Philipp Jarnach an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Zürich · 19. September 1920

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N.Mus.Nachl. 30, 120

Mein lieber Meister und Freund!

Meinen Vorsatz, Ihnen gleich nach
Ihrer Abreise zu schreiben Busoni hatte Zürich 9. September endgültig verlassen, um als Professor an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin eine Kompositions-Meisterklasse zu leiten (vgl. Couling 2005, S. 322). konnte ich
zu meinem Ärger nicht ausführen,
da ich, die letzten zehn Tage so gut
wie keine freie Zeit hatte. Dennoch
beschäftige ich mich fast ununter-
brochen mit Ihnen, d. h. der letzte
Termin für die Ablieferung meines
Aufsatzes, der im Busoni-Heft des
„Anbruch“ erscheinen soll, rückte
heran, und es war höchste Zeit,
dass ich mich ernstlich an die Sache
machte. – Nun brachte ich es

Mein lieber Meister und Freund!

Meinen Vorsatz, Ihnen gleich nach Ihrer Abreise zu schreiben, Busoni hatte Zürich 9. September endgültig verlassen, um als Professor an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin eine Kompositions-Meisterklasse zu leiten (vgl. Couling 2005, S. 322). konnte ich zu meinem Ärger nicht ausführen, da ich die letzten zehn Tage so gut wie keine freie Zeit hatte. Dennoch beschäftige ich mich fast ununterbrochen mit Ihnen, d. h. der letzte Termin für die Ablieferung meines Aufsatzes, der im Busoni-Heft des „Anbruch“ erscheinen soll, rückte heran, und es war höchste Zeit, dass ich mich ernstlich an die Sache machte. – Nun brachte ich es doch zuwege, und gestern wurde das Manuskript abgeschickt; am selbigen Abend saßen wir mit Biolley im stillen Saufwinkel und feierten die glückliche Geburt.

Der Abschied von Ihnen wäre uns gar schwer gewesen, mein lieber Meister, wenn wir nicht die Hoffnung hätten, bald wieder in Ihre Nähe zu kommen. Und auch so war es kein schöner Tag. Ich dachte daran, wie Sie allein reisen und alles so verändert finden würden – und kannte aus eigener Erfahrung die Eindrücke, die Sie erwarteten. Busoni zog 1920 nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Zürich wieder in seine alte Wohnung in Berlin zurück. Umso glücklicher waren wir, durch Frau Busoni zu erfahren, dass die Sachen besser liegen, als Sie vermutet hatten. Ich denke, dass Sie, trotz allem, eine Freude empfanden, als Sie die Schwelle Ihrer alten, heimischen Arbeitsstätte betraten, und dass die mannigfachen Interessen, die Ihrer in Berlin warten, Ihnen über den ersten bemühenden Eindruck hinweghelfen?

Unsere Freundin Alicja schrieb aus Basel und Berlin, den letzten Etappen vor ihrer Rückkehr in die Heimat; wir wünschen ihr von ganzem Herzen eine erträgliche Lösung aus ihrer gegenwärtigen Ungewissheit, die Sachen sehen drüben recht schlimm aus; Polen befand sich 1919–1921 im polnisch-sowjetischen Krieg. ich würde an ihrer Stelle lieber irgendetwas unternehmen – aber dafür fehlt ihr entweder die Kraft oder der Mut, oder beides zusammen.

Verzeihen Sie diesen nichtssagenden Brief, den ich nicht in Muße habe schreiben können.

Empfangen Sie die allerherzlichsten Grüße von Ursula und Ihrem in Treue und Liebe ergebenen

PHJ. Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).

Zürich, den 19.IX.1920.
                                                                
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doch zuwege, und gestern wurde das
Manuskript abgeschickt; am selbigen
Abend sassen wir mit Biolley im
stillen Saufwinkel und feierten
die glückliche Geburt.

Der Abschied von Ihnen wäre uns
gar schwer gewesen, mein lieber
Meister, wenn wir nicht die Hoffnung
hätten, bald wieder in Ihre Nähe
zu kommen. Und auch so, war es
kein schöner Tag. Ich dachte daran,
wie Sie allein reisen und alles so
verändert finden würden, – und
kannte aus eigener Erfahrung
die Eindrücke, die Sie erwarteten. Busoni zog 1920 nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Zürich wieder in seine alte Wohnung in Berlin zurück.
Umso glücklicher waren wir, durch

                                                                
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Frau Busoni zu erfahren, dass die
Sachen besser liegen, als Sie
vermutet hatten. Ich denke, dass
Sie, trotz allem, eine Freude empfan⸗
den, als Sie die Schwelle Ihrer
alten, heimischen Arbeitsstätte
be⸗
traten, und dass die mannigfachen
Interessen, die Ihrer in Berlin warten,
Ihnen über den ersten bemühenden
Eindruck hinweghelfen? –

Unsere Freundin Alicja schrieb aus
Basel und Berlin, den letzten Etappen
vor ihrer Rückkehr in die Heimat;
wir wünschen ihr von ganzem
Herzen eine erträgliche Lösung aus
ihrer gegenwärtigen Ungewissheit,

                                                                
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die Sachen sehen drüben recht schlimm
aus; Polen befand sich 1919–1921 im polnisch-sowjetischen Krieg. ich würde an ihrer Stelle lieber
irgend etwas unternehmen – aber
dafür fehlt ihr entweder die Kraft
oder der Mut, oder beides zusammen.

Verzeihen Sie diesen nichtssagenden
Brief, den ich nicht in Musse
habe schreiben können. Empfangen
Sie die allerherzlichsten Grüsse
von Ursula und Ihrem in Treue
und Liebe ergebenen

PHJ. Transkription unsicher. Alternative Lesart:
PRJ.
Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).

Zürich den 19.IX.1920.
Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                
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zu N.Mus.Nachl. 30,120

Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,120 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Brief und Umschlag sind gut erhalten.
Umfang
1 Bogen, 4 beschriebene Seiten
Kollation
Seitenfolge: 2, 3, 4, 1
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)

Zusammenfassung
Jarnach hat seinen Busoni-Aufsatz für die Musikblätter des Anbruch fertiggestellt; sinniert über Busonis Ankunft in Berlin; berichtet von Alicja Simons Rückkehr nach Polen.
Incipit
Meinen Vorsatz, Ihnen gleich nach Ihrer Abreise zu schreiben

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
21. Oktober 2021: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition