Der herannahende erste April mahnt mich an Ihren
Geburtstag, und ich ergreife gern diese Gelegenheit, einige
Zeilen an Sie zu richten. Zunächst meinen herzlichen
Glückwunsch. Mögen Leben und Kunst Ihnen im neuen
Jahre Erfreuliches und Gedeihliches bringen! Ab und zu lese
ich in amerikanischen Blättern von Ihren Konzerten. Wenn
dieser Brief Sie erreicht, so wird Ihre Tournée wohl schon so
ziemlich zu Ende gekommen sein, und die Frage der
Rückkehr nach Europa wird Sie zweifellos stark beschäftigen.Busoni war am 5. Januar 1915 für eine Konzertreise durch Amerika nach New York aufgebrochen. Aufgrund des Krieges in Europa und der unklaren Bündnislage war die Rückkehr nach Berlin für Busoni als Italiener zunächst nicht möglich, sodass er sich im Herbst 1915 vorläufig in Zürich niederließ (vgl. Riethmüller/Weindel/Shin 2000, Sp. 1381 f.). Ob Sie in New York ein richtiges Bild von der Lage erhalten
werden, ist nicht so sicher, und daher wird es Ihnen vielleicht
nicht uninteressant sein, zu erfahren, was man hier glaubt.
Der herannahende 1. April mahnt mich an Ihren
Geburtstag, und ich ergreife gern diese Gelegenheit, einige
Zeilen an Sie zu richten. Zunächst meinen herzlichen
Glückwunsch. Mögen Leben und Kunst Ihnen im neuen
Jahre Erfreuliches und Gedeihliches bringen! Ab und zu lese
ich in amerikanischen Blättern von Ihren Konzerten. Wenn
dieser Brief Sie erreicht, wird Ihre Tournee wohl schon so
ziemlich zu Ende gekommen sein, und die Frage der
Rückkehr nach Europa wird Sie zweifellos stark beschäftigen.Busoni war am 5. Januar 1915 für eine Konzertreise durch Amerika nach New York aufgebrochen. Aufgrund des Krieges in Europa und der unklaren Bündnislage war die Rückkehr nach Berlin für Busoni als Italiener zunächst nicht möglich, sodass er sich im Herbst 1915 vorläufig in Zürich niederließ (vgl. Riethmüller/Weindel/Shin 2000, Sp. 1381 f.).
Ob Sie in New York ein richtiges Bild von der Lage erhalten
werden, ist nicht so sicher, und daher wird es Ihnen vielleicht
nicht uninteressant sein, zu erfahren, was man hier glaubt.
Vor einigen Wochen war man hier sehr nervös, als in Italien
alles zum Losbrechen bereit schien. Indessen hat die kluge,
überlegte Haltung von Griechenland und der Misserfolg der
Engländer und Franzosen bei den Dardanellen die Neutralen
doch etwas zur Vernunft gebracht.Am 18. März 1915, dem Beginn der Schlacht von Gallipoli, erlitten die Engländer und die Franzosen bei einer Seeoffensive eine schwere Niederlage. Als sie versuchten, sich den Weg durch die osmanischen Dardanellen freizumachen, um schließlich Konstantinopel zu erobern bzw. Zugang zum Schwarzen Meer zu gewinnen, gerieten sie in Seeminen der osmanischen Flotte. In Griechenland nahm man den Kriegseintritt der Türkei und den Angriff auf die Meerengen zum Anlass, über den eigenen Kriegseintritt zu diskutieren und die griechischen Expansionspläne umzusetzen. Die royalistische Regierung lehnte dieses Vorhaben jedoch ab, sodass Griechenland erst 1917 in den Krieg eintrat und damit seine Neutralität aufgab.
Die Krise scheint überwunden zu sein, von Italien hört man sehr wenig, und
man glaubt, dass alles beim Alten bleiben wird.Keine zwei Monate später, am 23. Mai 1915, trat Italien gegen Österreich-Ungarn in den Krieg ein. Wiewohl damit de facto auf Seiten der Entente zugleich Gegner aller Mittelmächte, erklärte Italien gegenüber dem Deutschen Reich formell erst am 28. August 1916 den Krieg.
Die Lage
in Deutschland hat sich nicht wesentlich verändert. Noch immer
lebt man in Berlin angenehm und ohne eigentliche
Entbehrungen, wennschon man mit Mehl und Brot sparsam
wirtschaften muss. Seit dem ungeheuren Erfolg Hindenburgs
im Februar, als die Russen eine Armee von 200.000 Mann
verloren (darunter mehr als die Hälfte gefangen),Die Winterschlacht in Masuren vom 7. bis 22. Februar 1915 forderte 200.000 Opfer auf russischer Seite, darunter 90.000 Gefangene (vgl. Tucker 1998, S. 74f.).
hat sich
die Waage noch entschiedener zu Gunsten Deutschlands
geneigt. Man weiß, dass noch schwere Kämpfe und Opfer
bevorstehen, ist aber von einer erstaunlichen Gelassenheit.
Ich bin der Ansicht, dass Sie nirgends in Europa ruhiger
und sicherer leben werden als in Berlin, und sehe
keinen Grund, warum Sie nicht hierher kommen sollten,
wenn Sie überhaupt nach Europa kommen wollen.
Bei Schirmers kommt jetzt eine neue Vierteljahrsschrift heraus.
Ich habe schon eine größere Studie dafür geschrieben: The renaissance attitude towards music, die im Juli erscheinen
soll.Der Aufsatz erschien im Oktober 1915.
Für den kommenden Winter habe ich mir einen umfassenden
Essay über Ihre Kompositionen vorgenommen, eine Gesamtübersicht Ihres Lebenswerkes, wie es sich mir darstellt:Gemeint ist der im Januar 1917 erschienene Artikel Ferruccio Busoni as a Composer (vgl. Beaumont 1987, S. 210f.).
immer vorausgesetztnatürlich, dass Ihnen dies willkommen
ist und dass auch Schirmers und der Redakteur Sonneck
zustimmen. Von mir selbst habe ich nicht viel mitzuteilen.
Ich erwarte im Mai die Einberufung zum Militärdienst.Hugo Leichtentritt wurde in seinen Zwanzigern aufgrund seiner Größe und wegen mangelnder Fitness vom Militärdienst befreit. 1915 folgte die unerwartete Vorladung zur erneuten Musterung, bei der er als „dauernd untauglich“ eingestuft wurde. Am 2. Januar 1917 wurde Leichtentritt schließlich doch zum Wehrdienst einberufen, nachdem er aufgrund der vielen Verluste im Krieg nach einer dritten Musterung als „kriegsverwendungsfähig“ galt (vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 351).
Ich arbeite mancherlei, ohne indessen zur rechten Sammlung
zu kommen, wegen vieler und starker seelischer Aufregungen.
Indes hoffe ich auf den Frühling, der mir immer wie
ein Labsal, ein Geschenk des Himmels erscheint und mir
Welt und Leben in neuem Licht erstrahlen lässt.
Ihnen und Ihren Angehörigen geht es hoffentlich gut.
Ich begrüße Sie alle herzlichst und drücke die Hoffnung aus
auf baldiges Wiedersehen.
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<lb/>Ob Sie in <placeName key="E0500031" rend="latin">New York</placeName> ein richtiges Bild von der Lage erhalten
<lb/>werden, ist nicht so sicher, und daher wird es Ihnen vielleicht
<lb/>nicht uninteressant sein, zu erfahren, was man hier glaubt.</p>
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2Faksimile
2Diplomatische Umschrift
2XML
Vor einigen Wochen war man hier sehr nervös, als in Italien alles zum Losbrechen bereit schien. Indessen hat die kluge,
überlegte Haltung von Griechenland und der Mißerfolg der
Engländer und Franzosen bei den Dardanellen die Neutralen
doch etwas zur Vernunft gebracht.Am 18. März 1915, dem Beginn der Schlacht von Gallipoli, erlitten die Engländer und die Franzosen bei einer Seeoffensive eine schwere Niederlage. Als sie versuchten, sich den Weg durch die osmanischen Dardanellen freizumachen, um schließlich Konstantinopel zu erobern bzw. Zugang zum Schwarzen Meer zu gewinnen, gerieten sie in Seeminen der osmanischen Flotte. In Griechenland nahm man den Kriegseintritt der Türkei und den Angriff auf die Meerengen zum Anlass, über den eigenen Kriegseintritt zu diskutieren und die griechischen Expansionspläne umzusetzen. Die royalistische Regierung lehnte dieses Vorhaben jedoch ab, sodass Griechenland erst 1917 in den Krieg eintrat und damit seine Neutralität aufgab.
Die Krise scheint über⸗ wunden zu sein, von Italien hört man sehr wenig, und
man glaubt, daß alles beim Alten bleiben wird.Keine zwei Monate später, am 23. Mai 1915, trat Italien gegen Österreich-Ungarn in den Krieg ein. Wiewohl damit de facto auf Seiten der Entente zugleich Gegner aller Mittelmächte, erklärte Italien gegenüber dem Deutschen Reich formell erst am 28. August 1916 den Krieg.
Die Lage
in Deutschland hat sich nicht wesentlich verändert. Noch immer
lebt man in Berlin angenehm und ohne eigentliche
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin Entbehrungen, wennschon man mit Mehl und Brot sparsam
wirtschaften muß. Seit dem ungeheuren Erfolg Hindenburg’s im Februar, als die Russen eine Armee von 200000 Mann
verloren (darunter mehr als die Hälfte gefangen)Die Winterschlacht in Masuren vom 7. bis 22. Februar 1915 forderte 200.000 Opfer auf russischer Seite, darunter 90.000 Gefangene (vgl. Tucker 1998, S. 74f.).
hat sich
die Wage noch entschiedener zu Gunsten Deutschlands geneigt. Man weiß, daß noch schwere Kämpfe und Opfer
bevorstehen, ist aber von einer erstaunlichen Gelassenheit.
Ich bin der Ansicht, daß Sie nirgends in Europa ruhiger
und sicherer leben werden, als in Berlin, und sehe
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<p type="pre-split" rend="indent-first">Vor einigen Wochen war man hier sehr nervös, als in <placeName key="E0500013">Italien</placeName>
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3Faksimile
3Diplomatische Umschrift
3XML
[2]
keinen Grund, warum Sie nicht hierher kommen sollten,
wenn Sie überhaupt nach Europa kommen wollen.
Bei Schirmer’s kommt jetzt eine neue Vierteljahrsschrift heraus.
Ich habe schon eine […]1 Zeichen: überschrieben.
größere Studie dafür geschrieben: The re- naissance attitude towards music, die im Juli erscheinen
soll.Der Aufsatz erschien im Oktober 1915.
Für den kommenden Winter habe ich mir einen umfassend[…]mindestens 1 Zeichen: überschrieben.
en
Essay über Ihre Kompositionen vorgenommen, eine Gesamt⸗ übersicht Ihres Lebenswerkes, wie es sich mir darstellt:Gemeint ist der im Januar 1917 erschienene Artikel Ferruccio Busoni as a Composer (vgl. Beaumont 1987, S. 210f.). immer vorausgesetzt, natürlich, daß Ihnen dies willkommen
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin ist, und daß auch Schirmer’s und der Redakteur Sonneck zustimmen. Von mir selbst habe ich nicht viel mitzuteilen.
Ich erwarte im Mai die Einberufung zum Militärdienst.Hugo Leichtentritt wurde in seinen Zwanzigern aufgrund seiner Größe und wegen mangelnder Fitness vom Militärdienst befreit. 1915 folgte die unerwartete Vorladung zur erneuten Musterung, bei der er als „dauernd untauglich“ eingestuft wurde. Am 2. Januar 1917 wurde Leichtentritt schließlich doch zum Wehrdienst einberufen, nachdem er aufgrund der vielen Verluste im Krieg nach einer dritten Musterung als „kriegsverwendungsfähig“ galt (vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 351). Ich arbeite mancherlei, ohne indessen zur rechten Sammlung
zu kommen, wegen vieler und starker seelischer Aufregungen.
Indes hoffe ich auf den Frühling, der mir immer wie
ein Labsal, ein Geschenk des Himmels erscheint und mir
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Ihnen und Ihren Angehörigen geht es hoffentlich gut,
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<note type="foliation" place="top-right" resp="#archive_fol">[2]</note>
keinen Grund, warum Sie nicht hierher kommen sollten,
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<lb/>Welt und Leben in neuem Licht erstrahlen lä<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>t.
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4Faksimile
4Diplomatische Umschrift
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auf baldiges Wiedersehen.
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Ich begrüße Sie alle herzlichst und drücke die Hoffnung aus
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Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2765 | olim:
Mus.ep. H. Leichtentritt 8 (Busoni-Nachl. B II)
|
Brief von Hugo Leichtentritt an Ferruccio Busoni (Berlin, 26. März 1915), bearbeitet von Juliane Imme, in: Briefwechsel Ferruccio Busoni – Hugo Leichtentritt, hrsg. von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Berlin: Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, : Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, https://busoni-nachlass.org/D0101501 (14. November 2020: zur Freigabe vorgeschlagen)
Download der bereinigten Lesefassung im PDF-Dateiformat (.pdf)
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<title xml:lang="de">Brief von Hugo Leichtentritt an Ferruccio Busoni (Berlin, 26. März 1915)</title>
<title xml:lang="en">Letter by Hugo Leichtentritt to Ferruccio Busoni (Berlin, 26 March 1915)</title>
<author key="E0300093">Hugo Leichtentritt</author>
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<resp>Prepared by</resp>
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<publisher>Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin</publisher>
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<title type="main">Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften</title>
<title type="genre">Briefe</title>
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<editor key="E0300314">Christian Schaper</editor>
<editor key="E0300313">Ullrich Scheideler</editor>
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<summary><persName key="E0300093">Leichtentritt</persName> gratuliert <persName key="E0300017">Busoni</persName> zum Geburtstag; schildert die Lage in <placeName key="E0500943">Europa</placeName> und ermutigt <persName key="E0300017">Busoni</persName>, nach <placeName key="E0500029">Berlin</placeName> zurückzukehren; kündigt neuen <rs key="E0800294">Aufsatz</rs> über <persName key="E0300017">Busonis</persName> Lebenswerk an.</summary>
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<handNote xml:id="archive_fol" scope="minor" medium="pencil" scribe="archivist">Hand des Archivars, der die Foliierung mit Bleistift vorgenommen hat.</handNote>
<handNote xml:id="archive_red" scope="minor" medium="red_pen" scribe="archivist">Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift eingetragen hat.</handNote>
<handNote xml:id="dsb_st_red" scope="minor" medium="red_ink" scribe="archivist">Bibliotheksstempel (rote Tinte)</handNote>
<handNote xml:id="sbb_st_blue" scope="minor" medium="blue_ink" scribe="archivist">Bibliotheksstempel (blaue Tinte)</handNote>
<handNote xml:id="unknown_hand" scope="minor" medium="red_pen" scribe="unknown">Unbekannte Hand, die auf der letzten Briefseite eine Skizze mit Rotstift gezeichnet hat.</handNote>
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<origPlace key="E0500029">Berlin</origPlace>
<origDate when-iso="1915-03-26"/>
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<p>Erfassung von Briefen und Schriften von Ferruccio Busoni, ausgehend von Busonis Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz.</p>
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<editorialDecl>
<hyphenation eol="hard" rend="dh">
<p>Worttrennungen an Zeilenumbrüchen im Original mit Doppelbindestrichen (⸗).</p>
</hyphenation>
<punctuation marks="all" placement="external">
<p>Alle im Text vorkommenden Interpunktionszeichen wurden beibehalten und werden in der diplomatischen Umschrift wiedergegeben. Bei Auszeichnung durch XML-Elemente wurden umgebende Satzzeichen nicht mit einbezogen.</p>
</punctuation>
<quotation marks="none">
<p>Anführungszeichen wurden i. d. R. nicht beibehalten; die Art der Zeichen wurde im Attribut <att>rend</att> der entsprechenden Elemente codiert.</p>
</quotation>
<p>Die Übertragung folgt den Editionsrichtlinien des Projekts. <ptr target="http://www.busoni-nachlass.org/E1000003"/></p>
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<correspAction type="sent">
<persName ref="http://d-nb.info/gnd/116878363" key="E0300093">Leichtentritt, Hugo</persName>
<date when="1915-03-26"/>
<placeName ref="http://www.geonames.org/2950159" key="E0500029">Berlin</placeName>
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<persName ref="http://d-nb.info/gnd/118518011" key="E0300017">Busoni, Ferruccio</persName>
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<language ident="de"/>
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<change when-iso="2020-09-24" who="#E0300327">Kommentierung abgeschlossen; status="proposed".</change>
<change when-iso="2020-11-14" who="#E0300314">Durchsicht abgeschlossen; status="candidate"</change>
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<pb n="1"/>
<note type="shelfmark" place="top-left" resp="#archive_sig">
<subst>
<del rend="strikethrough">Mus.ep. H. Leichtentritt 8 (Busoni-Nachl. <handShift new="#archive_red"/>B II<handShift new="#archive_sig"/>)</del>
<add place="below">Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2765</add>
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</note>
<note type="foliation" place="top-right" resp="#archive_fol" rend="space-below">[1]</note>
<opener>
<dateline rend="space-above right align(center) latin">
<address>
<addrLine>
<placeName key="E0500634">Berlin W.<reg>,</reg> Winterfeld<choice><orig> S</orig><reg>ts</reg></choice>tr. 25<hi rend="sup underline2">a</hi></placeName>.
</addrLine>
</address>
<date when-iso="1915-03-26">
<choice><abbr>d.</abbr><expan>den</expan></choice> 26. M<choice><orig>ae</orig><reg>ä</reg></choice>rz 1915.
</date>
</dateline>
<salute rend="indent">Sehr verehrter Meister <persName key="E0300017" rend="latin">Busoni</persName>!</salute>
</opener>
<p rend="indent-first">
Der herannahende <date when-iso="1915-04-01"><choice><orig>erste</orig><reg>1.</reg></choice> April</date> mahnt mich an Ihren
<lb/>Geburtstag, und ich ergreife gern diese Gelegenheit, einige
<lb/>Zeilen an Sie zu richten. Zunächst meinen herzlichen
<lb/>Glückwunsch. Mögen Leben und Kunst Ihnen im neuen
<lb/>Jahre Erfreuliches und Gedeihliches bringen! Ab und zu lese
<lb/>ich in <placeName key="E0500942">amerikanischen</placeName> Blättern von Ihren Konzerten. Wenn
<lb/>dieser Brief Sie erreicht, <del rend="strikethrough">so</del> wird Ihre Tourn<choice><orig>é</orig><reg>e</reg></choice>e wohl schon so
<lb/>ziemlich zu Ende gekommen sein, und die Frage der
<lb/>Rückkehr nach <placeName key="E0500943">Europa</placeName> wird Sie zweifellos stark beschäftigen.
<note type="commentary" resp="#E0300327"><persName key="E0300017">Busoni</persName> war am <date when-iso="1915-01-05">5. Januar 1915</date> für eine Konzertreise durch <placeName key="E0500942">Amerika</placeName> nach <placeName key="E0500031">New York</placeName> aufgebrochen. Aufgrund des Krieges in <placeName key="E0500943">Europa</placeName> und der unklaren Bündnislage war die Rückkehr nach <placeName key="E0500029">Berlin</placeName> für <persName key="E0300017">Busoni</persName> als Italiener zunächst nicht möglich, sodass er sich im Herbst <date when-iso="1915">1915</date> vorläufig in <placeName key="E0500132">Zürich</placeName> niederließ (vgl. <bibl><ref target="#E0800012"/>, Sp. 1381 f.</bibl>).</note>
<lb/>Ob Sie in <placeName key="E0500031" rend="latin">New York</placeName> ein richtiges Bild von der Lage erhalten
<lb/>werden, ist nicht so sicher, und daher wird es Ihnen vielleicht
<lb/>nicht uninteressant sein, zu erfahren, was man hier glaubt.</p>
<pb n="2"/>
<p rend="indent-first">Vor einigen Wochen war man hier sehr nervös, als in <placeName key="E0500013">Italien</placeName>
<lb/>alles zum Losbrechen bereit schien. Indessen hat die kluge,
<lb/>überlegte Haltung von <placeName key="E0500635">Griechenland</placeName> und der Mi<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>erfolg der
<lb/>Engländer und Franzosen bei den <placeName key="E0500636">Dardanellen</placeName> die Neutralen
<lb/>doch etwas zur Vernunft gebracht.
<note type="commentary" resp="#E0300327">Am <date when-iso="1915-03-18">18. März 1915</date>, dem Beginn der Schlacht von <placeName key="E0500653">Gallipoli</placeName>, erlitten die Engländer und die Franzosen bei einer Seeoffensive eine schwere Niederlage. Als sie versuchten, sich den Weg durch die osmanischen <placeName key="E0500636">Dardanellen</placeName> freizumachen, um schließlich <placeName key="E0500618">Konstantinopel</placeName> zu erobern bzw. Zugang zum Schwarzen Meer zu gewinnen, gerieten sie in Seeminen der osmanischen Flotte. In <placeName key="E0500635">Griechenland</placeName> nahm man den Kriegseintritt der Türkei und den Angriff auf die Meerengen zum Anlass, über den eigenen Kriegseintritt zu diskutieren und die griechischen Expansionspläne umzusetzen. Die royalistische Regierung lehnte dieses Vorhaben jedoch ab, sodass <placeName key="E0500635">Griechenland</placeName> erst <date when-iso="1917">1917</date> in den Krieg eintrat und damit seine Neutralität aufgab.</note>
Die Krise scheint über
<lb break="no"/>wunden zu sein, von <placeName key="E0500013">Italien</placeName> hört man sehr wenig, und
<lb/>man glaubt, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> alles beim Alten bleiben wird.
<note type="commentary" resp="#E0300314">Keine zwei Monate später, am <date when-iso="1915-05-23">23. Mai 1915</date>, trat <placeName key="E0500013">Italien</placeName> gegen <placeName key="E0500515">Österreich-Ungarn</placeName> in den Krieg ein. Wiewohl damit de facto auf Seiten der Entente zugleich Gegner aller Mittelmächte, erklärte <placeName key="E0500013">Italien</placeName> gegenüber dem <placeName key="E0500015">Deutschen Reich</placeName> formell erst am <date when-iso="1916-08-28">28. August 1916</date> den Krieg.</note>
Die Lage
<lb/>in <placeName key="E0500015">Deutschland</placeName> hat sich nicht wesentlich verändert. Noch immer
<lb/>lebt man in <placeName key="E0500029" rend="latin">Berlin</placeName> angenehm und ohne eigentliche
<note type="stamp" place="margin-right" resp="#dsb_st_red">
<stamp xml:id="dsb_p2" rend="round border align(center) small rotate(90)">
Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
<lb/>Entbehrungen, wennschon man mit Mehl und Brot sparsam
<lb/>wirtschaften mu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>. Seit dem ungeheuren Erfolg <persName key="E0300562" rend="latin">Hindenburg<orig>’</orig>s</persName>
<lb/>im <date from-iso="1915-02" rend="latin">Februar</date>, als die Russen eine Armee von 200<reg>.</reg>000 Mann
<lb/>verloren (darunter mehr als die Hälfte gefangen)<reg>,</reg>
<note type="commentary" resp="#E0300327">Die Winterschlacht in <placeName key="E0500029">Masuren</placeName> vom <date from-iso="1915-02-07" to-iso="1915-02-22">7. bis 22. Februar 1915</date> forderte 200.000 Opfer auf russischer Seite, darunter 90.000 Gefangene (vgl. <bibl><ref target="#E0800292"/>, S. 74f.</bibl>).</note>
hat sich
<lb/>die Wa<reg>a</reg>ge noch entschiedener zu Gunsten <placeName key="E0500015">Deutschlands</placeName>
<lb/>geneigt. Man weiß, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> noch schwere Kämpfe und Opfer
<lb/>bevorstehen, ist aber von einer erstaunlichen Gelassenheit.
<lb/>Ich bin der Ansicht, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> Sie nirgends in <placeName key="E0500943">Europa</placeName> ruhiger
<lb/>und sicherer leben werden<orig>,</orig> als in <placeName key="E0500029" rend="latin">Berlin</placeName>, und sehe
<pb n="3"/>
<note type="foliation" place="top-right" resp="#archive_fol">[2]</note>
keinen Grund, warum Sie nicht hierher kommen sollten,
<lb/>wenn Sie überhaupt nach <placeName key="E0500943">Europa</placeName> kommen wollen.
</p>
<p rend="indent-first">Bei <orgName key="E0600129" rend="latin">Schirmer<orig>’</orig>s</orgName> kommt jetzt eine neue <rs key="E0600154">Vierteljahrsschrift</rs> heraus.
<lb/>Ich habe schon ein<add place="inline">e</add> <subst><del rend="overwritten"><gap extent="1" unit="char" reason="overwritten"/></del><add place="across">g</add></subst>rößere Studie dafür geschrieben: <title key="E0800293" rend="latin" xml:lang="en">The re
<lb break="no" rend="sh"/>naissance attitude towards music</title>, die im <date when-iso="1915-07">Juli</date> erscheinen
<lb/>soll.
<note type="commentary" resp="#E0300327">Der <bibl><ref target="#E0800293">Aufsatz</ref></bibl> erschien im <date when-iso="1915-10">Oktober 1915</date>.</note>
Für den <add place="above">kommenden</add> Winter habe ich mir eine<add place="inline">n</add> umfassend<subst><del rend="overwritten"><gap atLeast="1" unit="char" reason="overwritten"/></del><add place="across">en</add></subst>
<lb/><rs key="E0800294">Essay</rs> über Ihre Kompositionen vorgenommen, eine Gesamt
<lb break="no"/>übersicht Ihres Lebenswerkes, wie es sich mir darstellt:
<note type="commentary" resp="#E0300327">Gemeint ist der im <date when-iso="1917-01">Januar 1917</date> erschienene Artikel <bibl><ref target="#E0800294">Ferruccio Busoni as a Composer</ref></bibl> (vgl. <bibl><ref target="#E0800060"/>, S. 210f.</bibl>).</note>
<lb/>immer vorausgesetzt<subst><del rend="transformed">, </del><add place="transformed">n</add></subst>atürlich, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> Ihnen dies willkommen
<note type="stamp" place="margin-left" resp="#dsb_st_red">
<stamp sameAs="#dsb_p2" rend="round border align(center) small rotate(90)">
Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
<lb/>ist<orig>,</orig> und da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> auch <orgName key="E0600129" rend="latin">Schirmer<orig>’</orig>s</orgName> und der Redakteur <persName key="E0300563" rend="latin">Sonneck</persName>
<lb/>zustimmen. Von mir selbst habe ich nicht viel mitzuteilen.
<lb/>Ich erwarte im <date when-iso="1915-05">Mai</date> die Einberufung zum Militärdienst.
<note type="commentary" resp="#E0300327"><persName key="E0300093">Hugo Leichtentritt</persName> wurde in seinen Zwanzigern aufgrund seiner Größe und wegen mangelnder Fitness vom Militärdienst befreit. <date when-iso="1915">1915</date> folgte die unerwartete Vorladung zur erneuten Musterung, bei der er als <q>dauernd untauglich</q> eingestuft wurde. Am <date when-iso="1917-01-02">2. Januar 1917</date> wurde <persName key="E0300093">Leichtentritt</persName> schließlich doch zum Wehrdienst einberufen, nachdem er aufgrund der vielen Verluste im Krieg nach einer dritten Musterung als <q>kriegsverwendungsfähig</q> galt (vgl. <bibl><ref target="#E0800277"/>, S. 351</bibl>).</note>
<lb/>Ich arbeite mancherlei, ohne indessen zur rechten Sammlung
<lb/>zu kommen, wegen vieler und starker seelischer Aufregungen.
<lb/>Indes hoffe ich auf den Frühling, der mir immer wie
<lb/>ein Labsal, ein Geschenk des Himmels erscheint und mir
<lb/>Welt und Leben in neuem Licht erstrahlen lä<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>t.
<lb/>Ihnen und Ihren Angehörigen geht es hoffentlich gut<choice><sic>,</sic><corr>.</corr></choice>
<pb n="4"/>
Ich begrüße Sie alle herzlichst und drücke die Hoffnung aus
<lb/>auf baldiges Wiedersehen.
</p>
<closer rend="align(center)">
Ihr sehr ergebener
<lb/><signed rend="latin"><persName key="E0300093">H. Leichtentritt</persName>.</signed>
</closer>
<note type="stamp" place="bottom-center" resp="#sbb_st_blue">
<stamp>Nachlaß Busoni</stamp>
</note>
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