Ludwig Rubiner to Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Muralto · April 23 to April 24, 1918

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Mus.ep. L. Rubiner 21 (Busoni-
Nachl. B II)

Mus.Nachl. F. Busoni
B II, 4280
23. Apr. 1918.
[1]

Lieber und Verehrter!

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Nur kurz: Ich sandte Ihnen gestern
abend einen Brief durch express nach
Genf, damit er dort noch an Sie
gelange. Da aber die Post erst heute
früh befördert wurde, nehme ich
an, dass Sie ihn in Genf nicht
mehr erhalten, und er Ihnen
nachgeschickt werden muss. —

Ihre Hauptargumente für den
Faust II sind für mich völlig
überzeugend. Busoni stellt in seinem Brief die Szenen I. Akt „Anmutige Gegend“ und „Finstere Galerie“, V. Akt „Mitternacht“ sowie den Aufbau des letzten Abschnitts als für ihn besonders bedeutsam heraus, betrachtet das Werk als Bearbeitung verschiedener literarischer Gattungen (indisches Drama, Puppenspiel etc.) und bezeichnet die Umkehrung der Schuld als Kern des Werkes (vgl. Brief von Busoni an Rubiner vom 21. April 1918). Busoni bezieht sich dabei auch auf seine Ausführungen in einem vorherigen, offenbar nicht erhaltenen Brief. Vor allem das, die
Ausschaltung des Schuldbegriffes,
der mich schon seit früher Jugend
verfolgt hat. Vor allem, da
die ganze neuere Dramatik die
„Schuld“ (nach der Antike) verwässert
und künstlich gemacht hat – während
sie bei Äschylus noch ursprüngliche

23. Apr. 1918.

Lieber und Verehrter!

Nur kurz: Ich sandte Ihnen gestern Abend einen Brief durch Express nach Genf, damit er dort noch an Sie gelange. Da aber die Post erst heute früh befördert wurde, nehme ich an, dass Sie ihn in Genf nicht mehr erhalten und er Ihnen nachgeschickt werden muss. —

Ihre Hauptargumente für den Faust II sind für mich völlig überzeugend. Busoni stellt in seinem Brief die Szenen I. Akt „Anmutige Gegend“ und „Finstere Galerie“, V. Akt „Mitternacht“ sowie den Aufbau des letzten Abschnitts als für ihn besonders bedeutsam heraus, betrachtet das Werk als Bearbeitung verschiedener literarischer Gattungen (indisches Drama, Puppenspiel etc.) und bezeichnet die Umkehrung der Schuld als Kern des Werkes (vgl. Brief von Busoni an Rubiner vom 21. April 1918). Busoni bezieht sich dabei auch auf seine Ausführungen in einem vorherigen, offenbar nicht erhaltenen Brief. Vor allem das, die Ausschaltung des Schuldbegriffes, der mich schon seit früher Jugend verfolgt hat. Vor allem, da die ganze neuere Dramatik die „Schuld“ (nach der Antike) verwässert und künstlich gemacht hat – während sie bei Aeschylus noch ursprüngliche religiöse, weit über den Einzelmenschen hinausreichende Ursprungsbedeutung hat. (Am stärksten, scheint mir, in Aeschylus’ „Gefesseltem Prometheus“. Gute Übersetzung in der kleinen Insel-Bücherei.) Andererseits wagt der neue Dichter nicht, das wirklich Böse und die wirkliche Sünde (die es doch wahrhaft git, wenn man nicht etwa auf Haeckel’schem monistischen Standpunkt steht) zu gestalten. Das hat nun Goethe wirklich getan, wie nur ein ursprünglicher Mensch. Ferner leuchtet mir Ihre Bemerkung ein, dass die Sünde begangen werden muss, und das wird wirklich auch in der plastischen Durchführung das Größte sein. Darf ich nun – ohne die Größe respektlos anzutasten! – einige ernste Fragen tun? Warum muss Faust durch Verklärung erlöst werden? Da doch die Erlösung, also das Paradies, schon in der anderen Seite der sündigen Handlung liegt, nämlich in der menschlichen. D. h. da doch die Erlösung und das Paradies im Gesamtumfang des menschlichen Lebens mit allen seinen Handlungen liegt. (Wenn nicht, dann hätte ja der Erlösungs-Richard Wagner recht, der so deutlich die Künstlichkeit der dramatischen Erlösung zeigte. Und das liegt in der Idee, das ist nicht nur Talentunterschied.)

Warum ferner – – Gretchen? Wenn Erlösung nach so gewaltigem Leben, mit so gewaltigen Mitteln – warum nicht nach bewusst großen Sünden? Denn Goethe, im ganzen II. Teil, steht mit tiefstem Recht auf Seiten des Bewussten. (Valentin geht für seine Dumpfheit unter. Tiefster aller tiefen Kontrapunkte!) Aber meine Frage war viel einfacher gemeint. (Sie haben Sie durch Ihre das Letzte greifenden Bemerkungen gleich auf die letzten Dinge auch bei mir geführt.) Meine Frage: Ist Faust II ein Drama? Ich rede hier nicht von der handlichen theatralischen Form. Sondern von der Form im wichtigsten Sinne. Faust II ist (jetzt rein technisch gesprochen) ein „Chorgesang mit Solisten“, dessen einzelne Szenen in Wahrheit alle sich zu gleicher Zeit abspielen, gewissermaßen in einem Kreis angeordnet alle zur gleichen Zeit vorgetragen werden müssten. Das Schönste, das sich wiederum für uns daraus ergibt, ist, dass im II. Teil die Zeit ausgeschaltet ist, überhaupt nicht existiert! ( Gefühlteste Versinnbildlichung „Die Mütter“; doch ist das nicht die „technische“ Seite der „Mütter“; sie haben noch viel wichtigere Aspekte.) Ferner kommt aus dieser halb bewussten, halb aber auch unfreien (die Wahrheit zu sagen) Konzeption diese außerordentliche und staunenswerte Bereicherung der konzentrierten neuen Gedichtsprache.

Mit der Goethe’schen Antike und ihrer Wiederbelebung werde ich bis in mein hohes Alter nicht mitfühlen können. Obwohl die großartigsten Verse gerade dort stehen. Die Prophetie ist vielleicht nicht ganz so groß, nur erstaunlich, aber solche Prophetie, die sich auf Mechanisches und nicht auf Menschenschicksal bezieht, findet man auch in viel kleineren Werken. Z. B. sehr, sehr viel bei Jean Paul. Doch machen solche Antizipationen gewiss nicht die „Modernität“ eines Werkes aus, sondern das wird nur durch seine Zeitlosigkeit (Zeitlosigkeit in der Ideengrundlage, nicht in der Einzelbehandlung) erwirkt. Aber das wissen Sie ebenso wie ich. Die außerordentlichste und bedeutendste Stellung, die allseitigste, hat Mephisto. Dass er Phorkyas heißen muss?

Dass eine der unerhörtesten Phantasiebildungen, der Türmer, Lynkeus heißen muss? (Und beide nicht nur heißen, sondern auch sein!) Dass „Helena“ sein muss! –

Darf man jemals in diesen Dingen unaufrichtig sein? Nein; auch nicht vor einem Freunde, der das Werk liebt. Denn es ist gerade das ungeheure Maß des Werkes, das einen nicht etwa heißt, „Kritik“ zu üben (was albern, kleinlich, dumm und lächerlich wäre!), sondern das einen aufrüttelt zur Frage: „Was nehme ich vor meinem Tode aus diesem Lebenswerke?“

Würde nun ich, Ludwig Rubiner, morgen nicht mehr existieren, so hätte die Erinnerung in meiner wichtigsten, aufrüttelndsten, letzten Stunde des Lebens so ausgesehen:

Ein ungeheures, panoramahaftes Gesamtbild des bewusst fühlenden, tätigen Lebens. Vorbildliches.

Dies auf die kürzesten Formeln gebracht. In meinen Schwingungen bleibt davon die Rückempfindung der äußersten, Zeitbegriff verdrängenden Konzentration. Die Konzentration ist so gewaltig, dass sie bei diesem quantitativ umfangreichen, mannigfaltigen Werk, das noch dazu mehrere Leben darstellt, den Eindruck hinterlässt, alles spiele sich in einem Moment ab.

Dies ist das Unvergängliche daran. Es bleibt, dass die Ausdrucksform der Formeln – zu einem sehr großen Teil vergänglich ist.

Ist man aber nicht ehrlicher gegen Goethe, und lässt man diesem Werk nicht viel höheres, reineres und intensiver dichterisches Leben, wenn man gerade gegenüber jenen vergänglichen Formeln nicht in der Art verfährt, als wollte man Philinens Wort im „Wilhelm Meister“ abändern: „Wenn ich dich deute, was geht’s dich an?“ Der originale Wortlaut ist: „Und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?“ (Wilhelm Meisters Lehrjahre IV,9, Philine) .

Und so war meine Frage über Ihre persönliche Stellung zum II. Teil ganz einfach, menschlich-künstlerisch und direkt gemeint: Welche wirklich schöpferische Anregung für Ihre eigene Arbeit gab Ihnen das Werk, und gab es Ihnen eine wirkliche?

Ihren Faust haben Sie nach dem Puppenspiel geschrieben; doch nicht aus Originalitätssucht, auch nicht, um irgendein gutes Opernbuch zu machen. Auch wären Sie in Fragen der Kunst vernünftiger Egoist genug, den Goethe selbst zu ergreifen, wenn Ihnen das künstlerisch für Ihre Person aussichtsvoll erschienen wäre (auch hätte sich dann irgendwie die Möglichkeit ergeben, es zu tun). Aber Ihr Buch Gemeint ist das Libretto zu Busonis „Doktor Faust“. ist so gewaltig anders als das Goethe’sche Werk, dass ich mir – unwillkürlich die Frage vorlegte, ob der II. Teil – außer der Bewunderung und der Bestätigung von Lebenserfahrung und Lebenswahrheit (was nun schon enorm viel ist!) – auch unmittelbar aus Ihnen etwas zum Rollen gebracht hat.

Ich persönlich glaube, dass dies nicht so ist, und auch nicht so sein kann. Denn der Faust II ist ein Werk, das immer wieder in sich zurückkehrt, ganz in sich bleibt, und wohl aufgeschlossen werden kann, aber nicht den anderen aufschließt.

Ein ungeheure Handlung.

Kein Drama. Drama natürlich nicht im engen, dialektischen Sinne gebraucht, sondern in seinen Konsequenzen, die es auf Leser und Zuschauer hat. Die Konsequenz des Dramas heißt, bei Leser und Zuschauer: „Folglich? Was soll ich also tun?“ Dies sagt man sich hinter jedem Aeschyleischen Drama, hinter jedem indischen Drama, hinter jedem Goethe’schen Drama, hinter Ihrem Drama (da die Antwort: zur Wiedergeburt leben!). Hinter dem II. Teil ist diese Frage unmöglich.

Und nun sahen Sie gewiss schon längst, dass ich nicht die Achtungslosigkeit beging, das Werk zu messen oder womöglich abzuurteilen. Sondern dass ich mir Rechenschaft über Formfragen zu geben suchte. Diese Formfragen kann man aber erst stellen und auf sie antworten, wenn man ein Werk von der absoluten Weltgröße des Faust II vor sich hat. Der gewaltige Inhalt selbst ist schuld, die Größe der Dichtung selbst ist schuld, dass man diese wichtigsten Fragen überhaupt stellt.

Und das wird man doch dürfen, ohne sogleich mit der Verachtung erschlagen zu werden, die heute die Majorität der „gebildeten Menschheit“ für diesen Frager mühelos bei der Hand hat.

Erlauben Sie mir eine Bemerkung in übertragener Sprache. Es gibt ein Goethe’sches Werk, das für mich sein reinstes dramatisches Gebilde darstellt, das ich von ihm kenne. Es ist nicht nur kein Drama, sondern nicht einmal ein Roman.

Es ist die Farbenlehre. Dieses Buch (ich lernt’ es erst 1914 kennen) hat auf mich mit der größten Erschütterung gewirkt, deren ein Buch überhaupt fähig ist. Es steht in so gewaltigem Bogen über der sogenannten „Optik“, wie Dantes Weltgesetz „Liebe“ über der Bewegung der Weltkörper. Gemeint ist „die Liebe“ als Sehnsucht nach der Vereinigung mit dem Göttlichen, also als eine Art kosmische Urkraft:
Der Kreis drum, der das Weltall mit sich zieht,
In seinem Schwung, entspricht in seiner Weise
Dem, der am meisten liebt, am tiefsten sieht.
(Divina commedia, Paradiso, 28. Gesang, V. 70–72, Beatrice)
.
So groß ist sein Kreis, dass das spezifisch Naturwissenschaftliche nur ein ganz kleiner, vernachlässigensmöglicher – aber dennoch von einem geistigen Standpunkt rückwirkend erklärten – Teilprozess darin ist. In dieser „Farbenlehre“ ist nun aufs Ungeheuerste der Kampf und das Ringen der Farben mit dem Licht dargestellt, so dass die Farben selbstständige Individualwesen sind; handeln und erleiden. (Aber ich spreche hier so ausführlich von Dingen, die Ihnen höchstwahrscheinlich schon lang vertraut sind!) Hier ist unter einer „gelehrten“ Form etwas erreicht, was an metaphysischer Bedeutung vielleicht doch mit der Metaphysik von Dantes Paradiso wetteifern kann. Und alles, was in Goethe den dramatischen Sinn hatte, hat sich hier instinktiv aufs Ungeheuerste entladen. Benennen Sie die Farben mit Personennamen – und Sie finden in der Goethe’schen Farbenlehre unglaubliche ausgespannte Szenarien für augenhafte kosmische Weltdramen. — (Privat mag ich nur noch bemerken, die Farbenlehre ist das Werk, das den entscheidenden moralischen Eindruck auf mein Leben gemacht hat.) –

Alle diese Begriffe sind mir natürlich bewusst als nur sehr persönlicher Art. Wenn ich frage: „Warum ist Faust II als Drama geschrieben?“, dann kann man nur antworten: „Ihre Frage ist ja falsch, denn 1.) haben sie offenbar eine falsche Vorstellung von dem, was Sie Drama nennen, und 2.) haben Personen wie Sie überhaupt den Mund zu halten!“

Aber mit dieser Antwort ist niemandem gedient. Ich glaube den Beweis erbracht zu haben, dass ich vor großen Äußerungen nicht unergriffen stehe und dass ich künstlerische Lebensfragen nicht aus Respektlosigkeit vor dem Großen mir stelle.

Vielleicht irre ich mich. Den Irrtum kann man allerdings nicht durch irgendeinen Vorteil, ja nicht einmal durch die Zahl der Jahre aus der Welt schaffen. Ein mir bekannter, 60-jähriger Frankfurter Kapellmeister Hierbei handelt es sich vermutlich um Ludwig Rottenberg. Er war von 1893 bis 1924 erster Kapellmeister der Frankfurter Oper (vgl. Cahn 2000, Sp. 656). besuchte nach langjähriger Abwesenheit seinen mehr als achtzigjährigen Vater und machte um 9 Uhr abends noch einen halbstündigen Gang durch die Stadt. Am andern Morgen sagte ihm der Vater: „Du weißt doch, ich liebe es nicht, wenn meine Kinder nachts ausgehen!“ – Wie hätte den erst sein Großvater angerasselt, wenn der noch gelebt hätte. —

Jeder empfindende Mensch hat seine 60 Jahre und seinen mehr als 80-jährigen Vater: Der eine liebt die (wirkliche) antike Tragödie unbeschreiblich – ich, zum Beispiel. Ein anderer, vielleicht sehr, sehr liebenswerter Mensch findet das nur komisch und findet sich in neueren Dingen erfüllt. Bleibt beides nur Vergnügen, so war es eine müßige Unterhaltung zwischen beiden. Geschieht aber die innere Befragung aus Gründen der produktiven Umbildung, so ist sicherlich ein Stückchen Weg unter den Menschen weitergeschoben worden!

Auf bald, mit einem Freundschaftshändedruck von

24. morgens.

Weil das Wort „Verstehen“ fiel. Sie fragten mich einmal, was ich über „Verständlichkeit“ denke. Ich halte sie für die erste Bedingung, und sie ist mir genau dasselbe wie „guter Bau“. Verständlichkeit kann natürlich nicht heißen – wie sie missbraucht wird – Wiederholung von schon Gewöhntem. Sondern gegenseitige Klarheit in den Einzelteilen, die der (notwendigen) Zurückführung auf die primären Grundlagen der Idee entsprechen müssen. Also: Welt-Allgemeingültigkeit. So ist Dante. So ist das indische Drama. So der babylonische Mythos. So die antike Tragödie. – Ausschliessung des Zufälligen, und vor allem des Privaten. Z. B.: Die angebliche Nichtverständlichkeit und Kommentarbedürftigkeit von Dante, Tolstoi, Faust II ist nur böser Wille des Bürgers, der in seiner geistigen Ruhe nicht gestört werden will, und der vor allem nicht aus sich heraus will. Der Hass gegen manche neue Maler, die sichtlich und nachweislich in härtester Arbeit auf die primären Grundlagen des Sehens zurückgehen, ist aus derselben Trägheitskategorie. Und vieles andere dergleichen. Z. B. Reger, der einem doch wirklich keine Geheimnisse aufgibt, gehört für mich zur Klasse der Unverständlichen (Sünder!), weil er stundenlang auf musiktechnischem Wege privates Gemurmel von sich gibt.

Bach höchste Verständlichkeit einer Gemeinschaft!

Mozart die Verständlichkeit des neuen Jahrhunderts.

Ich denke immer, und absichtlich unhistorisch: Beethoven ist ein Rückschritt ins Private, je mehr er „letzter Beethoven wird! (Beweis übrigens auch der sichere grobe Instinkt des Publikums, der Mond- u. Sternendinge zu den Werken hinzuerfindet, während doch die Allgemeingültigkeit der wirklich großen Werke die umfassendsten kosmischen Gesetze der Welt schon in sich einschließen.)

Noch eins: Bei näherer Betrachtung Ihres Briefes scheint es mir aus einem Tone schattenhaft, als fühlten Sie meine Frage betr. Faust II nicht in Ordnung. Z. B. Ihr Hinweis auf den Unterschied der Lebensjahre, der Erfahrung. Aber das ist gewiss eine Täuschung von mir, die ich hier in meiner Einsamkeit habe. Wie sollte wohl, denke ich mir, überhaupt sonst ein Gespräch möglich sein – unter uns Wenigen, die heute überhaupt noch denken und fühlen! –

Und noch wegen meiner Äußerung (in meinem vorletzten Brief) über Dr. Huber bitte ich Sie um Verzeihung. Er gehört zu Ihren Freunden, ich darf ihn also nicht so gleichgültig ablehnen. Mich hatte nur der Unmut und die Enttäuschung über seine Lauheit in Sachen des „Journal de Genève“ hingerissen. Doch das ist wohl seine Krankheit. Mein Freund ist er natürlich nicht. Künstler vieux jeu Frz.: „altmodisch“ mag ich nicht. Das darf aber kein Grund sein, so von ihm zu sprechen. Also: Bitte nicht böse sein!

Ihr Ludwig Rubiner

                                                                
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stärksten, scheint mir, in
Äschylus „Gefesseltem Prometheus“.
Gute Übersetzung in der kl. Inselbücherei.)
Andererseits wagt der neue
Dichter nicht, das wirklich Böse
und die wirkliche Sünde (die es
doch wahrhaft giet, wenn man
nicht etwa auf Haeckelschem
monistischen Standpunkt steht)
zu gestalten. Das hat nun
Goethe wirklich getan, wie nur
ein ursprünglicher Mensch.
Ferner leuchtet mir Ihre Bemer⸗
kung ein, dass die Sünde begangen
werden muss, und das wird
wirklich auch in der plastischen
Durchführung das Grösste sein.
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Warum muss Faust durch
Verklärung erlöst werden? Da
doch die Erlösung, also das
Paradies, schon imn der anderen
Seite der sündigen Handlung
liegt, nämlich in der menschlichen.
D. h. da doch die Erlösung und
das Paradies im Gesamtumfang
des menschlichen Lebens mit
allen seinen Handlungen liegt.
(Wenn nicht, dann hätte ja der
Erlösungs=Richard Wagner recht,
der so deutlich die Künstlichkeit
der dramatischen Erlösung zeigte. Und
das liegt in der Idee, das ist nicht
nur Talentunterschied.)

Warum ferner – – Gretchen? Wenn
Erlösung nach so gewaltigem Leben,
mit so gewaltigen Mitteln – warum
nicht nach bewusst grossen

                                                                
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4 Sünden? Denn Goethe, im
ganzen II Teil, steht mit tiefstem
Recht auf Seiten des Bewussten.
(Valentin geht für seine Dumpfheit
unter. Tiefster aller tiefen Kontra⸗
punkte!) Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Aber meine Frage war viel einfacher
gemeint. (Sie haben Sie durch Ihre,
das Letzte greifenden Bemerkungen
gleich auf die letzten Dinge auch
bei mir geführt.) Meine Frage:
Ist Faust II ein Drama? Ich
rede hier nicht von der handlichen
theatralischen Form. Sondern von
der Form im wichtigsten Sinne.
Faust II ist (jetzt rein technisch
gesprochen) ein „Chorgesang mit
Solisten“
, dessen einzelne Scenen
in Wahrheit alle sich zu gleicher
Zeit abspielen, gewissermassen
in einem Kreis angeordnet alle
zur gleichen Zeit vorgetragen werden
müssten. Das Schönste, das sich

                                                                
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B II, 4280
5 wiederum für uns daraus ergiebt,
ist, dass im II Teil die Zeit
ausgeschaltet ist, überhaupt nicht
existiert!
(Wie Gefühlteste
Versinnbildlichung „Die Mütter“;)
doch ist das nicht die „technische“
Seite der „Mütter“; sie haben noch
viel wichtigere Aspekte.) Ferner
kommt aus dieser halb bewussten,
halb aber auch unfreien (die Wahrheit
zu sagen) Conception diese ausser⸗
ordentliche und staunenswerte
Bereicherung der concentrierten Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

neuen Gedichtsprache.

Mit der Goetheschen Antike und ihrer
Wiederbelebung werde ich bis
in mein hohes Alter nicht
mitfühlen können. Obwohl
die grossartigsten Verse gerade
dort stehen. Die Prophetie ist
vielleicht nicht ganz so gross,
nur erstaunlich, aber solche

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split"> <note type="shelfmark" resp="#archive" place="top-left">B II, 4280</note> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive" rend="underline">5</note> wiederum für uns daraus ergi<orig>e</orig>bt, <lb/>ist, dass im <rs key="E0400107">II<reg>.</reg> Teil</rs> <hi rend="underline2">die Zeit</hi> <lb/>ausgeschaltet ist, <hi rend="underline">überhaupt nicht <lb/>existiert!</hi> (<del rend="strikethrough">Wie</del> Gefühlteste <lb/>Versinnbildlichung <q rend="dq-du">Die Mütter</q><subst><add>;</add><del rend="strikethrough">)</del></subst> <lb/>doch ist das nicht die <soCalled rend="dq-du">technische</soCalled> <lb/>Seite der <q rend="dq-du">Mütter</q>; sie haben noch <lb/>viel wichtigere Aspekte.) Ferner <lb/>kommt aus dieser halb bewussten, <lb/>halb aber auch unfreien (die Wahrheit <lb/>zu sagen) <choice><orig>Conc</orig><reg>Konz</reg></choice>eption diese au<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>er <lb break="no"/>ordentliche und staunenswerte <lb/>Bereicherung der <choice><orig>conc</orig><reg>konz</reg></choice>entrierten <note type="stamp" place="margin-right" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName> </stamp> </note> <lb/>neuen Gedichtsprache.</p> <p type="pre-split">Mit der <add place="above"><persName key="E0300124">Goethe</persName><reg>’</reg>schen</add> Antike und ihrer <lb/>Wiederbelebung werde ich bis <lb/>in mein hohes Alter nicht <lb/>mitfühlen können. Obwohl <lb/>die gro<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>artigsten Verse gerade <lb/>dort stehen. Die Prophetie ist <lb/>vielleicht nicht ganz so gro<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>, <lb/>nur erstaunlich, aber solche </p></div>
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6Diplomatic transcription
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6 Prophetie, die sich auf Mechanisches
und nicht auf Menschenschicksal
bezieht, findet man auch in
viel kleineren Werken. Z. B.
sehr, sehr viel bei Jean Paul.
Doch machen solche Anticipationen
gewiss nicht die „Modernität“
eines Werkes aus, sondern das
wird nur durch seine Zeitlosig⸗
keit (Zeitlosigkeit in der
Ideengrundlage, nicht in der
Einzelbehandlung) erwirkt. Aber
das wissen Sie ebenso wie ich.
Die ausserordentlichste und
bedeutendste Stellung, die
allseitigste, hat Mephisto.
Dass er Phorkyas heissen
muss?

Dass eine der unerhörtesten
Phantasiebildungen, der
Türmer, Lynkeus heissen
muss? (Und beide nicht nur

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive" rend="underline">6</note> Prophetie, die sich auf Mechanisches <lb/>und nicht auf Menschenschicksal <lb/>bezieht, findet man auch in <lb/>viel kleineren Werken. Z. B. <lb/>sehr, sehr viel bei <persName key="E0300355">Jean Paul</persName>. <lb/>Doch machen solche Anti<choice><orig>c</orig><reg>z</reg></choice>ipationen <lb/>gewiss nicht die <soCalled rend="dq-du">Modernität</soCalled> <lb/>eines Werkes aus, sondern das <lb/>wird nur durch seine Zeitlosig <lb break="no"/>keit (Zeitlosigkeit in der <lb/>Ideengrundlage, nicht in der <lb/>Einzelbehandlung) erwirkt. Aber <lb/>das wissen Sie ebenso wie ich. <lb/>Die au<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>erordentlichste und <lb/>bedeutendste Stellung, die <lb/>allseitigste, hat Mephisto. <lb/>Dass er Phorkyas hei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en <lb/>muss?</p> <p type="pre-split">Dass eine der unerhörtesten <lb/>Phantasiebildungen, der <lb/>Türmer, Lynkeus hei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en <lb/>muss? (Und beide nicht nur </p></div>
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7 heissen, sondern auch sein!)
Dass […] at least 2 char: cancelled. „Helena“ sein muss! –

[…] 1 word: overwritten. Darf man wirklichjemals in diesen Dingen unauf⸗
richtig sein? Nein; auch nicht vor einem
Freunde, der das Werk liebt. dDenn es ist
gerade das ungeheure Maass
des Werkes, das einen nicht
etwas heisst „Kritik“ zu üben
(was albern, kleinlich, dumm
und lächerlich wäre!), sondern
das einen aufrüttelt zur Frage:
„Was nehme ich vor meinem
Tode vonaus diesem Lebenswerke?
mit?

Würde nun ich, L. R., morgen
nicht mehr existieren, so hätte
die Erinnerung in meiner wichtigsten,
aufrüttelndsten, letzten Stunde
des Lebens so ausgesehen:

Ein ungeheures, panoramahaftes
Gesamtbild des bewusst fühlenden,
tätigen Lebens. Vorbildliches.

Dies auf die kürzesten Formeln
gebracht.][In meinen Schwingungen
bleibt davon die Rückempfindung

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive" rend="underline">7</note> hei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en, sondern auch sein!) <lb/>Dass <del rend="strikethrough"><gap reason="strikethrough" atLeast="2" unit="char"/></del> <q rend="dq-du">Helena</q> sein muss! –</p> <p><subst><del rend="overwritten"><gap reason="overwritten" extent="1" unit="word"/></del><add place="across">Darf</add></subst> man <del rend="strikethrough">wirklich</del><add place="above">jemals in diesen Dingen</add> unauf <lb break="no"/>richtig sein? Nein; <add place="above">auch nicht vor einem</add> <lb/><add place="below">Freunde, der <rs key="E0400107">das Werk</rs> liebt.</add> <subst><del rend="overwritten">d</del><add place="across">D</add></subst>enn es ist <lb/>gerade das ungeheure Ma<choice><orig>ass</orig><reg>ß</reg></choice> <lb/><rs key="E0400107">des Werkes</rs>, das einen nicht <lb/>etwa<del rend="strikethrough">s</del> hei<choice><orig>sst</orig><reg>ßt,</reg></choice> <soCalled rend="dq-du">Kritik</soCalled> zu üben <lb/>(was albern, kleinlich, dumm <lb/>und <hi rend="underline">lächerlich</hi> wäre!), sondern <lb/>das einen aufrüttelt zur Frage: <lb/><q rend="dq-du">Was nehme ich vor meinem <lb/>Tode <subst><del rend="overwritten">von</del><add place="across">aus</add></subst> diesem Lebenswerke<add>?</add></q><del rend="strikethrough">mit?<anchor type="delimiter" subtype="quoteEnd" rend="dq-du"/></del></p> <p>Würde nun ich, <persName key="E0300126"><choice><abbr>L. R.</abbr><expan>Ludwig Rubiner</expan></choice></persName>, morgen <lb/>nicht mehr existieren, so hätte <lb/>die Erinnerung in meiner wichtigsten, <lb/>aufrüttelndsten, letzten Stunde <lb/>des Lebens so ausgesehen:</p> <p>Ein ungeheures, panoramahaftes <lb/>Gesamtbild des bewusst fühlenden, <lb/>tätigen Lebens. Vorbildliches.</p> <p type="pre-split">Dies auf die kürzesten Formeln <lb/>gebracht.<choice><orig>][</orig><reg> </reg></choice>In meinen Schwingungen <lb/>bleibt davon die Rückempfindung </p></div>
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8 der äussersten, Zeitbegriff verdrän⸗
genden Konzentration. Die Konzen⸗
tration ist so gewaltig, dass sie
bei diesem quantitativ umfangreichen,
mannigfaltigen Werk, das noch dazu
mehrere Leben darstellt, den Eindruck
hinterlässt, alles spiele sich in einem
Moment ab.

Dies ist das Unvergängliche daran.
Es bleibt, dass die Ausdrucksform
der Formeln – zu einem sehr grossen
Teil vergänglich ist.

Ist man aber nicht ehrlicher
Ggegen Goethe, und lässt man
diesem Werk nicht viel höheres,
reineres und intensiver dichteri⸗
sches Leben, wenn man gerade
gegenüber jenen vergänglichen
Formeln nicht in der Art ver⸗
fährt, als wollte man Philinens
Wort im „Wil. Meister“ abändern:
„Wenn ich dich deute, was gehts
dich an?“
Der originale Wortlaut ist: „Und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?“ (Wilhelm Meisters Lehrjahre IV,9, Philine) . Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Und so war meine Frage
über Ihre persönliche Stellung

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive" rend="underline">8</note> der äu<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>ersten, Zeitbegriff verdrän <lb break="no"/>genden Konzentration. Die Konzen <lb break="no"/>tration ist so gewaltig, dass sie <lb/>bei diesem quantitativ umfangreichen, <lb/>mannigfaltigen <rs key="E0400107">Werk</rs>, das noch dazu <lb/>mehrere Leben darstellt, den Eindruck <lb/>hinterlässt, alles spiele sich in <hi rend="underline">einem</hi> <lb/>Moment ab.</p> <p>Dies ist das Unvergängliche daran. <lb/>Es bleibt, dass die Ausdrucksform <lb/>der Formeln – zu einem sehr gro<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en <lb/>Teil vergänglich ist.</p> <p>Ist man aber nicht ehrlicher <lb/><subst><del rend="overwritten">G</del><add place="across">g</add></subst>egen <persName key="E0300124">Goethe</persName>, und lässt man <lb/><rs key="E0400107">diesem Werk</rs> nicht viel höheres, <lb/>reineres und intensiver dichteri <lb break="no"/>sches Leben, wenn man gerade <lb/>gegenüber jenen vergänglichen <lb/>Formeln nicht in der Art ver <lb break="no"/>fährt, als wollte man Philinens <lb/>Wort im <title key="E0400319" rend="dq-du"><choice><abbr>Wil.</abbr><expan>Wilhelm </expan></choice> Meister</title> abändern: <lb/><q rend="dq-du">Wenn ich dich deute, was geht<reg>’</reg>s <lb/>dich an?</q> <note type="commentary" resp="#E0300372">Der originale Wortlaut ist: <cit> <q>Und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?</q> <bibl>(<title key="E0400319">Wilhelm Meisters Lehrjahre</title> IV,9, Philine)</bibl> </cit>. </note> — <note type="stamp" place="inline" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName> </stamp> </note></p> <p type="pre-split">Und so war meine Frage <lb/>über Ihre persönliche Stellung </p></div>
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B II, 4280
9 zum II Teil ganz einfach,
menschlich=künstlerisch und
direkt gemeint: Welche wirklich
schöpferische Anregung für Ihre
eigene Arbeit
gab Ihnen das
Werk
, und gab sie Ihnen eine Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

wirkliche?

Ihren Faust haben Sie nach
dem Puppenspiel geschrieben; doch
nicht aus Originalitätssucht,
auch nicht, um irgend ein gutes
Opernbuch zu machen. Auch
wären Sie in Fragen der Kunst
vernünftiger Egoist genug,
den Goethe selbst zu ergreifen,
wenn Ihnen das künstlerisch
für Ihre Person aussichtsvoll
erschienen wäre (auch hätte sich
dann irgendwie die Möglichkeit
ergeben, es zu tun). Aber Ihr
Buch Gemeint ist das Libretto zu Busonis „Doktor Faust“. ist so gewaltig anders
als das Goethesche Werk, dass

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split"> <note type="shelfmark" resp="#archive" place="top-left">B II, 4280</note> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive" rend="underline">9</note> zum <rs key="E0400107">II<reg>.</reg> Teil</rs> ganz einfach, <lb/>menschlich<pc>=</pc>künstlerisch und <lb/>direkt gemeint: Welche wirklich <lb/>schöpferische Anregung für <rs key="E0400218">Ihre <lb/>eigene Arbeit</rs> gab Ihnen <rs key="E0400107">das <lb/>Werk</rs>, und gab <choice><sic>sie</sic><corr>es</corr></choice> Ihnen eine <note type="stamp" place="margin-right" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName> </stamp> </note> <lb/>wirkliche?</p> <p type="pre-split"><rs key="E0400218">Ihren Faust</rs> haben Sie nach <lb/>dem <rs key="E0400322">Puppenspiel</rs> geschrieben; doch <lb/>nicht aus Originalitätssucht, <lb/>auch nicht, um irgend<orig> </orig>ein gutes <lb/>Opernbuch zu machen. Auch <lb/>wären Sie in Fragen der Kunst <lb/>vernünftiger Egoist genug, <lb/><rs key="E0400107">den <persName key="E0300124">Goethe</persName></rs> selbst zu ergreifen, <lb/>wenn Ihnen das künstlerisch <lb/>für <hi rend="underline">Ihre Person</hi> aussichtsvoll <lb/>erschienen wäre (auch hätte sich <lb/>dann irgendwie die Möglichkeit <lb/>ergeben, es zu tun). Aber Ihr <lb/>Buch <note type="commentary" resp="#E0300373">Gemeint ist das Libretto zu <persName key="E0300017">Busonis</persName> <title key="E0400218"><q rend="dq-du">Doktor Faust</q></title>.</note> ist so gewaltig anders <lb/>als das <persName key="E0300124">Goethe</persName><reg>’</reg>sche <rs key="E0400107">Werk</rs>, dass </p></div>
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10Diplomatic transcription
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10 ich mir – unwillkürlich die
Frage vorlegte, ob der II Teil
– ausser der Bewunderung
und der Bestätigung von
Lebenserfahrung und Lebenswahr⸗
heit (was nun schon enorm
viel ist!) – auch unmittel⸗
bar aus Ihnen etwas zum
Rollen gebracht hat.

Ich persönlich glaube, dass dies
nicht so ist, und auch nicht so
sein kann. Denn der Faust II
ist ein Werk, das immer wieder
in sich zurückkehrt, ganz in
sich bleibt, und wohl aufgeschlossen
werden kann, aber nicht den
anderen aufschliesst.

Ein ungeheure Handlung.

Kein Drama. Drama natürlich
nicht im engen, dialektischen
Sinne gebraucht, sondern in
seinen FKonsequenzen, die es

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive" rend="underline">10</note> ich mir – unwillkürlich die <lb/>Frage vorlegte, ob der <rs key="E0400107">II<reg>.</reg> Teil</rs> <lb/>– au<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>er der Bewunderung <lb/>und der Bestätigung von <lb/>Lebenserfahrung und Lebenswahr <lb break="no"/>heit (was nun schon enorm <lb/>viel ist!) – auch unmittel <lb break="no"/>bar aus Ihnen etwas zum <lb/>Rollen gebracht hat.</p> <p>Ich persönlich glaube, dass dies <lb/>nicht so ist, und auch nicht so <lb/>sein kann. Denn der <title key="E0400107">Faust II</title> <lb/>ist ein Werk, das immer wieder <lb/>in sich zurückkehrt, ganz in <lb/>sich bleibt, und wohl aufgeschlossen <lb/>werden kann, aber nicht den <lb/>anderen aufschlie<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>t.</p> <p>Ein ungeheure Handlung.</p> <p type="pre-split">Kein Drama. Drama natürlich <lb/>nicht im engen, dialektischen <lb/>Sinne gebraucht, sondern in <lb/>seinen <subst><del rend="overwritten">F</del><add place="across">K</add></subst>onsequenzen, die es </p></div>
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11Diplomatic transcription
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11 auf Leser und Zuschauer hat.
Die Konsequenz des Dramas
heisst, bei Leser und Zuschauer:
„Folglich? Was soll ich also tun?“
Dies sagt man sich hinter jedem
Äschyleischen Drama, hinter
jedem indischen Drama, hinter
jedem Goetheschen Drama, hin⸗
ter Ihrem Drama (da die Antwort:
zur Wiedergeburt leben!). Hinter
dem II Teil ist diese Frage unmöglich.

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Und nun sahen Sie
gewiss schon längst, dass ich
nicht die Achtungslosigkeit
beging, das Werk zu messen,
oder womöglich abzuurteilen.
Sondern dass ich mir
Rechenschaft über Formfragen
zu geben suchte. Diese Formfragen
kann man aber erst stellen
und auf sie antworten, wenn
man ein Werk von der

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive" rend="underline">11</note> auf Leser und Zuschauer hat. <lb/>Die Konsequenz des Dramas <lb/>hei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>t, bei Leser und Zuschauer: <lb/><q rend="dq-du">Folglich? Was soll ich also tun?</q> <lb/>Dies sagt man sich hinter jedem <lb/><persName key="E0300353"><choice><orig>Ä</orig><reg>Ae</reg></choice>schyleischen</persName> Drama, hinter <lb/>jedem <placeName key="E0500808">indischen</placeName> Drama, hinter <lb/>jedem <persName key="E0300124">Goethe</persName><reg>’</reg>schen Drama, hin <lb break="no"/>ter <rs key="E0400218">Ihrem Drama</rs> (da die Antwort: <lb/>zur Wiedergeburt leben!). Hinter <lb/>dem <rs key="E0400107">II<reg>.</reg> Teil</rs> ist diese Frage unmöglich.</p> <note type="stamp" place="right" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName> </stamp> </note> <p type="pre-split" rend="indent-first">Und nun sahen Sie <lb/>gewiss schon längst, dass ich <lb/>nicht die Achtungslosigkeit <lb/>beging, das Werk zu <hi rend="underline">messen</hi><orig>,</orig> <lb/>oder womöglich abzuurteilen. <lb/>Sondern dass ich mir <lb/>Rechenschaft über Formfragen <lb/>zu geben suchte. Diese Formfragen <lb/>kann man aber erst stellen <lb/>und auf sie antworten, wenn <lb/>man ein Werk von der </p></div>
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12Diplomatic transcription
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12 absoluten Weltgrösse des Faust II
vor sich hat. Der gewaltige
Inhalt selbst ist schuld, die
Grösse der Dichtung selbst ist
schuld, dass man diese wichtigsten
Fragen überhaupt stellt.

Und das wird man doch
dürfen, ohne sogleich mit der
Verachtung erschlagen zu werden,
die heute die Majorität der „gebil⸗
deten Menschheit“
für diesen Frager
mühelos bei der Hand hat.

Erlauben Sie mir eine
Bemerkung imn übertragener
Sprache. Es giebt ein Goethesches
Werk, das für mich sein reinstes
dramatisches Gebilde darstellt,
das ich von ihm kenne. Es
ist nicht nur kein Drama,
sondern nicht einmal ein
Roman.

Es ist die Farbenlehre. Dieses
Buch (ich lernt es erst 1914 ken⸗
nen) hat auf mich mit der
grössten Erschütterung gewirkt,

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p rend="indent-first" type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive" rend="underline">12</note> absoluten Weltgrö<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>e des <title key="E0400107">Faust II</title> <lb/>vor sich hat. Der gewaltige <lb/>Inhalt selbst ist schuld, die <lb/>Grö<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>e der Dichtung selbst ist <lb/>schuld, dass man diese wichtigsten <lb/>Fragen überhaupt stellt.</p> <p rend="indent-first">Und das wird man doch <lb/>dürfen, ohne sogleich mit der <lb/>Verachtung erschlagen zu werden, <lb/>die heute die Majorität der <soCalled rend="dq-du">gebil <lb break="no"/>deten Menschheit</soCalled> für diesen Frager <lb/>mühelos bei der Hand hat.</p> <p rend="indent-first">Erlauben Sie mir eine <lb/>Bemerkung i<subst><del rend="overwritten">m</del><add place="across">n</add></subst> <hi rend="underline">übertragener</hi> <lb/>Sprache. Es gi<orig>e</orig>bt ein <persName key="E0300124">Goethe</persName><reg>’</reg>sches <lb/>Werk, das für mich sein reinstes <lb/>dramatisches Gebilde darstellt, <lb/>das ich von ihm kenne. Es <lb/>ist nicht nur kein Drama, <lb/>sondern nicht einmal ein <lb/>Roman.</p> <p type="pre-split">Es ist die <title key="E0400317">Farbenlehre</title>. Dieses <lb/>Buch (ich lernt<reg>’</reg> es erst <date when-iso="1914">1914</date> ken <lb break="no"/>nen) hat auf mich mit der <lb/>grö<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>ten Erschütterung gewirkt, </p></div>
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B II, 4280
13 deren ein Buch überhaupt fähig
ist. Es steht in so gewaltigem
Bogen über der sogenannten „Optik“,
wie Dantes Weltgesetz „Liebe“ über
der Bewegung der Weltkörper. Gemeint ist „die Liebe“ als Sehnsucht nach der Vereinigung mit dem Göttlichen, also als eine Art kosmische Urkraft:
Der Kreis drum, der das Weltall mit sich zieht,
In seinem Schwung, entspricht in seiner Weise
Dem, der am meisten liebt, am tiefsten sieht.
(Divina commedia, Paradiso, 28. Gesang, V. 70–72, Beatrice)
.
So
gross ist sein Kreis, dass das
specifisch Naturwissenschaftliche
nur ein ganz kleiner, vernachlässi⸗
gensmöglicher – aber dennoch von
einem geistigen Standpunkt rück⸗
wirkend erklärten – Teilprozess
darin ist. In dieser „Farbenlehre“
ist nun aufs uUngeheuerste der
Kampf und das Ringen der
Farben mit dem Licht darge⸗
stellt, so dass die Farben selbst⸗
ständige Individualwesen sind;
handeln und erleiden. (Aber
ich spreche hier so ausführlich
von Dingen, die Ihnen höchst⸗
wahrscheinlich schon lang ver⸗
traut sind!) Hier ist, unter
einer „gelehrten“ Form etwas
erreicht, was an metaphysischer
Bedeutung vielleicht doch mit

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split"> <note type="shelfmark" resp="#archive" place="top-left">B II, 4280</note> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive" rend="underline">13</note> deren ein Buch überhaupt fähig <lb/>ist. Es steht in so gewaltigem <lb/>Bogen über der sogenannten <soCalled rend="dq-du">Optik</soCalled>, <lb/>wie <persName key="E0300215">Dantes</persName> Weltgesetz <q rend="dq-du">Liebe</q> über <lb/>der Bewegung der Weltkörper. <note type="commentary" resp="#E0300373">Gemeint ist <q rend="dq-du">die Liebe</q> als Sehnsucht nach der Vereinigung mit dem Göttlichen, also als eine Art kosmische Urkraft: <cit> <quote> <lg> <l>Der Kreis drum, der das Weltall mit sich zieht,</l> <l>In seinem Schwung, entspricht in seiner Weise</l> <l>Dem, der am meisten liebt, am tiefsten sieht.</l> </lg> </quote> <bibl>(<title key="E0400323">Divina commedia</title>, <title key="E0400605">Paradiso</title>, 28. Gesang, V. 70–72, Beatrice)</bibl> </cit>. </note> So <lb/>gro<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice> ist sein Kreis, dass das <lb/>spe<choice><orig>c</orig><reg>z</reg></choice>ifisch Naturwissenschaftliche <lb/>nur ein ganz kleiner, vernachlässi <lb break="no"/>gensmöglicher – aber dennoch von <lb/>einem geistigen Standpunkt rück <lb break="no"/>wirkend erklärten – Teilprozess <lb/>darin ist. In dieser <title key="E0400317" rend="dq-du">Farbenlehre</title> <lb/>ist nun aufs <subst><del rend="overwritten">u</del><add place="across">U</add></subst>ngeheuerste der <lb/>Kampf und das Ringen der <lb/>Farben mit dem Licht darge <lb break="no"/>stellt, so dass die Farben selbst <lb break="no"/>ständige Individualwesen sind; <lb/>handeln und erleiden. (Aber <lb/>ich spreche hier so ausführlich <lb/>von Dingen, die Ihnen höchst <lb break="no"/>wahrscheinlich schon lang ver <lb break="no"/>traut sind!) Hier ist<orig>,</orig> unter <lb/>einer <soCalled rend="dq-du">gelehrten</soCalled> Form etwas <lb/>erreicht, was an metaphysischer <lb/>Bedeutung vielleicht doch mit </p></div>
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14Diplomatic transcription
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14 der Metaphysik von Dantes
Paradiso wetteifern kann. Und
alles, was in Goethe den dra⸗
matischen Sinn hatte, hat sich
hier instinktiv aufs Ungeheu⸗
erste entladen. Benennen
Sie die Farben mit Personen⸗
namen – und Sie finden in
der Goetheschen Farbenlehre
unglaubliche ausgespannte
Scenarien für augenhafte
kosmische Weltdramen. —
(Privat mag ich nur noch
bemerken, die Farbenlehre
ist das Werk, das den ent⸗
scheidenden moralischen Eindruck
auf mein Leben gemacht hat.) –

Alle diese Begriffe
sind mir natürlich bewusst
als nur sehr persönlicher
Art. Wenn ich frage: Warum

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive" rend="underline">14</note> der Metaphysik von <persName key="E0300215">Dantes</persName> <lb/><title key="E0400605">Paradiso</title> wetteifern kann. Und <lb/>alles, was in <persName key="E0300124">Goethe</persName> den dra <lb break="no"/>matischen Sinn hatte, hat sich <lb/>hier instinktiv aufs Ungeheu <lb break="no"/>erste entladen. Benennen <lb/>Sie die Farben mit Personen <lb break="no"/>namen – und Sie finden in <lb/>der <persName key="E0300124">Goethe</persName><reg>’</reg>schen <title key="E0400317">Farbenlehre</title> <lb/>unglaubliche ausgespannte <lb/>S<choice><orig>c</orig><reg>z</reg></choice>enarien für augenhafte <lb/>kosmische Weltdramen. — <lb/>(Privat mag ich nur noch <lb/>bemerken, die <title key="E0400317">Farbenlehre</title> <lb/>ist das Werk, das <hi rend="underline">den</hi> ent <lb break="no"/>scheidenden moralischen Eindruck <lb/>auf mein Leben gemacht hat.) –</p> <milestone unit="section" style="—" rend="align(center)"/> <p type="pre-split" rend="indent-first">Alle diese Begriffe <lb/>sind mir natürlich bewusst <lb/>als nur sehr persönlicher <lb/>Art. Wenn ich frage: <q type="pre-split">Warum </q></p></div>
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15 ist Faust II als Drama geschrie⸗
ben?
, dann kann man nur
antworten: „Ihre Frage ist ja
falsch, denn 1.) haben sie offen⸗
bar eine falsche Vorstellung von
dem, was Sie Drama nennen,
und 2.) haben Personen wie Sie
überhaupt den Mund zu halten!“

Aber mit dieser Antwort
ist niemandem gedient. Ich
glaube den Beweis erbracht
zu haben, dass ich vor grossen
Äusserungen nicht unergriffen
stehe, und dass ich künstlerische
Lebensfragen nicht aus Respekt⸗
losigkeit vor dem Grossen mir
stelle. Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Vielleicht irre ich mich.
Den Irrtum kann man allerdings
nicht durch irgend einen Vorteil,
ja nicht einmal durch die Zahl
der Jahre, aus der Welt schaffen.
Ein mir bekannter, 60 jähriger Frankfurter

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split" rend="indent-first"><q type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive" rend="underline">15</note> ist <title key="E0400107">Faust II</title> als Drama geschrie <lb break="no"/>ben?</q>, dann kann man nur <lb/>antworten: <q rend="dq-du">Ihre Frage ist ja <lb/>falsch, denn 1.) haben sie offen <lb break="no"/>bar eine falsche Vorstellung von <lb/>dem, was Sie Drama nennen, <lb/>und 2.) haben Personen wie Sie <lb/>überhaupt den Mund zu halten!</q></p> <p rend="indent-first">Aber mit dieser Antwort <lb/>ist niemandem gedient. Ich <lb/>glaube den Beweis erbracht <lb/>zu haben, dass ich vor gro<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en <lb/>Äu<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>erungen nicht unergriffen <lb/>stehe<orig>,</orig> und dass ich künstlerische <lb/>Lebensfragen nicht aus Respekt <lb break="no"/>losigkeit vor dem Gro<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en mir <lb/>stelle. <note type="stamp" place="inline" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName> </stamp> </note></p> <p type="pre-split" rend="indent-first">Vielleicht irre ich mich. <lb/>Den Irrtum kann man allerdings <lb/>nicht durch irgend<orig> </orig>einen Vorteil, <lb/>ja nicht einmal durch die Zahl <lb/>der Jahre<orig>,</orig> aus der Welt schaffen. <lb/>Ein mir bekannter, 60<choice><orig> </orig><reg>-</reg></choice>jähriger <placeName key="E0500153">Frankfurter</placeName> </p></div>
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16 Kapellmeister Hierbei handelt es sich vermutlich um Ludwig Rottenberg. Er war von 1893 bis 1924 erster Kapellmeister der Frankfurter Oper (vgl. Cahn 2000, Sp. 656). besuchte nach langjähriger
Abwesenheit seinen mehr als ach[t]zig⸗
jährigen Vater, und machte um 9 Uhr
abends noch einen halbstündigen Gang
durch die Stadt. Am andern Morgen
sagte ihm der Vater: „Du weisst doch,
ich liebe es nicht, wenn meine Kinder
nachts ausgehen!“
– Wie hätte den
erst sein Grossvater angerasselt,
wenn der noch gelebt hätte. —

Jeder empfindende Mensch hat
seine 60 Jahre und seinen mehr
als 80jährigen Vater: Der eine liebt
die (wirkliche) antike Tragödie un⸗
beschreiblich – ich, zum Beispiel.
Ein anderer, vielleicht sehr, sehr
liebenswerter Mensch, findet das
nur komisch und findet sich in
neueren Dingen erfüllt. Bleibt
Beides nur Vergnügen, so war es
eine müssige Unterhaltung zwischen
Beiden. Geschieht aber die innere
Befragung aus Gründen der produk⸗
tiven Umbildung, so ist sicherlich
ein Stückchen Weg unter den Menschen
weitergeschoben worden! Auf bald,
mit einem Freundschaftshändedruck von

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p rend="indent-first" type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive" rend="underline">16</note> Kapellmeister <note type="commentary" resp="#E0300372">Hierbei handelt es sich vermutlich um <persName key="E0300419">Ludwig Rottenberg</persName>. Er war von 1893 bis 1924 erster Kapellmeister der Frankfurter Oper <bibl>(vgl. <ref target="#E0800145"/>, Sp. 656)</bibl>.</note> besuchte nach langjähriger <lb/>Abwesenheit seinen mehr als ach<supplied reason="omitted">t</supplied>zig <lb break="no"/>jährigen Vater<orig>,</orig> und machte um 9 Uhr <lb/>abends noch einen halbstündigen Gang <lb/>durch die Stadt. Am andern Morgen <lb/>sagte ihm der Vater: <q rend="dq-du">Du wei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>t doch, <lb/>ich liebe es nicht, wenn meine Kinder <lb/>nachts ausgehen!</q> – Wie hätte den <lb/>erst sein Gro<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>vater angerasselt, <lb/>wenn der noch gelebt hätte. —</p> <p rend="indent-first">Jeder empfindende Mensch hat <lb/>seine 60 Jahre und seinen mehr <lb/>als 80<reg>-</reg>jährigen Vater: Der eine liebt <lb/>die (wirkliche) antike Tragödie un <lb break="no"/>beschreiblich – ich, zum Beispiel. <lb/>Ein anderer, vielleicht sehr, sehr <lb/>liebenswerter Mensch<orig>,</orig> findet das <lb/>nur komisch und findet sich in <lb/>neueren Dingen erfüllt. Bleibt <lb/><choice><orig>B</orig><reg>b</reg></choice>eides nur Vergnügen, so war es <lb/>eine mü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>ige Unterhaltung zwischen <lb/><choice><orig>B</orig><reg>b</reg></choice>eiden. Geschieht aber die innere <lb/>Befragung aus Gründen der produk <lb break="no"/>tiven Umbildung, so ist sicherlich <lb/>ein Stückchen Weg unter den Menschen <lb/>weitergeschoben worden! <seg type="closer" subtype="salute">Auf bald, <lb/>mit einem Freundschaftshändedruck von</seg></p> <closer> <signed>Ihrem <persName key="E0300126">Ludwig Rubiner</persName>.</signed> </closer> </div>
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B II, 4280
[17]
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
April
24. morgens.

Weil das Wort „Verstehen“ fiel.
Sie fragten mich einmal, was ich
über „Verständlichkeit“ denke. Ich
halte sie für die erste Bedingung,
und sie ist mir genau dasselbe wie
„guter Bau“. Verständlichkeit kann
natürlich nicht heissen, – wie sie
missbraucht wird – Wiederholung
von schon Gewöhntem. Sondern
Gegenseitige Klarheit in den
Einzelteilen, die der (notwendigen)
Zurückführung auf die primären
Grundlagen der Idee entsprechen
müssen. Also: Welt-Allgemein⸗
gültigkeit. So ist Dante. So
ist das indische Drama. So der
babylonische Mythos. So die
antike Tragoedie. – Ausschliessung
des Zufälligen, und vor allem des
Privaten. Z. B. Die angebliche

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <postscript type="pre-split"> <note type="shelfmark" resp="#archive" place="top-left">B II, 4280</note> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive">[17]</note> <note type="stamp" place="left" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName> </stamp> </note> <opener> <dateline rend="right-of align(right)"> <date when-iso="1918-04-24"><add type="annotation" resp="#recipient">April</add> <lb/>24.</date> morgens. </dateline> </opener> <p type="pre-split" rend="indent-first">Weil das Wort <mentioned rend="dq-du">Verstehen</mentioned> fiel. <lb/>Sie fragten mich einmal, was ich <lb/>über <mentioned rend="dq-du">Verständlichkeit</mentioned> denke. Ich <lb/>halte sie für die erste Bedingung, <lb/>und sie ist mir genau dasselbe wie <lb/><soCalled rend="dq-du">guter Bau</soCalled>. Verständlichkeit kann <lb/>natürlich nicht hei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en<orig>,</orig> – wie sie <lb/>missbraucht wird – Wiederholung <lb/>von schon Gewöhntem. Sondern <lb/><choice><sic>G</sic><corr>g</corr></choice>egenseitige Klarheit in den <lb/>Einzelteilen, die der (notwendigen) <lb/>Zurückführung auf die primären <lb/>Grundlagen der Idee entsprechen <lb/>müssen. Also: Welt-Allgemein <lb break="no"/>gültigkeit. So ist <persName key="E0300215">Dante</persName>. So <lb/>ist das <placeName key="E0500808">indische</placeName> Drama. So der <lb/>babylonische Mythos. So die <lb/>antike Trag<choice><orig>oe</orig><reg>ö</reg></choice>die. – <hi rend="underline2">Ausschliessung</hi> <lb/>des Zufälligen, und vor allem des <lb/><hi rend="underline2">Privaten</hi>. Z. B.<reg>:</reg> Die angebliche </p></postscript></div>
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[18] Nichtverständlichkeit und
Kommentarbedürftigkeit von
Dante, Tolstoi, Faust II ist
nur böser Wille des Bürgers,
der in seiner geistigen Ruhe nicht
gestört werden will, und der
vor allem nicht aus sich heraus
will. Der Hass gegen manche
neue Maler, die sichtlich und
nachweislich in härtester Arbeit
auf die primären Grundlagen
des Sehens zurückgehen, ist
aus derselben Trägheitskategorie.
Und vieles andere dergleichen.
Z. B. Reger, der einem doch wirklich
keine Geheimnisse aufgibt, gehört
für mich zur Klasse der
Unverständlichen (Sünder!) weil
er stundenlang auf musik⸗
technischem Wege privates
Gemurmel von sich giebt.

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><postscript type="split"><p rend="indent-first" type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive">[18]</note> Nichtverständlichkeit und <lb/>Kommentarbedürftigkeit von <lb/><persName key="E0300215">Dante</persName>, <persName key="E0300091">Tolstoi</persName>, <title key="E0400107">Faust II</title> ist <lb/>nur böser Wille des Bürgers, <lb/>der in seiner geistigen Ruhe nicht <lb/>gestört werden will, und der <lb/>vor allem nicht aus sich heraus <lb/>will. Der Hass gegen manche <lb/>neue Maler, die sichtlich und <lb/>nachweislich in härtester Arbeit <lb/>auf die primären Grundlagen <lb/>des Sehens zurückgehen, ist <lb/>aus derselben Trägheitskategorie. <lb/><handShift resp="#major_hand_pencil"/>Und vieles andere dergleichen. <lb/>Z. B. <persName key="E0300097">Reger</persName>, der einem doch wirklich <lb/>keine Geheimnisse aufgibt, gehört <lb/>für mich zur Klasse der <lb/>Unverständlichen (Sünder!)<reg>,</reg> weil <lb/>er stundenlang auf musik <lb break="no"/>technischem Wege <hi rend="underline2">privates</hi> <lb/>Gemurmel von sich gi<orig>e</orig>bt.</p> </postscript></div>
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[19]

Bach höchste Verständlichkeit
einer Gemeinschaft!

Mozart die Verständlichkeit
des neuen Jahrhunderts.

Ich denke immer, und absichtlich
unhistorisch: Beethoven ist
ein Rückschritt ins Private,
je mehr er „letzter B. wird!
(Beweis übrigens auch der sichere
grobe Instinkt des Publikums,
der Mond= u. Sternendinge
zu den Werken hinzu erfindet,
während doch die Allgemeingül⸗
tigkeit der wirklich grossen
Werke die umfassendsten kosmi⸗
schen Gesetze der Welt schon
in sich einschliessen.)

Noch eins: Bei näherer
Betrachtung Ihres Briefes
scheint es mir aus einem

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><postscript type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive">[19]</note> <p><persName key="E0300012">Bach</persName> höchste Verständlichkeit <lb/>einer Gemeinschaft!</p> <p><persName key="E0300010">Mozart</persName> die Verständlichkeit <lb/>des neuen Jahrhunderts.</p> <p>Ich denke immer, und absichtlich <lb/>unhistorisch: <persName key="E0300001">Beethoven</persName> ist <lb/>ein Rückschritt ins Private, <lb/>je mehr er <soCalled rend="dq-du">letzter <persName key="E0300001" type="automated" nymRef="Ludwig van Beethoven"><choice><abbr>B.</abbr><expan>Beethoven</expan></choice></persName></soCalled> wird! <lb/>(Beweis übrigens auch der sichere <lb/>grobe Instinkt des Publikums, <lb/>der Mond<pc>=</pc> u. Sternendinge <lb/>zu den Werken <hi rend="underline">hinzu</hi><orig> </orig>erfindet, <lb/>während doch die Allgemeingül <lb break="no"/>tigkeit der wirklich gro<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en <lb/>Werke die umfassendsten kosmi <lb break="no"/>schen Gesetze der Welt schon <lb/><hi rend="underline">in sich einschlie<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en</hi>.) <milestone unit="section" style="—" rend="inline"/> </p> <p type="pre-split">Noch eins: Bei näherer <lb/>Betrachtung <ref type="E010005" target="#D0100321">Ihres Briefes</ref> <lb/>scheint es mir aus einem </p></postscript></div>
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[20] Tone schattenhaft, als fühlten Sie
meine Frage betr. Faust II nicht
in Ordnung. Z. B. Ihr Hinweis auf
den Unterschied der Lebensjahre,
der Erfahrung. Aber das ist
gewiss eine Täuschung von mir,
die ich hier in meiner Einsamkeit
habe. Wie sollte wohl, denke ich
mir, überhaupt sonst ein Gespräch
möglich sein – unter uns Wenigen,
die heute überhaupt noch denken
und fühlen! – Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Und noch wegen meiner Äusserung
(in meinem vorletzten Brief) über Dr. Huber
bitte ich Sie um Verzeihung. Er gehört
zu Ihren Freunden, ich darf ihn also
nicht so gleichgültig ablehnen. Mich hatte
nur der Unmut und die Enttäuschung
über seine Lauheit in Sachen des
„Journal d. G.“ hingerissen. Doch das ist
wohl seine Krankheit. Mein Freund ist er
natürlich nicht. Künstler vieux jeu Frz.: „altmodisch“ mag ich nicht.
Das darf aber kein Grund sein, so von ihm zu
sprechen. Also: Bitte nicht böse sein! Ihr L. R.

                                                                
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><postscript type="split"><p type="split"> <note type="pagination" place="top-right" resp="#archive">[20]</note> Tone schattenhaft, als fühlten Sie <lb/>meine Frage betr. <title key="E0400107">Faust II</title> nicht <lb/>in Ordnung. Z. B. Ihr Hinweis auf <lb/>den Unterschied der Lebensjahre, <lb/>der Erfahrung. Aber das ist <lb/>gewiss eine Täuschung von mir, <lb/>die ich hier in meiner Einsamkeit <lb/>habe. Wie sollte wohl, denke ich <lb/>mir, überhaupt sonst ein Gespräch <lb/>möglich sein – unter <hi rend="underline">uns Wenigen</hi>, <lb/>die heute überhaupt noch denken <lb/>und fühlen! – <note type="stamp" place="inline" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName> </stamp> </note> </p> <p>Und noch wegen meiner Äu<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>erung <lb/>(<ref type="E010005" target="#D0100320">in meinem vorletzten Brief</ref>) über <persName key="E0300125">Dr. Huber</persName> <lb/>bitte ich Sie um Verzeihung. Er gehört <lb/>zu Ihren Freunden, ich darf ihn also <lb/>nicht so gleichgültig ablehnen. Mich hatte <lb/>nur der Unmut und die Enttäuschung <lb/>über seine Lauheit in Sachen des <lb/><orgName key="E0600089" rend="dq-du"><choice><orig>Journal d. G.</orig><reg>Journal de Genève</reg></choice></orgName> hingerissen. Doch das ist <lb/>wohl seine Krankheit. Mein Freund ist er <lb/>natürlich nicht. Künstler <foreign xml:lang="fr">vieux jeu</foreign> <note type="commentary" resp="#E0300373">Frz.: <q>altmodisch</q></note> mag ich nicht. <lb/>Das darf aber kein Grund sein, so von ihm zu <lb/>sprechen. Also: Bitte nicht böse sein! <seg type="closer" subtype="signed">Ihr <persName key="E0300126"><choice><abbr>L. R.</abbr><expan>Ludwig Rubiner</expan></choice></persName></seg></p> </postscript> </div>
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Locarno
24.IV.1918
                                                                <note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" place="top-right" resp="#post">
                        <stamp xml:id="post_abs" rend="round border majuscule align(center)">
                           <placeName key="E0500183">Locarno</placeName>
                           <lb/><date when-iso="1918-04-24">24.IV.1918</date>
                           <!-- weitere Angaben (ggf. <gap/>)? -->
                           <!-- wieviel können Sie von obigem wirklich auf dem Papier sehen? (Rest mit <supplied>) -->
                        </stamp>
                     </note>
                                                                
<address xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0"> <addrLine>Herrn</addrLine> <addrLine>Prof. <persName key="E0300017">Ferruccio Busoni</persName></addrLine> <addrLine rend="align(right)"><placeName key="E0500132">Zürich</placeName> VI</addrLine> <addrLine rend="align(right)"><placeName key="E0500189">Scheuchzerstr. 36</placeName>.</addrLine> </address>
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Mus.Nachl. F. Busoni
B II, 4280-Beil.
Zürich
24.IV.18. – 10
Brf. Exp.
Nachlaß Busoni B II
Mus.ep. L. Rubiner 21
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
24. April 1918
                                                                
<address xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" rend="align(center)"> <addrLine>Abs.:</addrLine> <addrLine rend="inline"><persName key="E0300126">Rubiner</persName>.</addrLine> <addrLine rend="inline"><placeName key="E0500291">Muralto</placeName> – <placeName key="E0500183">Locarno</placeName>.</addrLine> <addrLine><placeName key="E0500447">Villa Rossa</placeName>.</addrLine> </address>
<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="shelfmark" place="center" resp="#archive" rend="space-above"> <add xml:id="addSig">Mus.Nachl. F. Busoni <lb/>B II, 4280-Beil.</add> </note> <note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" resp="#post" place="right"> <stamp xml:id="post_recp" rend="round border majuscule align(center)"> <placeName key="E0500132">Zürich</placeName> <lb/><date when-iso="1918-04-24">24.IV.18</date>. – 10 <lb/>Brf. Exp. </stamp> </note> <note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="shelfmark" place="left" resp="#archive"> <del rend="strikethrough" xml:id="delSig"> <stamp resp="#sbb_st_blue">Nachlaß Busoni <handShift new="#archive_red"/> B II</stamp> Mus.ep. L. Rubiner 21</del> </note> <substJoin xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" target="#addSig #delSig"/> <note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName> </stamp> </note> <note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="annotation" place="bottom-center" rend="large" resp="#recipient">24. April 1918</note>

Document

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Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4280 | olim: Mus.ep. L. Rubiner 21 (Busoni-Nachl. B II) |

proof Kalliope

Condition
Der Brief ist gut erhalten; Umschlagaufriss ohne Textverlust.
Extent
5 Bogen, 20 beschriebene Seiten
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Ludwig Rubiner, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand des Absenders Ludwig Rubiner, Brieftext mit Bleistift (ab S. 18 unten), in lateinischer Schreibschrift.
  • Vmtl. Hand des Empfängers Ferruccio Busoni, der auf der Umschlagrückseite die Zuordnung
  • Rubiner
  • mit Bleistift notiert hat.
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
Image source
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 12345678910111213141516171819202122

Summary
Rubiner bestätigt Busoni hinsichtlich seiner Meinung zu Faust II; hinterfragt den Umgang mit Erlösung, Schuld, Sünde und Verklärung; befürwortet die Zeitlosigkeit antiker bzw. klassischer Dramen und die dramaturgische „Gleichzeitigkeit“ des Faust II; stellt zur Diskussion, ob das Werk der dramatischen Gattung zuzuordnen sei; schreibt die ausgeprägteste Dramatik in Goethes Œuvre der Farbenlehre zu; definiert Verständlichkeit als Produkt künstlerischer Zeitgeistaffinität oder Objektivität; entschuldigt sich für seine Kritik an Hans Huber.
Incipit
Nur kurz: Ich sandte Ihnen gestern Abend einen Brief durch Express nach Genf

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
February 12, 2018: proposed (transcription and coding done, awaiting proofreading)
Direct context
Preceding Following
Near in this edition