Lieber, teuerer Freund,
die Ereignisse haben mich die Worte nicht mehr
finden lassen, ich konnte mich zu keinem
Brief entschließen, sosehr ich mich auch gesehnt
habe, von Ihnen zu hören. Ihr Brief, für den ich
innigst danke, hat mir die Zunge gelöst, und ich
bin glücklich, Ihre Schriftzüge zu sehen, zu wissen,
dass Sie alle gesund sind. Ich habe Wien im
Juni verlassen und bin seither nur acht Tage im
September dort gewesen, die restliche Zeit habe ich,
mit Ausnahme von vier Wochen in Gastein,
Oppenheimer hielt sich wegen Rückenschmerzen und Schlaflosigkeit wiederholt zur Kur in Bad Gastein auf (vgl. ihre Briefe vom 18.7.1905, 11.7.1912 und 30.6.1924).
ganz
in Aussee verbracht. Ich wäre wahrscheinlich
trotz der drückenden Einsamkeit noch dort,
wenn nicht der gänzliche Lichtmangel mich
fortgetrieben hätte. Wir haben weder Gas noch
elektrisches Licht, und das Petroleum war zu Ende.
Ich habe in Ischl Zuflucht genommen und
will hier abwarten, wie alle Verhältnisse sich
gestalten und die Reise halbwegs annehmbar
wird. Statt acht Stunden dauert die Fahrt jetzt mehr
als 18, meist in ungeheiztem Wagen und so eng
gedrängt, dass man von Glück sagen muss,
wenn man einen Sitzplatz erringt.
Obwohl ich im Sommer fast immer von
lieben Freunden umgeben war, konnte weder ich
noch die anderen eine Stunde froh werden, nie
sorglos sein, es stand alles gleichsam unter
trüben Zeichen, und ein schwerer Druck hat
gelastet. Im Herbst haben sich alle düsteren
Ahnungen schmerzvoll erfüllt, und seither
erlitten wir Schlag auf Schlag, so schwer, so
hart, dass man verstummt.
Der Krieg ist zu Ende, heißt es, man
spricht von Frieden – ja, man spricht –, aber
das Wort hat keinen Inhalt, solange
die Menschen sich in anderer Form bekämpfen,
solange der Hass über die Welt geht und der
Jammer, das Elend nicht gelindert sind.
Es herrscht Hunger und Not bei uns, die
Bevölkerung hat keine Lebensmittel, keine
Bekleidung und leidet bitter durch die Kälte,
der Mangel an Kohlen droht katastrophal
zu werden.
Gott helfe! Das ist alles, was sich sagen
und hoffen lässt.
Ich flüchte zu dem Glauben, dass es
geschichtliche Notwendigkeiten sind, die
sich vollziehen, dass alle Geschehnisse nicht
zwecklos gewesen sind, nicht Einzelne daran
Schuld tragen, aber das nimmt nichts von
dem Leid der Gegenwart, nichts von dem
unsäglichen Mitleid, das mir das Herz
zusammenpresst. Das Mitleid ist so groß,
dass es die eigenen, schweren Sorgen ganz
zum Schweigen bringt.
Es war wahrlich nicht meine Absicht,
Ihnen zu klagen, lieber, verehrter Freund,
aber was ich empfinde, kommt unwillkürlich
zum Ausdruck.
Wie werden Ihre Entschlüsse fallen?
Ehe Sie Dauerndes bestimmen, wird wohl noch
eine Spanne Zeit vergehen müssen, es heißt
noch abwarten, wie die Welt sich formt und
gestaltet. Ich habe mir in diesen letzten
Wochen nichts mehr gewünscht, als in
die Schweiz zu kommen, leider vergebens.
Augenblicklich ist es unerreichbar. Niemand
erhält hier die Erlaubnis, und noch weniger
das notwendige Geld in Francs.
Ich muss es also aufgeben und auch dafür
auf andere Verhältnisse warten und hoffen!
Die Welt ist für uns eng geworden, wie mit
eisernen Ringen umklammert, heißt es stillhalten und bleiben, wo man ist; einmal wird
sich ja die Zwangsjacke lösen.
Vielleicht bringt mir das Frühjahr, der Sommer
die innig und lang ersehnte Freude, Sie
und Ihre liebe Frau wieder zu sehen, zu
sprechen, ich will darauf hoffen und mich
daran aufrichten.
Dass Ihre beiden lieben Söhne bewahrt bleiben,
nicht mehr Gefahr laufen und mit ihnen so
viele Hunderttausende nicht mehr hingeopfert
werden, ist ein unendlicher, unaussprechlicher
Segen, das einzige Licht in tiefer Nacht.
Die Publikation des Faust erbitte ich und erwarte
dieselbe mit Spannung.
Sie sagen in Ihrem Brief, dass Sie wirtschaftlich
von vorne anfangen müssen, das macht
mich tief erbeben, jetzt – in einer Lebensphase,
die Freiheit und Ruhe fordert, damit Sie
ungestört und ohne Sorgen schaffen, komponieren.
Auch darin hat der Krieg Furchtbares verschuldet,
vieles, was fest gesichert und gefügt war,
entwurzelt.
Schriftlich lässt sich alles nur unvollkommen
sagen, und so heißt es immer wieder schweigen
und warten.
Ihr armer Freund Kapff hat ausgelitten und war
in seiner Krankheit zuletzt gut und liebevoll
von einem Freund umgeben, der mir den Tod
des Herrn von Kapff mitgeteilt hat. Dieser Freund,
namens Lampa, hat, wie es scheint, für alles
bestens gesorgt und versichert, dass das Ende
schmerzlos war.
Anton Lampa hatte Busoni bereits selbst über den Tod des gemeinsamen Freundes Otto von Kapff informiert (Brief vom 2.9.1918, D-B, Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2702).
Bald geht das Jahr zur Neige und gibt uns
damit sein erstes freundliches Geschenk.
Möge es viel von allem Unglück, das es
gebracht, mitnehmen und 1919 die heißen
Wünsche erfüllen, die ich für Sie und Ihre
Lieben hege.
Innigste Grüße für Sie und
Frau Gerda.
In unveränderlicher Freundschaft