Philipp Jarnach an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Zürich · 4. Januar 1920

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Diplomatische Umschrift
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N.Mus.Nachl. 30,111

Mein lieber, verehrter Meister und Freund!

Ich habe die Schrift von Bekker gelesen. Paul Bekkers Schrift Neue Musik war 1919 – bereits in fünfter Auflage – in die Reihe „Tribüne der Kunst und Zeit. Eine Schriftensammlung“ aufgenommen worden. Bei Busoni hatte sie offenkundig großes Interesse geweckt, da er sie mehreren Personen zur Lektüre empfahl bzw. den Text weitergab: neben Jarnach u. a. an den Musikwissenschaftler Jean Chantavoine in Paris (vgl. dazu Busonis Brief an Bekker vom 4.8.1920). In einem Brief an Volkmar Andreae attestiert Busoni Bekker, dass dieser in seinem „Schriftchen Neue Musik Alles sicher überschaut und Jedwedes in ein Schubfächlein steckt, was die letzten 25 Jahre an Noten=Kombinationen zeitigten“. Das „Gemisch von Erkenntnis und perspektivischer Verrechnung“ war nach Busonis Ansicht das, was den „im ganzen unaffektiert abgefasst[en]“ Text „lesenwerth“ macht (Brief von Busoni an Andreae, London, 19.11.1919, zit. nach Willimann 1994, Nr. 72, S. 107).
Bekker nahm den Text in den ebenfalls Neue Musik betitelten dritten Band seiner gesammelten Schriften auf, begleitet von einem im September 1923 verfassten „Vorwort an Ferruccio Busoni. Darin räumt er zunächst ein, dass der Inhalt des Buches „in nicht wenigen Teilen Ihren [Busonis] Ansichten widersprechen“ wird (Bekker 1923a, S. VII), denn während Bekker als „Grundproblem“ und „die wichtigste Aufgabe unserer Zeit auf jedem Gebiet“ die „Auseinandersetzung mit der Romantik“ für sich herauskristallisiert hatte, die ihn letztlich auch zur „Beschäftigung mit der stärksten Einzelerscheinung dieser Zeit: mit Richard Wagner trieb (ibid., S. IX), hatte Busoni ein eher zwiegespaltenes Verhältnis zu Wagner und seinem Schaffen. Bekker bezeichnet eine Schmähung der Romantik als „töricht“ (ibid.) und plädiert dafür, das Grundproblem in „größerem Bogen zu umkreisen“ und es „im Sinne eines großartigen kulturgeschichtlichen Phänomens“ zu begreifen (ibid.), wobei er eine Herausforderung bei der Meindungsbildung zum Thema vor allem darin sieht, die „Kräfte der Vergangenheit wie der Gegenwart […] positiv dar[zu]stellen“ (ibid.). Den abschließenden Brückenschlag zu Busoni fasst Bekker in folgende Worte: „[…] sehr verehrter Herr Busoni, ich bin mir des suchenden Charakters meiner Arbeiten bewußt […] Gewiß, wir stimmen in Vielem nicht überein und sind uns dessen […] bewußt. In einem aber, das ich viel höher schätze als Meinungsgleichheit: im redlichen Wollendes Suchenden – da stimmen wir zutiefst überein“ (ibid., S. X).
Er fordert:

  • I._ Totalen Verzicht auf harmonischen Grundbau.
    zwecks Erreichung der endgültigen
  • II._ Befreiung der melodischen Linie.

Ich möchte zu dieser alten Frage etwas bemerken
das mir neuerdings einleuchtet:

  • I._ Sobald mehrere Melodien gleichzeitig erklingen
    ist die „endgültige Befreiung“ dahin. Denn:
  • II._ Die zufälligen Zusammenklänge sind nichts
    anderes als Akkorde (sowie umgekehrt: die zufällige
    intervallmässige Bewegung der Oberstimme im rein
    harmonischen Satz eine Art Melodie ist.)
  • III._ Die so entstandenen Akkorde werden gehört
    und wirken mit; es ist deswegen ganz undenkbar
    dass sie ohne Einfluss auf das meloddische Fortspinnen
    blieben (ausgenommen vielleicht bei einem absolut
    abgestumpften Gehör; ein solches würde aber auch
    nicht imstande sein, Melodisches wahrzunehmen.)
  • und IV._ Es ist also nach wie vor Rücksicht zu
    nehmen auf diese angeblich zufälligen Zusammen⸗
    klänge. Sie zu lenken und zu denken, so, dass die

Mein lieber, verehrter Meister und Freund!

Ich habe die Schrift von Bekker gelesen. Paul Bekkers Schrift Neue Musik war 1919 – bereits in fünfter Auflage – in die Reihe „Tribüne der Kunst und Zeit. Eine Schriftensammlung“ aufgenommen worden. Bei Busoni hatte sie offenkundig großes Interesse geweckt, da er sie mehreren Personen zur Lektüre empfahl bzw. den Text weitergab: neben Jarnach u. a. an den Musikwissenschaftler Jean Chantavoine in Paris (vgl. dazu Busonis Brief an Bekker vom 4.8.1920). In einem Brief an Volkmar Andreae attestiert Busoni Bekker, dass dieser in seinem „Schriftchen Neue Musik Alles sicher überschaut und Jedwedes in ein Schubfächlein steckt, was die letzten 25 Jahre an Noten-Kombinationen zeitigten“. Das „Gemisch von Erkenntnis und perspektivischer Verrechnung“ war nach Busonis Ansicht das, was den „im ganzen unaffektiert abgefasst[en]“ Text „lesenwerth“ macht (Brief von Busoni an Andreae, London, 19.11.1919, zit. nach Willimann 1994, Nr. 72, S. 107).
Bekker nahm den Text in den ebenfalls Neue Musik betitelten dritten Band seiner gesammelten Schriften auf, begleitet von einem im September 1923 verfassten „Vorwort an Ferruccio Busoni. Darin räumt er zunächst ein, dass der Inhalt des Buches „in nicht wenigen Teilen Ihren [Busonis] Ansichten widersprechen“ wird (Bekker 1923a, S. VII), denn während Bekker als „Grundproblem“ und „die wichtigste Aufgabe unserer Zeit auf jedem Gebiet“ die „Auseinandersetzung mit der Romantik“ für sich herauskristallisiert hatte, die ihn letztlich auch zur „Beschäftigung mit der stärksten Einzelerscheinung dieser Zeit: mit Richard Wagner trieb (ibid., S. IX), hatte Busoni ein eher zwiegespaltenes Verhältnis zu Wagner und seinem Schaffen. Bekker bezeichnet eine Schmähung der Romantik als „töricht“ (ibid.) und plädiert dafür, das Grundproblem in „größerem Bogen zu umkreisen“ und es „im Sinne eines großartigen kulturgeschichtlichen Phänomens“ zu begreifen (ibid.), wobei er eine Herausforderung bei der Meindungsbildung zum Thema vor allem darin sieht, die „Kräfte der Vergangenheit wie der Gegenwart […] positiv dar[zu]stellen“ (ibid.). Den abschließenden Brückenschlag zu Busoni fasst Bekker in folgende Worte: „[…] sehr verehrter Herr Busoni, ich bin mir des suchenden Charakters meiner Arbeiten bewußt […] Gewiß, wir stimmen in Vielem nicht überein und sind uns dessen […] bewußt. In einem aber, das ich viel höher schätze als Meinungsgleichheit: im redlichen Wollendes Suchenden – da stimmen wir zutiefst überein“ (ibid., S. X).
Er fordert:

  • I. totalen Verzicht auf harmonischen Grundbau zwecks Erreichung der endgültigen
  • II. Befreiung der melodischen Linie.

Ich möchte zu dieser alten Frage etwas bemerken, das mir neuerdings einleuchtet:

  • I. Sobald mehrere Melodien gleichzeitig erklingen, ist die „endgültige Befreiung“ dahin. Denn:
  • II. Die zufälligen Zusammenklänge sind nichts anderes als Akkorde (so wie umgekehrt die zufällige intervallmäßige Bewegung der Oberstimme im rein harmonischen Satz eine Art Melodie ist).
  • III. Die so entstandenen Akkorde werden gehört und wirken mit; es ist deswegen ganz undenkbar, dass sie ohne Einfluss auf das meloddische Fortspinnen blieben (ausgenommen vielleicht bei einem absolut abgestumpften Gehör; ein solches würde aber auch nicht imstande sein, Melodisches wahrzunehmen);
  • und IV. Es ist also nach wie vor Rücksicht zu nehmen auf diese angeblich zufälligen Zusammenklänge. Sie zu lenken und zu denken, so dass die Hemmungen, welche sie dem melodischen Willen entgegensetzen, zu einem Minimum reduziert werden – im Übrigen die kluge Verteilung der Gewichte auf den einen wie den andern Faktor –, darin scheint mir die Aufgabe der Kunstsprache zu bestehen.

Und wenn es wahr ist, dass Bachs Werk nichts anderes zeigt als ein mit fast allmächtiger künstlerischer Intelligenz geschaffenes Kompromiss zwischen den zwei einander unentbehrlichen und doch unversöhnlichen Elementen – so ist noch niemand diesen Weg zu Ende gegangen, will sagen, dass der Beweis nicht erbracht wurde, dass er zu einer Sackgasse führt.

So betrachte ich eine Forderung, die eine Kündigung des Kompromisses in sich schließt, zum mindesten als verfrüht. Vielleicht wollte Bekker dies auch nicht verlangen. Seine Ausführungen haben etwas Absolutes, das zum Widerspruch reizt, sind aber in vielem so richtig, ehrlich und mutig gedacht, dass man der Schrift weiteste Verbreitung wünschen möchte. Bloß Debussy und Reger als Befreier vom harmonischen Empfinden verstehe ich nicht.

Ich danke Ihnen für Ihren schönen Brief von gestern. Wenn Sie der Meinung sind, dass ein „gutes“ Bühnenwerk meistens schlechte Literatur ist und umgekehrt, so stimmen wir derart überein, dass sich jede weitere Diskussion erübrigt. Es bleibt nur zu wünschen, dass das Publikum so weit käme, gute Literatur auch im Theater zu ertragen. Was das „Gesetz“ des Theaters anbelangt, so habe ich mich am Silvesterabend wahrscheinlich sehr unklar ausgedrückt. Ich meinte damit weder Genre noch Stil, sondern nur die materiellen Eigentümlichkeiten der Bühne – welch letztere von Aeschylos bis Strindberg unverändert geblieben sind.

Ich möchte meinen Brief nicht schließen, ohne Ihnen noch einmal zu danken für Ihre Äußerungen über „Faust“. Sie eröffneten mir ganz neue Perspektiven, durch welche ich die Möglichkeit erblicke, zu einem neuen Verhältnis zum großen Drama zu gelangen und somit einen gewissen Stillstand zu überwinden.

Mit den herzlichsten Grüßen Ihres

Graphische Spielerei bzw. Monogramm Jarnachs, bestehend aus den ersten zwei Buchstaben seines Vornamens und dem Anfangsbuchstaben seines Nachnamens (P, H und J), wobei die genaue Reihenfolge der Zeichen in dieser Form der Darstellung nicht bestimmt werden kann. Vgl. auch Weiss 1996, S. 376, wo ein ähnliches, aber in einem entscheidenden Detail doch abweichendes Monogramm abgedruckt ist, das die Initialen des vollständigen Namens – Philipp Raphael Jarnach (P, R und J) – abbildet.

4. Januar 1920
                                                                
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  • Hemmungen, welche sie dem melodischen Willen
    entgegensetzen zu einem Minimum reduziert werden,
    – im übrigen die kluge Verteilung der Gewichte
    auf den einen wie den andern Faktor – darin
    scheint mir die Aufgabe der Kunstsprache zu
    bestehen.

Und wenn es wahr ist, dass Bachs Werk nichts
anderes zeigt als ein mit fast allmächtiger künst⸗
lerischer Intelligenz geschaffenes Kompromis zwischen
den zwei, einander unentbehrlichen und doch
unversöhnlichen Elementen – so ist noch niemand
diesen Weg zu Ende gegangen, will sagen dass der
Beweis nicht erbracht wurde, dass er zu einer
Sackgasse führt.

So betrachte ich eine Forderung, die eine
Kündigung des Kompromisses in sich schliesst,
zum mindesten als verfrüht. Vielleicht wollte
Bekker dies auch nicht verlangen. Seine Ausfüh⸗
rungen haben etwas Absolutes, das zum Wider⸗
spruch reizt, sind aber in vielem so richtig,
ehrlich und mutig gedacht, dass man der Schrift
weiteste Verbreitung wünschen möchte.
Bloss Debussy und Reger als Befreier vom
harmonischen Empfinden verstehe ich nicht[.]

Preußischer
Staats⸗
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

Ich danke Ihnen für Ihren schönen Brief

                                                                
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von gestern
. Wenn Sie der Meinung sind,
dass ein „gutes“ Bühnenwerk meistens schlechte
Litteratur ist, und umgekehrt, so stimmen
wir derart überein, dass sich jede weitere
Diskussion erübrigt. Es bleibt nur zu wünschen,
dass das Publikum so weit käme, gute Litte-
ratur auch im Theater zu ertragen. Was das
„Gesetz“ des Theaters anbelangt, so habe ich mich
am Sylvesterabend wahrscheinlich sehr unklar
ausgedrückt. Ich meinte damit weder Genre
noch Stil, sondern nur die materiellen Eigen-
tümlichkeiten der Bühne – welch letztere von
Aeschylos bis Strindberg unverändert geblieben sind.

Ich möchte meinen Brief nicht schliessen
ohne Ihnen noch einmal zu danken für Ihre
Aeusserungen über „Faust“. Sie eröffneten mir
ganz neue Perspektiven, durch welche ich die Möglich⸗
keit erblicke, zu einem neuen Verhältnis zum
grossen Dramen zu gelangen, und somit einen
gewissen Stillstand zu überwinden.

Mit den herzlichsten Grüssen Ihres

Graphische Spielerei bzw. Monogramm Jarnachs, bestehend aus den ersten zwei Buchstaben seines Vornamens und dem Anfangsbuchstaben seines Nachnamens (P, H und J), wobei die genaue Reihenfolge der Zeichen in dieser Form der Darstellung nicht bestimmt werden kann. Vgl. auch Weiss 1996, S. 376, wo ein ähnliches, aber in einem entscheidenden Detail doch abweichendes Monogramm abgedruckt ist, das die Initialen des vollständigen Namens – Philipp Raphael Jarnach (P, R und J) – abbildet.

4 Januar 1920.
                                                                
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Jarnach
Preußischer
Staats⸗
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
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Dokument

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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,111 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Brief und Umschlag sind gut erhalten.
Umfang
2 Blatt, 3 beschriebene Seiten
Kollation
Beim zweiten Blatt ist nur die Vorderseite beschrieben.
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat
  • unbekannte Hand, die auf dem Umschlag recto mit Rotstift eine Notiz zum Briefinhalt gemacht hat
  • unbekannte Hand, die auf dem Umschlag recto mit Bleistift das Briefdatum vermerkt hat
  • unbekannte Hand, die auf dem Umschlag verso mit Bleistift den Namen des Briefschreibers notiert hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)

Zusammenfassung
Jarnach benennt den „[t]otalen Verzicht auf harmonischen Grundbau“ sowie die „Befreiung der melodischen Linie“ als zentrale Anliegen einer Schrift von Paul Bekker; artikuliert seine eigenen Erkenntnisse „zu dieser alten Frage“, erhebt partiell Einwände gegen die Schrift, aber erachtet sie dennoch als „in vielem […] richtig, ehrlich und mutig gedacht“; stimmt Busonis Meinung zu, dass ein ‚gutes‘ Bühnenwerk meistens schlechte Literatur“ ist und umgekehrt; präzisiert, was er mit dem ‚Gesetz‘ des Theaters“ meint; dankt Busoni für die neue Perspektive auf Faust.
Incipit
Ich habe die Schrift von Bekker gelesen

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
31. Mai 2022: in Korrekturphase (Transkription abgeschlossen, Auszeichnungen codiert, zur Korrekturlesung freigegeben)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition