Philipp Jarnach an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Zürich · 19. November 1919

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N.Mus.Nachl. 30, 110
Zürich den 19 Nov. 1919.

Mein lieber, verehrter Meister!

Nun das Datum heranrückt, an welchem
Sie voraussichtlich wieder in Zürich sein
werden, drängt es mich, Ihnen zu sagen, mit
welcher Freude wir Ihrer Rückkehr entgegen⸗
sehen. In dieser Zeit Ihrer Abwesenheit ist
es mir so recht zum Bewusstsein gekommen,
was unsere Plaudereien für mich bedeuteten;
Sie können es mir glauben, ohne mich mit
dem Verdacht der Schmeichelei zu belasten,
dass Ihr Umgang, – für einen Kerl, der „nicht
nach unten blicken mag“
, schwer entbehrliche
Anregungen in sich schliesst. – Und in diesem
verdriesslichen November, wo Wind und Regen
endlose Doppelfugati aneinanderreihen, Herr
Feuerzauberwachtmeister Dillmann auf dem
Flügel richardwagnert, und Feinhals seine
schlackenlose Stimme in den Dienst schatten⸗
loser Frauen
stellt, während einen hand⸗
werkliche Obliegenheiten im Komponieren
stören, – möchte man sich mit der Musik
ernstlich entzweien, wüsste man nicht, dass
irgendwo eine Lokomotive dampft, die uns
Busoni zurückbringen wird.

Zürich, den 19. Nov. 1919.

Mein lieber, verehrter Meister!

Nun das Datum heranrückt, an welchem Sie voraussichtlich wieder in Zürich sein werden, drängt es mich, Ihnen zu sagen, mit welcher Freude wir Ihrer Rückkehr entgegensehen. In dieser Zeit Ihrer Abwesenheit ist es mir so recht zum Bewusstsein gekommen, was unsere Plaudereien für mich bedeuteten; Sie können es mir glauben, ohne mich mit dem Verdacht der Schmeichelei zu belasten, dass Ihr Umgang – für einen Kerl, der „nicht nach unten blicken mag“ – schwer entbehrliche Anregungen in sich schließt. – Und in diesem verdrießlichen November, wo Wind und Regen endlose Doppelfugati aneinanderreihen, Herr Feuerzauberwachtmeister Dillmann auf dem Flügel richardwagnert und Feinhals seine schlackenlose Stimme in den Dienst schattenloser Frauen stellt, während einen handwerkliche Obliegenheiten im Komponieren stören – möchte man sich mit der Musik ernstlich entzweien, wüsste man nicht, dass irgendwo eine Lokomotive dampft, die uns Busoni zurückbringen wird.

Wir waren in München. Dort lauter Novitäten: Pfitzner leitete die IV. Symphonie von Schumann, Steiner sang „Morgen“ und „Ständchen“ von Richard Strauss, Rosé vermittelte einem fortschrittlichen Publikum die abstraktesten Quartette Joseph Haydns. Nach Einsichtnahme dieser und anderer Programme fuhren wir nach Polling, wo wir zwei freudige Wochen verbrachten, in dem wunderschönen Barockhaus, von dem ich Ihnen erzählt habe, und mit lieben Menschen.

Nach meiner Rückkehr habe ich meinen Sinfoniesatz fertig gemacht und beschlossen, wenigstens vorläufig, keine Fortsetzung zu schreiben. – Da das Schoeck’sche „Wandbild“ seit einem Jahr verschwunden war, dachte ich daran, „das meinige“ doch zu vollenden. Nachdem Jarnach das ihm gewidmete Libretto Busonis nicht zeitnah komponieren konnte, bot Busoni es Othmar Schoeck zur Vertonung an (Weiss 1996, S. 71). Aber, unerhört! heute lese ich in der Zeitung, dass die Partitur Schoecks wiedergefunden, und von Breitkopf ans Herz … gedruckt wird! Den Hinweis darauf, dass sich Othmar Schoecks Vertonung von Busonis Wandbild-Libretto im Druck befindet, las Busoni sehr wahrscheinlich in der Neuen Zürcher Zeitung vom 19.11.1919, Rubrik „Feuilleton/Kleine Chronik“, 140. Jg., Nr. 1792, 2. Morgenblatt, [S. 5].

Mein Manuskript muss sich in der Schublade wieder einleben.

Verzeihen Sie diesen geistlosen Brief. Eigentlich wollte ich Ihnen nur meinen und der Ursula allerherzlichsten Gruß senden!

Ihr treu ergebener

Philipp Jarnach

                                                                
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Wir waren in München. Dort lauter
Novitäten: Pfitzner leitete die IV:e Symphonie
von Schumann, Steiner sang „Morgen“
und „Ständchen“ von Rich. Strauss, Rosé
vermittelte einem fortschrittlichem Publikum
die abstraktesten Quartette Jos. Haydns.
Nach Einsichtnahme dieser u. anderer
Programme fuhren wir nach Polling
wo wir zwei freudige Wochen verbrachten,
in dem wunderschönen Barockhaus von
dem ich Ihnen erzählt habe, und mit
lieben Menschen.

Nach meiner Rückkehr habe ich meinen
Sinfoniesatz fertig gemacht und beschlossen,
wenigstens vorläufig, keine Fortsetzung
zu schreiben. – Da das Schoeck’sche
„Wandbild“ seit einem Jahr verschwunden
war, dachte ich daran „das meinige“ doch
zu vollenden. Nachdem Jarnach das ihm gewidmete Libretto Busonis nicht zeitnah komponieren konnte, bot Busoni es Othmar Schoeck zur Vertonung an (Weiss 1996, S. 71). Aber, unerhört! heute lese
ich in der Zeitung, dass die Partitur
Schoecks wiedergefunden, und von Breitkopf
ans Herz … gedruckt wird! Den Hinweis darauf, dass sich Othmar Schoecks Vertonung von Busonis Wandbild-Libretto im Druck befindet, las Busoni sehr wahrscheinlich in der Neuen Zürcher Zeitung vom 19.11.1919, Rubrik „Feuilleton/Kleine Chronik“, 140. Jg., Nr. 1792, 2. Morgenblatt, [S. 5].

Mein Manuskript muss sich in der Schublade
wieder einleben.

Verzeihen Sie diesen geistlosen Brief. Eigentlich
wollte ich Ihnen nur meinen und der Ursula Preußischer
Staats⸗
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

[am rechten Rand, längs:]
allerherzlichsten Gruss senden!

Ihr treu ergebener

Philipp Jarnach

                                                                
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Zürich 1
6–7
20·XI
1919
Briefversand
Mr. Ferruccio Busoni
West Wing.
Outer Circle.
Regent’s Park N.W.
London.
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4Faksimile
4Diplomatische Umschrift
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zu N.Mus.Nachl. 30,110
London N. W[.]
10. am
24 No
19
8
Preußischer
Staats⸗
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                
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Dokument

doneStatus: zur Freigabe vorgeschlagen XML Faksimile Download / Zitation

Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,110 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Brief und Umschlag sind gut erhalten; Umschlagaufriss rechts (ohne Textverlust).
Umfang
1 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)

Zusammenfassung
Jarnach betont, wie wichtig ihm der Kontakt zu Busoni ist; berichtet von Konzertbesuchen in München, Urlaub in Polling und dem Abschluss der Sinfonia brevis.
Incipit
Nun das Datum heranrückt

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
21. Oktober 2021: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition