Arnold Schönberg an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Steinakirchen am Forst · 20. Juli 1909

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Diplomatische Umschrift
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Mus.ep. A. Schönberg 8 (Busoni Nachl. B II)
[1]
Arnold Schönberg
– – – Wien – – –
IX. Liechtensteinstraße 68/70
Steinakirchen am Forst
Nied. Oesterr
20/7. 1909
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4547

Sehr geehrter Herr, herzlichen Dank für Ihren
freundlichen Brief
. Die Klavierstücke habe
ich erst nochmals abgeschrieben und sende
sie Ihnen heute. Die Abschrift ist nicht erhalten.

Ihrem Einwurf, ich hätte des „mitarbeitenden“
Publikums vergessen, kann ich begegnen: ich habe
ans Publikum nicht gedacht; aber ich habe es nicht
vergessen. Bei allem Schaffen und Nachschaffen ist
dies doch der gleiche Vorgang; vorausgesetzt dass es
intuitiv vor sich geht; ohne Berechnung, aber mit
dem ganzen Vollgefühl unserer menschlichen Be⸗
dingungen und Beziehungen. Aus diesem heraus
schaffen wir, und meinen nur unds Transkription unsicher: überschrieben. Alternative Lesart:
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darzustellen, und
erfüllen aber gleichzeitig jene Pflichten, die unsere Mit⸗
welt an uns stelltauferlegt. Unbewusst! Dafür aber um
so sicherer. Und diese unbewusst schaffende Kraft allein
ist es auch, die Ssug[g]estive Theurich 1977 (165) und Theurich 1979 (150): „Sugestion“. Macht besitzt. In ihr giebt es
keine Berechnungs=Fehler, weil sie nicht berechnet.
Sie wirkt; ihr Wirkungskreis mag beschränkt sein;
aber sie wirkt; auf jene, die gleichgestimmt

Steinakirchen am Forst
Niederösterreich
20.7.1909

Sehr geehrter Herr,

herzlichen Dank für Ihren freundlichen Brief. Die Klavierstücke habe ich erst nochmals abgeschrieben und sende sie Ihnen heute. Die Abschrift ist nicht erhalten.

Ihrem Einwurf, ich hätte des „mitarbeitenden“ Publikums vergessen, kann ich begegnen: Ich habe ans Publikum nicht gedacht; aber ich habe es nicht vergessen. Bei allem Schaffen und Nachschaffen ist dies doch der gleiche Vorgang; vorausgesetzt, dass es intuitiv vor sich geht; ohne Berechnung, aber mit dem ganzen Vollgefühl unserer menschlichen Bedingungen und Beziehungen. Aus diesem heraus schaffen wir, meinen nur uns darzustellen, erfüllen aber gleichzeitig jene Pflichten, die unsere Mitwelt uns auferlegt. Unbewusst! Dafür aber umso sicherer. Und diese unbewusst schaffende Kraft allein ist es auch, die suggestive Macht besitzt. In ihr gibt es keine Berechnungsfehler, weil sie nicht berechnet. Sie wirkt; ihr Wirkungskreis mag beschränkt sein; aber sie wirkt; auf jene, die gleichgestimmt sind. Auf jene, die ein Aufnahmsorgan besitzen, das unserem Absendungsorgan entspricht. Wie bei der drahtlosen Telegrafie. Deswegen, meine ich, muss jede Kunst, die ohne „Berechnung der günstigsten Wirkungsmöglichkeiten“ geschaffen ist, schließlich und endlich diejenigen finden, denen sie gilt. Und je intensiver die Beziehungen des Schaffenden zu einem Zustande der Allgemeinheit ist – zu einem gegenwärtigen oder zu einem zukünftigen –, desto größer wird der Kreis derjenigen sein, denen sie gilt.

In diesem Sinne, meine ich, muss man bei der Analyse des Schaffenden oder des Nachschaffenden nicht unbedingt an das Publikum denken. Es arbeitet nur mit, wenn es aufgefordert, wenn es, sozusagen, zitiert wird. Ob es aber aufgefordert wird, entzieht sich ganz den Berechnungen und den Bemühungen des Schaffenden. —

Ihre Frage, ob ich einen Verleger habe, der Vertrauen zu mir hat, kann ich leider nicht bejahen. Ich war durch einige Zeit an den Verlag „Dreililien“ gebunden. Schönberg stand seit Juli 1903 unter Vertrag; nach zwei Verlängerungen war der Vertrag bis Sommer 1910 befristet. Im Anfang ging es ja ganz erträglich. Aber jetzt geht es eigentlich schon lange nicht mehr mit mir, Schönberg hatte 1903 bei Max Marschalk, dem Leiter des Dreililien-Verlags, einen Vertrag unterzeichnet (Stuckenschmidt 1974, S. 55), wodurch ab 1904 hier op. 1, op. 2, op. 3, op. 4, op. 6 und op. 7 erschienen (Döll 1984, S. 201 f.). Aufgrund von mäßigen Verkaufszahlen (vgl. Brief von Marschalk an Schönberg vom 11. Januar 1909) und den damit einhergehenden wirtschaftlichen Bedenken (vgl. Brief von Marschalk an Schönberg vom 31. Januar 1908) zögerte der Verlag jedoch, die Werke op. 5, op. 8 und op. 9 zu drucken, weshalb Schönberg im Oktober 1909 einen ab Juli 1910 gültigen Vertrag mit Emil Hertzka (Universal-Edition) abschloss (Krämer 2015, S. 650 f.). so dass ich letzthin mein Quartett, an dessen Veröffentlichung mir wegen der Skandale, die man gegen mich inszeniert hatte, Die Uraufführungen von Streichquartett Nr. 1 (1907) und Nr. 2 (1908) hatten zu regelrechten Eklats geführt. In beiden Konzerten kam es zu massiven Störungen des Programms durch Gelächter, laute Unterhaltungen und demonstratives Verlassen des Konzerts. Insbesondere die Aufführung des Streichquartetts Nr. 2 zog, auch aufgrund der Forderungen nach Abbruch des Konzerts vor dem letzten Satz, ein gewaltiges internationales Medienecho nach sich (vgl. Eybl 2004, S. 22 ff.). Schönberg vermutete hinter diesem „insceniert[en]“ Skandal eine Intrige des einflussreichen Musikkritikers Robert Hirschfeld (vgl. ibid., S. 266). sehr lag, im Selbstverlag herausgeben musste. Vor dem Hintergrund der Skandal-Uraufführungen und angesichts der schleppenden Verkaufszahlen der bislang erschienen Werke (vgl. Brief von Marschalk an Schönberg vom 11. Januar 1909) weigerte sich der Dreililien-Verlag, das Zweite Streichquartett zu drucken, weshalb Schönberg es im Februar 1909 im Selbstverlag publizierte (Theurich 1979, S. 66). Damit habe ich wohl alle Beziehungen gegen diesen Verlag gelöst, höchstens jene der Dankbarkeit nicht, die ich ihm noch für sein einstmaliges Interesse entgegen bringe. Aber ich denke, der wird mit meiner Dankbarkeit wenig anzufangen wissen.

Ich hoffe, recht bald Ihre Meinung über meine Klavierstücke zu hören, und hege den lebhaftesten Wunsch, dass sie Ihnen was sagen mögen.

Ich empfehle mich Ihnen mit vollster Hochachtung und bin in vertrauensvollster Erwartung

ergebenst

Arnold Schönberg

                                                                
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sind. Auf jene, die eimn Aufnahmsorgan besitzen,
das unserem Absendungsorgan entspricht. Wie
bei der dra[h]tlosen Theurich 1977 (165) und Theurich 1979 (150): „drahtlosen“. Telegrafie. Deswegen, meine ich,
muss jede Kunst, die ohne „Berechnung der günstigsten
Wirkungsmöglichkeiten“
geschaffen ist, schließlich und
endlich diejenigen finden, denen sie gilt. Und je
intensiver die Beziehungen des Schaffenden zu einem
Zustande der Allgemeinheit ist – zu einem gegenwär⸗
tigen, oder zu einem zukünftigen – desto größer wird
der Kreis derjenigen sein, denen sie gilt.

In diesem Sinne, meine ich, muss man bei
der Analyse des Schaffenden, Theurich 1977 (166) und Theurich 1979 (150) ohne Komma. oder des Nachschaffenden
nicht unbedingt an das Publikum denken. Es arbeitet nur
mit, wenn es aufgefordert, wenn es, sozusagen
citiert wird. Ob es aber aufgefordert wird, entzieht
sich ganz den Berechnungen und den Bemühungen
des Schaffenden. —

Ihre Frage, ob ich einen Verleger habe, der Vertrauen
zu mir hat, kann ich leider nicht bejahen. Ich war durch
einige Zeit an den Verlag „Dreililien“ gebunden. Schönberg stand seit Juli 1903 unter Vertrag; nach zwei Verlängerungen war der Vertrag bis Sommer 1910 befristet. Im
Anfang gieng Theurich 1977 (166) und Theurich 1979 (150): „ging“. es ja ganz erträglich. Aber jetzt geht es
eigentlich schon lange nicht mehr mit mir, Schönberg hatte 1903 bei Max Marschalk, dem Leiter des Dreililien-Verlags, einen Vertrag unterzeichnet (Stuckenschmidt 1974, S. 55), wodurch ab 1904 hier op. 1, op. 2, op. 3, op. 4, op. 6 und op. 7 erschienen (Döll 1984, S. 201 f.). Aufgrund von mäßigen Verkaufszahlen (vgl. Brief von Marschalk an Schönberg vom 11. Januar 1909) und den damit einhergehenden wirtschaftlichen Bedenken (vgl. Brief von Marschalk an Schönberg vom 31. Januar 1908) zögerte der Verlag jedoch, die Werke op. 5, op. 8 und op. 9 zu drucken, weshalb Schönberg im Oktober 1909 einen ab Juli 1910 gültigen Vertrag mit Emil Hertzka (Universal-Edition) abschloss (Krämer 2015, S. 650 f.). so dass
ich letzthin ein Transkription unsicher: überschrieben. mein Quartett, an dessen Veröffentlichung
mir wegen der Skandale, die man gegen mich
insceniert hat[t]e, Theurich 1977 (166) und Theurich 1979 (150): „hatte“. Die Uraufführungen von Streichquartett Nr. 1 (1907) und Nr. 2 (1908) hatten zu regelrechten Eklats geführt. In beiden Konzerten kam es zu massiven Störungen des Programms durch Gelächter, laute Unterhaltungen und demonstratives Verlassen des Konzerts. Insbesondere die Aufführung des Streichquartetts Nr. 2 zog, auch aufgrund der Forderungen nach Abbruch des Konzerts vor dem letzten Satz, ein gewaltiges internationales Medienecho nach sich (vgl. Eybl 2004, S. 22 ff.). Schönberg vermutete hinter diesem „insceniert[en]“ Skandal eine Intrige des einflussreichen Musikkritikers Robert Hirschfeld (vgl. ibid., S. 266). sehr lag, im Selbstverlag heraus geben

                                                                
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3Diplomatische Umschrift
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[2] mußte. Vor dem Hintergrund der Skandal-Uraufführungen und angesichts der schleppenden Verkaufszahlen der bislang erschienen Werke (vgl. Brief von Marschalk an Schönberg vom 11. Januar 1909) weigerte sich der Dreililien-Verlag, das Zweite Streichquartett zu drucken, weshalb Schönberg es im Februar 1909 im Selbstverlag publizierte (Theurich 1979, S. 66). Damit habe ich wohl alle Beziehungen
gegen diesen Verlag gelöst, höchstens jene der
Dankbarkeit nicht, die ich ihm noch für sein
einstmaliges Interesse entgegen bringe. Aber ich
denke, der wird mit meiner Dankbarkeit
wenig anzufangen wissen.

Ich hoffe recht bald Ihre Meinung über
meine Klavierstücke zu hören und s[…] 2 Zeichen: überschrieben. hege
den lebhaftesten Wunsch, dass sie Ihnen
was sagen mögen.

Ich empfehle mich Ihnen mit volls[t]er Theurich 1977 (166) und Theurich 1979 (150): „vollster“. Hochachtung
und bin in vertrauensvollster Erwartung

ergebenst

Arnold Schönberg
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Nachlaß Busoni
                                                                
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Steinakir[chen]
20 VII [09] […] mindestens 3 Zeichen: unvollständig.
am [Forst]
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6Faksimile
6Diplomatische Umschrift
6XML
Arnold Schönberg
– – – Wien – – –
IX. Liechtensteinstraße 68/70
derzeit: Steinakirchen am Forst
Nieder Oesterr
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4547-Beil.
Mus.ep. A. Schönberg 8
Nachlaß Busoni B II
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4547 | olim: Mus.ep. A. Schönberg 8 (Busoni-Nachl. B II) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten; Umschlagaufriss ohne Textverlust; Briefmarke abgelöst, Poststempel infolgedessen unvollständig.
Umfang
1 Bogen, 3 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Arnold Schönberg, Brieftext in schwarzer Tinte, in deutscher Kurrentschrift
  • Adressstempel des Absenders Arnold Schönberg, mit violetter Tinte
  • Hand des Archivars, der die Foliierung mit Bleistift vorgenommen hat
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Bleistift vorgenommen hat
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
Foliierungen
  • Foliierung mit Bleistift oben rechts auf den Vorderseiten durch das Archiv.
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 123456

Zusammenfassung
Schönberg bestätigt den Versand seiner Klavierstücke (op. 11,1–2); führt die Reflexion über das Verhältnis von schaffendem Künstler und Rezipienten fort; schildert seine Unzufriedenheit mit dem Dreililien-Verlag.
Incipit
herzlichen Dank für Ihren freundlichen Brief. Die Klavierstücke habe ich erst nochmals abgeschrieben

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
22. Dezember 2017: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition
Frühere Ausgaben
Theurich 1977, S. 165 f. Theurich 1979, S. 149 ff. (Brief), S. 66 (Kommentar) Beaumont 1987, S. 383