Ferruccio Busoni an Philipp Jarnach arrow_backarrow_forward

Berlin · 2. Oktober bis 3. Oktober 1920

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Diplomatische Umschrift
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N.Mus.Nachl. 30, 66
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Berlin den 2. Okt. 1920

LPhJ allmälig beginne ich an meine
Freunde zu schreiben. Solange Gerda
nicht hier war, hatte ich mich mo-
ralisch und gesellschaftlich hermetisch abgesperrt;
genoss die Einsamkeit, durchwanderte meine
Wohnung
, worin ich Vergessenes entdeckte, Erinnertes
wieder begrüsste u. Beschäftigung vollauf hatte.
Dieser Art Beschäftigung binhab’ ich noch lange
nicht zu Ende gebracht: – noch gestern griff
ich n nach einer mir „unbekannten“ Ausgabe
des Don Quui[…] mindestens 1, höchstens 2 Zeichen: unleserlich. jjote, Madrid MDCCL, Diese Ausgabe des Don Quijote von 1750 war Bestandteil der nachgelassenen Bibliothek Busonis. Vgl. Perl 1925, S. 20 (dort Nr. 194). mit kuriosen
alten Holzschnitten; welches Buch ich (kurz
vor dem fatalen Abschied) entsprechend in
Pergament hatte binden lassen, mit schwarzer
Aufschrift auf dem Rücken. Ich hatte damals
die Binde-Wuth, u. bin darüber froh. Heute
kostet ein Folio Band in Ganz Leder 1000 Mark,
die i [für] den ich damalseinstens 50 bezahlte! –

Sofort konnte ich – in meiner
„Cité des Livres“ – an die Arbeit gehen. Vor Heute,
vor einer Stunde vollendete ich einen „Tanzwalzer“
f. Orch. (43 Seiten Partitur), und auch die
unter Schmerzen u. welcchselvollen Emotionen
g entstandene Beaumont 1987 (325) übersetzt mit präsentischem Anteil („arising as it did from anguish and unstable emotions“). Toccata fand hier ihren
Abschluss. Sie (Er ist allerdings nicht ganz
“encore deux pages de la même façon”.
wie Sie prophezeiten; aber er macht keinen
für den Gegenspieler verblüffenden Rösselsprünge.)

Berlin, den 2. Okt. 1920

LPhJ

allmählich beginne ich, an meine Freunde zu schreiben. Solange Gerda nicht hier war, hatte ich mich moralisch und gesellschaftlich hermetisch abgesperrt; genoss die Einsamkeit, durchwanderte meine Wohnung, worin ich Vergessenes entdeckte, Erinnertes wieder begrüßte und Beschäftigung vollauf hatte. Diese Art Beschäftigung hab’ ich noch lange nicht zu Ende gebracht: – noch gestern griff ich nach einer mir „unbekannten“ Ausgabe des Don Quijote, Madrid MDCCL, Diese Ausgabe des Don Quijote von 1750 war Bestandteil der nachgelassenen Bibliothek Busonis. Vgl. Perl 1925, S. 20 (dort Nr. 194). mit kuriosen alten Holzschnitten; welches Buch ich (kurz vor dem fatalen Abschied) entsprechend in Pergament hatte binden lassen, mit schwarzer Aufschrift auf dem Rücken. Ich hatte damals die Binde-Wut und bin darüber froh. Heute kostet ein Folio-Band in Ganzleder 1000 Mark, für den ich einstens 50 bezahlte!

Sofort konnte ich – in meiner „Cité des Livres“ – an die Arbeit gehen. Heute, vor einer Stunde, vollendete ich einen „Tanzwalzer“ für Orchester (43 Seiten Partitur), und auch die unter Schmerzen und wechselvollen Emotionen entstandene Toccata fand hier ihren Abschluss. (Er ist allerdings nicht ganz „encore deux pages de la même façon“, wie Sie prophezeiten; aber er macht keine für den Gegenspieler verblüffenden Rösselsprünge.)

Mein geistiger Zustand scheint demnach auf normaler Höhe zu stehen. Anders steht es mit dem seelischen, der mir selber fremd und nicht ganz fassbar vorkommt. Ich werde recht einsam und wundere mich, dass Andere die inzwischen durchlaufene Distanz nicht merken. Die Menschen sowohl als die ganze Stadt. – Die meisten von den Ersteren sind dort geblieben, wo ich sie ließ. Aber gerade die, die sich anstrengen, nicht zurückzubleiben, erscheinen mir als die Geschwächten – mit ihnen verstehe ich mich am wenigsten, weil wir uns beide geändert haben; während ich den Ton der Anspruchsloseren von früher her kenne und – mit Überwindung – darin einstimmen kann. – Berlin ist abends finster. Zum Vergnügen geht keiner auf die Straße. Um zehn Uhr nachts, wenn es früher „losging“, ist es jetzt zu Ende. Aber die Menschen haben einen gütigen und bescheidenen Ton. Die Kleidung ist aufgewärmtes Gemüse. Der trägt noch eine Militärjacke, und die etwas Zurechtgeschnittenes vorkrieglicher Garderobe. Die Mädchen haben gute, ernste Haltung. Sie beschäftigen sich alle in irgendeinem Amt oder Beruf und gehen gedankenvoll ihren Wegenszielen nach.

Die Preise sind – nach Ziffern – fantastisch. In Wirklichkeit aber zehre ich noch immer an den 500 frcs., Gemeint sind Schweizer Franken. die ich mitnahm und die in Zürich längst verausgabt wären. – So viel für heute, und Dank für den lieben Brief.

Grüße! Wünsche! Ihr herzlich ergebener

3. Oktober 1920Sonntag früh

Der Brief von gestern blieb liegen; also erbrach ich ihn heute, um ihn durchzulesen. Inzwischen habe ich dem Tanzwalzer noch sechs Seiten „Introduktion“ hinzugefügt, die des Stückes bester Teil geworden. Das erfreute mich. –

Ein schöner Herbstvormittag; meine Fenster sehen auf den großen Platz mit Gartenanlagen, darin des Nachmittages Kinder spielen und Bonnen Kindermädchen, zu frz. „bonne“ (die Gute). stricken. Vier verschiedene Tramway-Linien führen hier vorbei. Es gibt Automobile vollauf. – Doch werde ich der Melancholie nicht ledig. Ich habe wieder einmal zu kämpfen, meinen Maßstab aufrechtzuhalten, meine Treffsicherheit und meinen Humor zu wahren. Das sind die strengen Mühen, die nach außen unbemerkt bleiben. Diese eigene Disziplin nimmt einen großen Teil der Kräfte. – Gerda war die beiden ersten Tage heiter und fast glücklich. – Nun ist sie stiller. – Es scheint mir durchaus unmöglich, dass ein Einzelner alles Gesunkene heben könne: und es widerstrebt mir zutiefst, mich in das Faktum zu fügen. Wie werde ich bis zum Ende dieser Saison denken und empfinden? – Mittlerweile ist der Möbelwagen schon angekommen, dessen Inhalt, in meine Wohnung ausgeladen, mich noch fester an Berlin kettet.

F. B.

                                                                
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2Faksimile
2Diplomatische Umschrift
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N.Mus.Nachl. 30, 66
2

Mein geistiger Zustand scheint demnach
auf normaler Höhe zu stehen. Anders
steht es mit dem seelischen, Beaumont 1987 (325) übersetzt „geistiger Zustand“ mit „morale“ und „seelischer“ mit „emotions“. der mir selber
fremd und nicht ganz fassbar […] höchstens 2 Zeichen: unleserlich. vorkommt.
Ich werde recht einsam, u. wundere mich,
dass Andere die inzwischen durchlaufene
Distanz nicht merken. Die Menschen sowohl
als die ganze Stadt. – Die meisten von den
ersteren sind dort geblieben, wo ich sie liess.
Aber gerade die, die sich anstrengen
nicht zurückzubleiben, erscheinen mir als
die Geschwächten – mit ihnen verstehe
ich mich am wenigsten, weil wir uns
beide geändert haben; während ich den
Ton der […] 2 Zeichen: unleserlich. Anspruchsloseren von früher
her kenne u. – mit Überwindung –
darin einstimmen kann. – Berlin ist
Abends finster. Zum Vergnügen geht keiner
auf die Strasse. Um zehn Uhr Nachts, wenn
es früher „los gieng“ ist es jetzt zu Ende.
Aber die Menschen haben einen gütigen
u. bescheidenen Ton. Die Kleidung ist
aufgewärmtes Gemüse. Der trägt noch eine
Militärjacke, und die etwas Zurechtgeschnittenes
vorkrieglicher Garderobe. Die Mädchen haben
gute ernste Haltung. Sie beschäftigen sich
alle in irgend einem Amt oder Beruf u. gehen
gedankenvoll ihren Wegenszielen nach.


[am linken Rand, längs:]

Die Preise sind – nach Ziffern – fantastisch. In Wirklichkeit aber
zehre ich noch immer an den 500 frcs. Gemeint sind Schweizer Franken. die ich mitnahm, u. die
in Zürich längst verausgabt wären. – Soviel für heute, und
Dank für den lieben Brief. Grüsse! Wünsche! Beaumont 1987 (326) übersetzt nur: „Greetings!“ Ihr herzl. ergeb.

                                                                
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N.Mus.Nachl. 30, 66
3
3. Oktober 1920Sonntag früh

Der Brief von gestern blieb liegen; also
lerbrach ich ihn heute, um ihn durchzulesen.
Inzwischen habe ich dem Tanzwalzer noch sechs
Seiten „Introduktion“ hinzugefügt, die
des Stückes bester Theil geworden. Das erfreute
mich. –

Ein schöner Herbstvormittag; meine
Fenster gsehen auf den grossen Platz mit
Garten Anlagen, darin des Nachmittages
Kinder spielen und Bonnen Kindermädchen, zu frz. „bonne“ (die Gute). stricken.
Vier verschiedene Tramway-Linien führen
hier vorbei. Es gibt Automobile vollauf.
– Doch werde ich der Melancholie nicht ledig.
Ich habe wieder einmal zu kämpfen,
meinen Maasstab aufrechtzuhalten,
meine Treffsicherheit u. meinen Humor
zu wahren. Das sind die grossen strengen
Mühen, die nach aussen unbemerkt bleiben.
Diese eigene Disziplin nimmt einen
grossen Theil der Kräfte. – Gerda war die
beiden ersten Tage heiter und fast glücklich. –
Nun ist sie stiller. Beaumont 1987 (326) übersetzt: „Now she is silent.“ – Es scheint mir durchaus
unmöglich, dass ein Einzelner gegen alles
Gesunkene heben könne: und es widerstrebt
mir zutiefst, sie mich in das Factum zu fügen.
Wie werde ich bis zum Ende dieser Saison
denken u. empfinden? – Mittlerweile ist der
Möbelwagen schon angekommen, dessen Inhalt in
meine Wohnung ausgeladen, mich noch fester an Berlin
kettet. – F. B.

                                                                
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Preußischer
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bibliothek
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Staats-
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zu Berlin
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2 Okt 20
                                                                
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Berlin 3 Okt
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Preußischer
Staats-
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zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | DE-611-HS-3356147 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
3 Blatt, 3 beschriebene Seiten
Kollation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Hand Gerda Busonis, die auf der Rückseite von Blatt 2 und 3 mit Bleistift das Datum notiert hat
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 123456

Zusammenfassung
Busoni berichtet nach seiner Rückkehr nach Berlin von anfänglicher Einsamkeit und Produktivität in seiner „Cité des Livres“; hat einen Tanzwalzer komponiert und die Toccata für Klavier fertiggestellt; schildert Eindrücke von und Befremden gegenüber der Stadt, spürt „die inzwischen durchlaufene Distanz“.
Incipit
allmählich beginne ich an meine Freunde zu schreiben

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
29. Oktober 2021: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition
Frühere Ausgaben
Beaumont 1987, S. 325 f.