Philipp Jarnach an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Zürich · 21. März 1920

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Diplomatische Umschrift
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N.Mus.Nachl. 30, 113
Zürich, 21 März 1920

Mein verehrter Meister und Freund!

Ich bitte Sie vor allem um Verzeihung, dass
ich Ihre lieben Briefe Vgl. die beiden vorherigen Briefe Busonis vom 4. März 1920 sowie vom 10. März 1920. so spät beantworte. Ich war
in der letzten Zeit in etwas flacher Stimmung,
was nicht zuletzt davon herrühren mag, dass
ich vierzehn Tage lang im Stimmenmaterial
meiner „Symphonia brevis“ Fehler abkratzte,
– während ich so gern etwas andres getan hätte –
und so aus dem Nachdenken über eine neue
Arbeit herausgerissen wurde.

– Ich musste kürzlich, um eine vergessene
Adresse zu finden, meine Schubladen durchstöbern.
Bei dieser Gelegenheit kam eine Anzahl Ihrer
früheren Briefe zum Vorschein. Ich las sie
wieder, es war ein schöner, klarer Augenblick.
Ich sah, dass unsere Freundschaft – Sie erlauben
mir, dieses Wort zu gebrauchen? – schon eine
Geschichte hat. Zunächst die Geschichte von
Entstehung, Aufführung und Druck von „Turan-
dot“
u. „Arlecchino“, (in etwa dreissig Briefen
festgehalten). Busoni hatte Jarnach 1916 beauftragt, die Klavierauszüge für Turandot und Arlecchino zu erstellen; im Jahr 1917 wird der Briefwechsel von entsprechenden Korrekturanweisungen dominiert. Zudem war Jarnach auf Busonis Empfehlung hin als Korrepetitor am Zürcher Stadttheater engagiert worden, um die beiden Opern einzustudieren (vgl. Weiss 1996, S. 59 f.). – Dann, im wesentlichen, die Geschichte
meiner Bekehrung zu ästhetischen Wahrheiten,
denen ich 1916 noch recht fern stand, doch kurz
darauf deutlich zu fühlen begann. Am 10 Februar

Zürich, 21. März 1920

Mein verehrter Meister und Freund!

Ich bitte Sie vor allem um Verzeihung, dass ich Ihre lieben Briefe Vgl. die beiden vorherigen Briefe Busonis vom 4. März 1920 sowie vom 10. März 1920. so spät beantworte. Ich war in der letzten Zeit in etwas flacher Stimmung, was nicht zuletzt davon herrühren mag, dass ich vierzehn Tage lang im Stimmenmaterial meiner „Symphonia brevis“ Fehler abkratzte – während ich so gern etwas andres getan hätte – und so aus dem Nachdenken über eine neue Arbeit herausgerissen wurde.

Ich musste kürzlich, um eine vergessene Adresse zu finden, meine Schubladen durchstöbern. Bei dieser Gelegenheit kam eine Anzahl Ihrer früheren Briefe zum Vorschein. Ich las sie wieder, es war ein schöner, klarer Augenblick. Ich sah, dass unsere Freundschaft – Sie erlauben mir, dieses Wort zu gebrauchen? – schon eine Geschichte hat. Zunächst die Geschichte von Entstehung, Aufführung und Druck von „Turandot“ und „Arlecchino“ (in etwa dreißig Briefen festgehalten). Busoni hatte Jarnach 1916 beauftragt, die Klavierauszüge für Turandot und Arlecchino zu erstellen; im Jahr 1917 wird der Briefwechsel von entsprechenden Korrekturanweisungen dominiert. Zudem war Jarnach auf Busonis Empfehlung hin als Korrepetitor am Zürcher Stadttheater engagiert worden, um die beiden Opern einzustudieren (vgl. Weiss 1996, S. 59 f.). – Dann, im Wesentlichen, die Geschichte meiner Bekehrung zu ästhetischen Wahrheiten, denen ich 1916 noch recht fern stand, doch kurz darauf deutlich zu fühlen begann. Am 10. Februar 1919 schrieben Sie:

„Aus verstreuten Äußerungen, die Sie einmal und das andere getan, entnehme ich, wie Sie allmählich zu meinen Prinzipien gelangen.“

In demselben Brief nannten Sie die post-wagnersche Periode den „dämmernden Werktag“; Busoni an Jarnach, 10. Februar 1919: „Aus verstreuten Aüsserungen die Sie, einmal und das andere, getan entnahm ich, wie Sie allmälig zu meinen Prinzipien gelangen. Verdoppelungen – Wiederholungen – Steigerungen – Mangel an Luft – all dieses Rüstzeug eines dämmernden u. bald vergangenen Werk-Tages erkennen Sie als hinderlich.“ ein treffendes Wort, das Sie wahrscheinlich vergessen haben; es charakterisiert eine ganze Generation.

Endlich – um die Periodizität der pianistischen Störungen zu illustrieren (Sie sprachen davon in Ihrem vorletzten Brief) – erinnere ich Sie an Ihr Epigramm:

„… Inzwischen: in des Schaffens Wüsten,
Sind Oasen des Pianisten,
Und die Partitur, sie stockt.
Weiß und schwarz durch Fingerlasten
Senken, heben sich die Tasten,
Wenn der A.... am Stuhle hockt.“
(19. Februar 1918)

Sie fragen sich vielleicht verwundert, warum ich dies alles anführe. Mein lieber Meister, das ist eben meine Antwort auf Ihre Befürchtung, ich könnte die Ratschläge in Ihrem ersten Pariser Brief missverstehen. Missverständnisse auf diesem Boden kann es zwischen uns doch nicht geben! Es würde mich betrüben, wenn ich glauben müsste, dass Sie darüber wirklich im Zweifel sind. Sie unterschätzen mich wohl?

Wenn ein Busoni von Kunst zu mir spricht, habe ich keine Zeit, empfindlich zu sein!

Ich war im Marionettentheater; Im Frühjahr 1920 spielte das Marionetten-Theater Münchner Künstler ein Faust-Puppenspiel im Kunstgewerbemuseum Zürich. Busoni hatte eine Vorstellung angesehen (vermutlich am 2. März, vgl. Beaumont 1987, Anmerkung 284/3, S. 304). auch auf mich machte das Faustspiel einen tiefen Eindruck. Am meisten frappierte mich die formale Geschlossenheit der einzelnen Szenen, die in seltsamem Kontrast zur scheinbaren Primitivität der Ausführung steht. – Dagegen fehlt etwas zwischen dem Akt in Parma und dem Schlussbild – das prächtig gebaut ist –, und ich merkte, wie Sie recht taten, dazwischen die Wirtschaftsszene einzuschalten. Erst dadurch erhält das Ganze auch äußere Abrundung. Eine umfangreiche Erklärung zu den Übereinstimmungen und Abweichungen der Libretti des Doktor Faust und des Puppenspiels gibt Busoni in einem Brief an Gisella Selden-Goth (14. Mai 1920, vgl. Beaumont 1987, S. 308 f.).

Die Münchner Bearbeitung scheint mir einige Details zu schwächen. Auch sehe ich die Notwendigkeit nicht ein. Dagegen war die Darstellung wundervoll. Die Faust-Idee überrumpelt unsere Blasiertheit – welche leider nicht immer eingebildet ist – stets aufs Neue; ich begreife, dass Sie, in dem ein großer Ausdruck dieser Idee reift, nach dieser Vorstellung den Zufall verwünschten, am nächsten Tag abreisen zu müssen. Vgl. Busonis Brief vom 4. März 1920.

Umso mehr freuten mich die Nachrichten, die Sie uns aus Paris geben. Ihre günstigen Eindrücke und der begeisterte Empfang werden Ihren Aufenthalt sicherlich zu einem behaglichen gemacht haben und auf Sie – trotz der Riesenaufgabe Die sechs Solo-Rezitals, das Orchesterkonzert mit Busoni als Pianist und die beiden von ihm dirigierten Konzerte waren bereits vor Busonis Anreise ausverkauft, so dass zwei weitere Rezitals und ein weiteres zu dirigierendes Orchesterkonzert anberaumt wurden, Busoni also zwischen 4. März und 2. April 1920 neun Auftritte zu absolvieren hatte (vgl. Willimann 1994, S.119/122 f.; Beaumont 1987, Anmerkung 284/2, S. 304). – erfrischend wirken. In Ihrem letzten Brief witterte ich förmlich die Pariser Frühlingsluft. – Es freut mich auch, dass ein Publikum, an das ich jeden Glauben verloren hatte, das Ereignis Ihrer Anwesenheit merkt und fühlt!

Tausend herzliche Grüße an Sie und Frau Busoni von Ursula und

Ihrem Philipp Jarnach

PS Das Manuskript v. D. werde ich an Andreae weiterleiten. Die „Improvisation“ wurde von Hug besorgt, da ich kein Exemplar besitze. (Ich hatte seinerzeit ein Exemplar von Biolley geliehen.) Zu den genannten Musikalien vgl. die Kommentierung des vorherigen Briefes. Eine Carmen-Phantasie? Sie sind an Ort und Stelle, aber woher nehmen Sie die Zeit??

                                                                
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2Diplomatische Umschrift
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1919 schrieben Sie:

„Aus verstreuten Auesserungen die Sie,
„einmal und das andere getan, entnehme ich,
„wie Sie allmählich zu meinen Prinzipien
„gelangen.“

In demselben Brief nannten Sie die post-
wagner’sche Periode den „dämmernden Werktag“; Busoni an Jarnach, 10. Februar 1919: „Aus verstreuten Aüsserungen die Sie, einmal und das andere, getan entnahm ich, wie Sie allmälig zu meinen Prinzipien gelangen. Verdoppelungen – Wiederholungen – Steigerungen – Mangel an Luft – all dieses Rüstzeug eines dämmernden u. bald vergangenen Werk-Tages erkennen Sie als hinderlich.“
ein treffendes Wort das Sie wahrscheinlich
vergessen haben; es charakterisiert eine ganze
Generation.

Endlich – um die Periodizität der pianistischen
Störungen zu illustrieren) (Sie sprachen davon
in Ihrem vorletzten Brief) – erinnere ich Sie
an Ihr Epigramm:

„.... Inzwischen: in des Schaffens Wüsten,
„Sind Oasen des Pianisten,
„Und die Partitur, sie stockt.
„Weiss u. schwarz durch Fingerlasten
„Senken, heben sich die Tasten,
„Wenn der A.... am Stuhle hockt.“
(19 Febr. 1918)

Sie fragen sich vielleicht verwundert, warum
ich dies alles anführe. Mein lieber Meister, das
ist eben meine Antwort auf Ihre Befürchtung, Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

ich könnte die Ratschläge in Ihrem ersten

                                                                
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N.Mus.Nachl. 30, 113

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Pariser Brief missverstehen. Missverständnisse
auf diesem Boden kann es zwischen uns doch
nicht geben! Es würde mich betrüben, wenn
ich glauben müsste, dass Sie darüber wirklich
im Zweifel sind. Sie unterschätzen mich wohl?

Wenn ein Busoni von Kunst zu mir
spricht, habe ich keine Zeit, empfindlich zu sein!

Ich war im Marionettentheater; Im Frühjahr 1920 spielte das Marionetten-Theater Münchner Künstler ein Faust-Puppenspiel im Kunstgewerbemuseum Zürich. Busoni hatte eine Vorstellung angesehen (vermutlich am 2. März, vgl. Beaumont 1987, Anmerkung 284/3, S. 304). auch auf
mich machte das Faustspiel einen tiefen
Eindruck. Am meisten frappierte mich die
formale Geschlossenheit der einzelnen Szenen,
die in seltsamem Kontrast zur scheinbaren
Primitivität der Ausführung steht. – Dagegen
fehlt etwas zwischen dem Akt in Parma
und dem Schlussbild – das prächtig gebaut
ist – und ich merkte wie Sie recht taten,
dazwischen die Wirthschaftsszene einzuschalten.
Erst dadurch erhält das Ganze auch aüssere
Abrundung. Eine umfangreiche Erklärung zu den Übereinstimmungen und Abweichungen der Libretti des Doktor Faust und des Puppenspiels gibt Busoni in einem Brief an Gisella Selden-Goth (14. Mai 1920, vgl. Beaumont 1987, S. 308 f.).

Die Münchnerbearbeitung scheint mir
einige Details zu schwächen. Auch sehe ich
die Notwendigkeit nicht ein. Dagegen war
die Darstellung wundervoll. Die Faust-Idee
überrumpelt unsere Blasiertheit – welche leider
nicht immer eingebildet ist – stets aufs

                                                                
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Neue; ich begreife, dass Sie, in dem ein
grosser Ausdruck dieser Idee reift, nach
dieser Vorstellung den Zufall verwünschten,
am nächsten Tag abreisen zu müssen. – Vgl. Busonis Brief vom 4. März 1920.

Um so mehr freuten mich die Nachrichten
die Sie uns aus Paris geben. Ihre günstigen
Eindrücke und der begeisterte Empfang werden
Ihren Aufenthalt sicherlich zu einem behaglichen
gemacht haben und auf Sie – trotz der
Riesenaufgabe Die sechs Solo-Rezitals, das Orchesterkonzert mit Busoni als Pianist und die beiden von ihm dirigierten Konzerte waren bereits vor Busonis Anreise ausverkauft, so dass zwei weitere Rezitals und ein weiteres zu dirigierendes Orchesterkonzert anberaumt wurden, Busoni also zwischen 4. März und 2. April 1920 neun Auftritte zu absolvieren hatte (vgl. Willimann 1994, S.119/122 f.; Beaumont 1987, Anmerkung 284/2, S. 304). – erfrischend wirken. In Ihrem
letzten Brief
witterte ich förmlich die
Pariser Frühlingsluft. – Es freut mich auch,
dass ein Publikum, an das ich jeden
Glauben verloren hatte, das Ereignis Ihrer
Anwesenheit merkt und fühlt!

Tausend herzliche Grüsse an Sie
und Frau Busoni von Ursula und

Ihrem
Philipp Jarnach

P.S. – Das Manuskript v. D. werde ich an Andreae
weiterleiten. Die „Improvisation“ wurde von Hug
besorgt, da ich kein Exemplar besitze. (Ich hatte
s. Z. ein Exemplar von Biolley geliehen.) Zu den genannten Musikalien vgl. die Kommentierung des vorherigen Briefes. Eine
Carmen-Phantasie? Sie sind an Ort und Stelle,
aber woher nehmen Sie die Zeit?? Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

                                                                
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Zürich […] mindestens 1 Zeichen: Papier fehlt.
22.III.20.–[…] mindestens 1 Zeichen: Papier fehlt.
Riesba[ch]
(Faust-Puppenspiel)
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6Faksimile
6Diplomatische Umschrift
6XML
zu N.Mus.Nachl. 30, 113

Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                
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Dokument

doneStatus: zur Freigabe vorgeschlagen XML Faksimile Download / Zitation

Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,113 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Brief und Umschlag sind gut erhalten.
Umfang
2 Blatt, 4 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
  • Unbekannte Hand, die auf dem Umschlag mit Rotstift eine Anmerkung zum Briefinhalt notiert hat

Zusammenfassung
Jarnach ist mit der Stimmenkorrektur seiner Sinfonia brevis beschäftigt; lässt den bisherigen Briefwechsel mit Busoni Revue passieren; kommentiert die Dramaturgie des in Zürich aufgeführten Faust-Puppenspiels; bestätigt die geplante Übergabe einer Partitur Bernard van Dierens an Volkmar Andreae.
Incipit
Ich bitte Sie vor allem um Verzeihung, dass ich

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
22. Dezember 2021: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition