Hälfte der Komposition fällt noch vor den Elegien, das Ganze vor der Berceuse élégiaque. Der Kompositionsprozess der Brautwahl begann 1906 und dauerte bis zur Uraufführung 1912 an (vgl. Stuckenschmidt 1967, S. 88). Seitdem habe ich gelernt und auch wieder mich verwandelt.

Auf Diktion und Tonfall habe ich mich kapriziert; nicht nur, dass jede Person ihre eigene Sprechweise hat, sondern sie wird je nach der Gemüts- und Temperamentsstimmung des Augenblicks modifiziert; dabei ist ein melodischer Sinn gewahrt. –

Ich glaube nicht, dass nach Wagner und Verdi ein so abgerundetes Zusammenwirken von Charakter, Klang, Form und Gesang erreicht wurde, bei einer relativen Originalität: doch gestehe ich, dass ich selbst davon eine Lektion erhielt, deren Früchte ein nächstes Werk hoffentlich zeigen wird – und dass es nichts Vollkommenes gibt.

Ich bedauere, dass ich Sie nicht noch in Hamburg sprechen durfte; aber ich danke Ihnen innig dafür, dass sie hinkamen. Ich werde es Ihnen nicht vergessen.

Seien sie freundschaftlichst gegrüßt von Ihrem treu ergebenen

Ferruccio Busoni

22. April 1912.
                                                                
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B I, 543

Dier scenische Styl war von
vornherein auf einen unrichtigen
Ton gestimmt: er hätte raffinirter,
unwahrer, Bilderbuch= u. Puppen⸗
spiel=artiger sein sollen. Die
technischen Mittel der alten
Hamburger Bühne reichten
für den Hokus-pokus nicht aus.
Für den Leonhard denke ich
mir eine Erscheinung, etwa wie jene
Liszt’s in seinen Fünfziger Jahren.
Nobel, gütig, ironisch, überlegen.

Das Orchester versagte mehr als
zur Hälfte: Dirigent der Uraufführung war Gustav Brecher. (die Partitur ist Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

thatsächlich sauber, u. eigenartig.
und ohne Nähte: solid gefügt.)

Sechs Sommer lang hat mich
das Werk beschäftigt: die erste
Hälfte der Composition fällt noch vor den Elegien,
das Ganze vor der Berceuse élegiaque. Der Kompositionsprozess der Brautwahl begann 1906 und dauerte bis zur Uraufführung 1912 an (vgl. Stuckenschmidt 1967, S. 88).
Seitdem habe ich gelernt und
auch wieder mich verwandelt.

                                                                
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B I, 543

Auf Diktion u. Tonfall habe ich
mich kapriziert; nicht nur, dass
jede Person ihre eigene Sprechweise
hat, sondern sie wird je nach
der Gemüths- und Temperaments Stim̅ung
des Augenblicks modifiziert; dabei ist
ein melodischer Sinn gewahrt. –

Ich glaube nicht, dass nach
Wagner und Verdi ein so abgerundetes
Zusammenwirken von Charakter,
Klang, und Form u. Gesang
erreicht wurde, bei einer relativen
Originalität: doch gestehe ich, dass
ich selbst davon eine Lektion
erhielt, deren Früchte ein nächstes
Werk hoffentlich zeigen wird – und
dass es nichts Vollkommenes giebt.

Ich bedauere, dass ich Sie Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

nicht noch in Hamburg sprechen
durfte; aber ich danke Ihnen
innig dafür, dass sie hinkamen.
Ich werde es Ihnen nicht vergessen.

Seien sie freundschaftlichst
gegrüsst von Ihrem treu ergebenen

Ferruccio Busoni

22. April 1912.
                                                                
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Berlin
22.4.12 6-7 N
50
Berlin
22.4.12 6-7 N
50
Herrn
Robert Freund
Untere Zäune 7
[Deutsche]
Staatsbibliothek
Berlin

Zürich
(Schweiz)
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Zürich
23.IV.12 – 2
BRIEFTRGR
22. April 1912
Mus.Nachl. F. Busoni B I, 543-Beil. Mus.ep. F. Busoni 45
Nachlaß Busoni B I
m. 2 Marken
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B I, 543 | olim: Mus.ep. F. Busoni 45 (Busoni-Nachl. B I) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
4 Blatt, 3 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand des Archivars, der die Signaturen mit Bleistift eingetragen, eine Foliierung vorgenommen und ein Datum eingetragen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 12345678910

Zusammenfassung
Busonireagiert auf Freunds Bewertung der Oper Die Brautwahlmit Kritik an der Leistung des Orchesters und des Ensembles sowie an der Austattung des Hamburger Stadtheaters; benennt seine Idealvorstellung von der Figur des Leonhard; reflektiert den Schaffensprozess des Werkes.
Incipit
Ich reise heute nach Italien

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
29. März 2018: in Korrekturphase (Transkription abgeschlossen, Auszeichnungen codiert, zur Korrekturlesung freigegeben)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition
Frühere Ausgaben
Beaumont 1987, S. 143–145