Verehrtester Freund,
ich reise heute nach Italien,
und lasse Order, dass man Ihnen
meinen Klavierauszug zuschicke.
Im vorhergehenden Brief erwähnt Freund als Hindernis einer fundierten Kritik mehrfach seine „fehlende Ken̅tnis des Klavierauszuges“ von Busonis Oper Die Brautwahl.
Ich las vor wenigen Minuten
Ihren guten Brief: – Ihre
Eindrücke sind mir stets eine
Richtschnur gewesen, und auch
diesmal werden sie mich
zum Nachdenken führen.
Mit dem Vorspiel zum III. Akt
nehme ich an, dass Sie die ganze
Szene am Froschteich meinen.
Szene 14 der Oper. In dem vorhergehenden Brief bezeichnet Freund das Vorspiel zum III. Akt als „ein Juwel“.
Was dann folgt (im selben
Akte), liegt durchaus in den
Händen des „Leonhard“, der
am Abend der Erstaufführung
entweder gar nicht sang, oder
unrichtig.
In der Uraufführung der Brautwahl am 13. April 1912 im Hamburger Stadtheater sang Robert vom Scheidt die Rolle des Leonhard.
– Das Nachspiel wollte
in zwei Teile zerfallen; eine
heitere Lustspielhälfte und
eine mystisch sich abwendende Schlusshälfte.
Der szenische Stil war von
vornherein auf einen unrichtigen
Ton gestimmt: er hätte raffinierter,
unwahrer, bilderbuch- u. Puppenspiel-artiger sein sollen. Die
technischen Mittel der alten
Hamburger Bühne reichten
für den Hokuspokus nicht aus.
Für den Leonhard denke ich
mir eine Erscheinung, etwa wie jene
Liszts in seinen Fünfziger Jahren.
Nobel, gütig, ironisch, überlegen.
Das Orchester versagte mehr als
zur Hälfte:
Dirigent der Uraufführung war Gustav Brecher.
(die Partitur ist
thatsächlich sauber, eigenartig
und ohne Nähte: solid gefügt.)
Sechs Sommer lang hat mich
das Werk beschäftigt: die erste
Hälfte der Komposition fällt noch vor den Elegien,
das Ganze vor der Berceuse élégiaque.
Der Kompositionsprozess der Brautwahl begann 1906 und dauerte bis zur Uraufführung 1912 an (vgl. Stuckenschmidt 1967, S. 88).
Seitdem habe ich gelernt und
auch wieder mich verwandelt.
Auf Diktion und Tonfall habe ich
mich kapriziert; nicht nur, dass
jede Person ihre eigene Sprechweise
hat, sondern sie wird je nach
der Gemüts- und Temperamentsstimmung
des Augenblicks modifiziert; dabei ist
ein melodischer Sinn gewahrt. –
Ich glaube nicht, dass nach
Wagner und Verdi ein so abgerundetes
Zusammenwirken von Charakter,
Klang, Form und Gesang
erreicht wurde, bei einer relativen
Originalität: doch gestehe ich, dass
ich selbst davon eine Lektion
erhielt, deren Früchte ein nächstes
Werk hoffentlich zeigen wird – und
dass es nichts Vollkommenes gibt.
Ich bedauere, dass ich Sie
nicht noch in Hamburg sprechen
durfte; aber ich danke Ihnen
innig dafür, dass sie hinkamen.
Ich werde es Ihnen nicht vergessen.
Seien sie freundschaftlichst
gegrüßt von Ihrem treu ergebenen
Ferruccio Busoni
22. April 1912.