Philipp Jarnach an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Zürich · 3. Juni 1920

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N.Mus.Nachl. 30, 114

Zürich den 2 u. 3 Juni 1920.

Mein verehrter Meister und Freund!

Ich danke Ihnen für Ihren freimütigen
Brief
, und möchte ihn meinerseits mit
aller Offenheit beantworten. Im Grunde wäre
er gar nicht nötig gewesen, denn es geschieht
nicht so leicht, dass ich Sie missverstehen
kann – wenigstens in Angelegenheiten unserer
Kunst. Höchstens hat mich das enttäuscht,
daß Sie, nachdem einige Stellen (beim
Lesen) Ihren Beifall gefunden hatten,
zu einer restlosen Ablehnung des ganzen
Stückes
gelangten. Meine Frau war
durchaus nicht gekränkt; sie wollte sich
bloss einem Gespräch, das, vor Dritten
geführt, für sie nichts Erfreuliches
hatte, begreiflicherweise entziehen.
Im übrigen kann ich nur wiederholen,
was ich Ihnen einmal nach Paris
schrieb: Vgl. den Brief vom 21. März 1920. als Künstler bin ich, Ihnen
gegenüber, irgendeiner Empfindlichkeit
nicht fähig, – wenn es mich auch
(ich gestehe es) verdriesst, wenn Ihre
Kritik vor Unbeteiligten sich aüssert;

Zürich, den 2. und 3. Juni 1920

Mein verehrter Meister und Freund!

Ich danke Ihnen für Ihren freimütigen Brief und möchte ihn meinerseits mit aller Offenheit beantworten. Im Grunde wäre er gar nicht nötig gewesen, denn es geschieht nicht so leicht, dass ich Sie missverstehen kann – wenigstens in Angelegenheiten unserer Kunst. Höchstens hat mich das enttäuscht, dass Sie, nachdem einige Stellen (beim Lesen) Ihren Beifall gefunden hatten, zu einer restlosen Ablehnung des ganzen Stückes gelangten. Meine Frau war durchaus nicht gekränkt; sie wollte sich bloß einem Gespräch, das, vor Dritten geführt, für sie nichts Erfreuliches hatte, begreiflicherweise entziehen. Im Übrigen kann ich nur wiederholen, was ich Ihnen einmal nach Paris schrieb: Vgl. den Brief vom 21. März 1920. Als Künstler bin ich, Ihnen gegenüber, irgendeiner Empfindlichkeit nicht fähig – wenn es mich auch (ich gestehe es) verdrießt, wenn Ihre Kritik vor Unbeteiligten sich äußert; denn ich weiß, wie und was Sie meinen, die andern aber nicht; und das hirnlose Geschwätz, das alles missversteht, baut darauf seinen Kommentar. Dr. Heine drückt es trefflich aus: Man findet lieber einen Elefanten in seinem Bette als eine Wanze; Busoni hatte seinen letzten Brief mit einigen Versen aus Atta Troll beendet, die Jarnach hier aufgreift. am liebsten jedoch ein hübsches Weib.

Ich habe, Sie wissen es, die Symphonia brevis überwunden und glaube, sie unbefangen beurteilen zu können; und da wäre mir eine Präzisierung Ihres Urteils sehr wertvoll. Ist es die Sprache des Stückes – d.h. die Mittel, Orchester, Form, usw. –, die Sie verurteilen, oder die Tendenz, die Grundstimmung an sich oder endlich der Ausdruck dieser Stimmung, der nicht plastisch genug wäre, sodass sie nur mangelhaft zur Geltung käme?

Mir persönlich kommen jetzt die Ausdrucksmittel darin vielfach ungeeignet vor, stilistische Schwächen finde ich und manches Unnötige – z. B. das 2/4-Allegro im Mittelteil. – Aber die graue, sinnende Stimmung des Ganzen, mit den mürrisch-unmutigen Ausbrüchen, die pathetische Erhebung am Schluss sind erlebt, zu ihnen stehe ich; und ich möchte nicht darüber entscheiden, ob es unrichtig war, für sie einmal nach einem musikalischen Ausdruck zu suchen.

Erlauben Sie mir noch eine kleine Selbstverteidigung: Sie sollen geäußert haben, dass alles im Stück zu tief läge. Ist dies ein Fehler, so ist es ein durchaus bewusster, gewollter, als ein Mittel angewandt.

Aber dreitausend Trommelschläge habe ich nicht geschrieben, sondern nur dreißig! Trommelfelle besitze ich übrigens nur zwei.

Verzeihen Sie, bitte, dies alles und empfangen Sie sowie Frau Busoni die herzlichsten Grüße Amaliens und Ihres treu ergebenen

PHJ. Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).

PS Mein ehemaliger Schüler, Herr Otto Luening, hat mir diese Tage eine neue Arbeit gebracht; es ist ein Streichquartett (ganz am Schluss kommt eine Klarinette hinzu). Sie würden mir persönlich einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie sich einige Stellen des umfangreichen Manuskripts ansehen wollten. – Ich wollte Sie ohnehin an einem der nächsten Abende besuchen, werde die Sache mitbringen? Jarnach legte Busoni das Streichquartett bei seinem Besuch am 6. Juni vor.

J.

                                                                
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2Diplomatische Umschrift
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II.

N.Mus.Nachl. 30, 114

denn ich weiß wie und was Sie meinen,
die andern aber nicht; und das hirnlose
Geschwätz, das alles mißversteht, baut darauf
sein Kommentar. Dr. Heine drückt es
trefflich aus: man findet lieber einen
Elefanten in seinem Bette als eine Wanze; Busoni hatte seinen letzten Brief mit einigen Versen aus Atta Troll beendet, die Jarnach hier aufgreift.
am liebsten jedoch ein hübsches Weib.

Ich habe, Sie wissen es, die Symphonia
brevis
überwunden, und glaube sie un-
befangen beurteilen zu können; und
da wäre mir eine Präzisierung Ihres
Urteils sehr wertvoll. Ist es die Sprache
des Stückes – d.h. die Mittel, Orchester,
Form, u.s.w. – die Sie verurteilen, oder
die Tendenz, die Grundstimmung an
sich, oder endlich der Ausdruck dieser
Stimmung, der nicht plastisch genug
wäre, sodaß sie nur mangelhaft zur
Geltung käme?

Mir persönlich kommen jetzt die
Ausdrucksmittel darin vielfach ungeeignet
vor, stilistische Schwächen finde ich,
und manches Unnötige – z. B. das
2/4 allegro im Mittelteil. – Aber die graue,
sinnende Stimmung des Ganzen, mit

                                                                
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3Diplomatische Umschrift
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III.

N.Mus.Nachl. 30, 114

den mürrisch-unmutigen Ausbrüchen,
die pathetische Erhebung am Schluß
sind erlebt, zu ihnen stehe ich; und
ich möchte nicht darüber entscheiden,
ob es unrichtig war, für sie einmal
nach einem musikalischen Ausdruck
zu suchen.

Erlauben Sie mir noch eine kleine
Selbstverteidigung: Sie sollen geaüssert
haben, daß alles im Stück zu tief
läge. Ist dies ein Fehler, so ist es ein
durchaus bewusster, gewollter, als
ein Mittel angewandt.

Aber dreitausend Trommelschläge
habe ich nicht geschrieben, sondern
nur dreissig! Trommelfelle besitze
ich übrigens nur zwei.

Verzeihen Sie, bitte, dies alles, und
empfangen Sie, sowie Frau Busoni
die herzlichsten Grüssen Amaliens
und Ihres treu ergebenen

PHJ. Transkription unsicher. Alternative Lesart:
PRJ.
Alternative Lesart des mittleren Buchstaben: „R“ für Jarnachs zweiten Vornamen Raphael (so bei Weiss 1996, S. 376).

P.S. – Mein ehemaliger Schüler,
Herr Otto Luening hat mir diese
Tage eine neue Arbeit gebracht; es

                                                                
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ist ein Streichquartett (ganz am
Schluß kommt eine Klarinette hinzu.)
Sie würden mir persönlich einen
großen Gefallen erweisen, wenn Sie
sich einige Stellen des umfangreichen
Manuskripts ansehen wollten. – Ich
wollte Sie ohnehin an einem der
nächsten Abende besuchen, werde
die Sache mitbringen? Jarnach legte Busoni das Streichquartett bei seinem Besuch am 6. Juni vor.

J.

Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                
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Dokument

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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,114 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
2 Blatt, 4 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)

Zusammenfassung
Jarnach bittet Busoni um Spezifizierung von dessen Kritik an der Sinfonia brevis, während er selbst das Werk bereits für „überwunden“ hält; möchte Busoni ein Streichquartett von Otto Luening zur Durchsicht mitbringen.
Incipit
Ich danke Ihnen für Ihren freimütigen Brief

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
22. Dezember 2021: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition