Ferruccio Busoni to Hans Huber arrow_backarrow_forward

Zürich · April 14, 1916

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18.14 April 1916

Lieber Doktor
u. verehrtester Freund,

ich danke für die nachsichtige
Aufnahme meiner Bedenken zum
Bellinda-Text. Diese bezogen sich
nicht auf den Stoff, sondern auf
die Worte u. dichterische Gestaltung.
Ich habe ja immer behauptet
(u. wiederhole) dass die Voraussetzungen
des Dramas andere sind, als die der
Oper, u. dass der gemeinsame Begriff
‹Theater›
diese beiden vereint, u. also verwechselt.
Darum steht mir die Zauberflöte
als MusterBeispiel da; darum
hatte ich in Rom einen über-
zeugenden (zum Theil ergreifenden)
Eindruck von einem – – Marionetten=
Theater, worauf eine kostbare
kl. kom. Oper des 20-jähr. Rossini
dargestellt und gesungen wurde!
(„L’occasione fa il ladro“.)

18.

Lieber Doktor und verehrtester Freund,

ich danke für die nachsichtige Aufnahme meiner Bedenken zum Bellinda-Text. Diese bezogen sich nicht auf den Stoff, sondern auf die Worte und dichterische Gestaltung. Ich habe ja immer behauptet (und wiederhole), dass die Voraussetzungen des Dramas andere sind als die der Oper und dass der gemeinsame Begriff ‚Theater‘ diese beiden vereint und also verwechselt. Darum steht mir die Zauberflöte als Musterbeispiel da; darum hatte ich in Rom einen überzeugenden (zum Teil ergreifenden) Eindruck von einem – – Marionettentheater, worauf eine kostbare kleine komische Oper des 20-jährigen Rossini dargestellt und gesungen wurde! („L’occasione fa il ladro“.) Zu meinem geplanten Musikdrama (?) habe ich der Dichtung eine Einleitung in „Oktaven“ Wortspiel mit dem gleichlautenden Begriff für „achtzeilige Strophe“. (um den Klavierspieler nicht ganz zu verleugnen) verfasst, darinnen folgende Zeilen figurieren: Die beiden Achtzeiler entstammen dem poetologischen Prolog „Der Dichter an die Zuschauer“ aus Doktor Faust.

Die Bühne zeigt vom Leben die Gebärde
Un-Echtheit steht auf ihrer Stirn gezeigt,
Auf dass sie nicht zum Spiegel-Zerrbild werde
Als ‚Zauberspiegel‘ wirk’ sie schön und echt.
Gebt zu, dass sie das Wahre nur entwerte
Dem Unglaubhaften wird sie eh’r gerecht
Und wenn ihr sie als Wirklichkeit belachtet,
Zwingt sie zum Gruß, als reines Spiel betrachtet.
In dieser Form allein ruft sie nach Tönen,
Musik steht dem Gemeinen abgewandt,
Ihr Körper ist die Luft, ihr Klingen Sehnen,
Sie schwebt: das Wunder ist ihr Heimatland.
D’rum hielt ich Umschau unter allen jenen,
Die mit dem Wunder wirkten Hand in Hand:
Ob gut, ob böse; ob verdammt, ob selig,
Sie zieh’n mich an mit Macht unwiderstehlich.

Sie sehen, wir sind einer Meinung!

Ich freue mich zu hören, dass ich Lügen gestraft worden durch Wirkung und Erfolg Ihres Werkes, freue mich darüber allerherzlichst.

Die „indianische“ besitze ich nur in einem Studienexemplar, dessen ich vorläufig für die Basler Aufführung Das Extra-Konzert der Basler Allgemeinen Musikgesellschaft am 29. April 1916 (vgl. Refardt 1939, S. 16). benötige. Dann sollen Sie es haben, da Sie ein so sehr freundliches Interesse danach bekunden.

Zum neuen Werke, dem Gletscher-Aufstieg, wünsche ich alles Erhebende.

Seien Sie verehrungsvoll gegrüßt

von Ihrem herzlich ergebenen

F. Busoni

Zürich, am 14. April 1916.
                                                                
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(2) Zu meinem geplanten Musikdrama (?)
habe ich, der Dichtung, eine Einleitung
in "Oktaven" Wortspiel mit dem gleichlautenden Begriff für „achtzeilige Strophe“. (um den Klavierspieler
nicht ganz zu verleugnen) verfasst,
darinnen folgende Zeilen figurieren: Die beiden Achtzeiler entstammen dem poetologischen Prolog „Der Dichter an die Zuschauer“ aus Doktor Faust.

Die Bühne zeigt vom Leben die Geberde
Un-Echtheit steht auf ihrer Stirn gezeigt,
Auf dass sie nicht zum Spiegel-Zerrbild werde
Als „Zauberspiegel“ wirk’ sie schön u. echt.
Gebt zu, dass sie das Wahre nur entwerthe
Dem Unglaubhaften wird sie eh’r gerecht
Und wenn ihr sie als Wirklichkeit belachtet,
zwingt sie zum Gruß, als reines Spiel
betrachtet.
M In dieser Form allein ruft sie nach Toenen,
Musik steht dem Gemeinen abgewandt,
Ihr Körper ist die Luft, ihr Klingen Sehnen,
sie schwebt: das Wunder ist ihr Heimathland.
D’rum hielt ich Umschau unter allen Jenen,
Die mit dem Wunder wirkten Hand in Hand:
Ob gut, ob böse; ob verdam̅t, ob selig,
sie zieh’n mich an mit Macht unwiderstehlich.

Sie sehen, wir sind einer Meinung!

                                                                
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(3)

Ich freue mich zu hören,
dass ich Lügen gestraft worden
durch Wirkung u. Erfolg Ihres
Werkes
, freue mich darüber
allerherzlichst.

Die „indianische“ besitze
ich nur in einem Studien Ex.,
dessen ich vorläufig für die
Basler Aufführung Das Extra-Konzert der Basler Allgemeinen Musikgesellschaft am 29. April 1916 (vgl. Refardt 1939, S. 16). benöthige.
Dann sollen Sie es haben,
da Sie ein so sehr freundliches
Interesse danach bekunden.

Zum neuen Werke,
dem Gletscher-Aufstieg,
wünsche ich alles Erhebende.

Seien Sie verehrungsvoll
gegrüsst

von Ihrem herzlich ergebenen

F. Busoni

Zürich, am 14. April 1916.
                                                                
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Provenance
Schweiz | Basel | Universitätsbibliothek | NL 30 : 22:A-H:16
Condition
Der Brief ist gut erhalten.
Extent
3 Blatt, 3 beschriebene Seiten
Collation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand des Archivars, der eine Nummerierung und Foliierung mit Bleistift vorgenommen sowie die Datierung auf die erste Seite übertragen hat.

Summary
Busoni erläutert den Begriff „Theater“ als ungünstiges Konglomerat von Oper und Drama; zitiert umfangreich aus dem poetologischen Prolog zum Doktor Faust; kann sein Studienexemplar der Indianischen Fantasie vor der Basler Aufführung am 29. April nicht weitergeben.
Incipit
ich danke für die nachsichtige Aufnahme meiner Bedenken

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
June 27, 2017: candidate (coding checked, proofread)
Direct context
Preceding Following
Near in this edition
Previous editions
Refardt 1939, S. 15 f.