|
5
Mus.ep. H. Huber 31 (Busoni-Nachl. B II) Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2258
den 16 Februar 1916
M. C!
Abk. für „Mon cher“ oder „Mio caro/carissimo“ (mein Lieber/Liebster).
Für Ihre anerken̅enden
lieben Zeilen muß ich so recht
im Sin̅e Nietsche’s, den ich vor
20 Jahren halb auswendig wußte
& der viel Beküm[m]erniß
& Elend in meine Seele brachte
(apage Satanas!),
Lat.: Weg mit dir, Satan (im Mittelalter eine feststehende Formel zur Bannung einer teuflischen Erscheinung).
danken
& an eine Stelle denken, die
irgendwo in seinen Werken
– vielleicht im „Wanderer
& sein
Schatten“ steht. Er spricht von
„Weingeist-Autoren“, meint
ungefähr: manche Schriftsteller
sind weder Geist noch Wein,[1]
|
den 16. Februar 1916
M. C.!
Abk. für „Mon cher“ oder „Mio caro/carissimo“ (mein Lieber/Liebster).
Für Ihre anerkennenden
lieben Zeilen muss ich so recht
im Sinne Nietzsches, den ich vor
20 Jahren halb auswendig wusste
und der viel Bekümmernis
und Elend in meine Seele brachte
(apage Satanas!),
Lat.: Weg mit dir, Satan (im Mittelalter eine feststehende Formel zur Bannung einer teuflischen Erscheinung).
danken
und an eine Stelle denken, die
irgendwo in seinen Werken
– vielleicht im „Wanderer
und sein
Schatten“ – steht. Er spricht von
„Weingeist-Autoren“, meint
ungefähr: manche Schriftsteller
sind weder Geist noch Wein,
aber Weingeist; sie können
flammend aufleuchten und geben
dann Wärme!
Der Originaltext von Aphorismus Nr. 101 „Weingeist-Autoren“ lautet: „Manche Schriftsteller sind weder Geist noch Wein, aber Weingeist: sie können in Flammen geraten und geben dann Wärme.“
Sie, mein Lieber,
waren der Anzünder! –
Das Musik-Ehepaar
Durigo-Schoeck
Die Charakterisierung als „Musik-Ehepaar“ umschreibt metaphorisch die enge künstlerische Zusammenarbeit: Ilona Durigo zählte ab 1913 zu Othmar Schoecks engerem Freundeskreis und galt als seine bedeutendste Interpretin; miteinander verheiratet waren die beiden nicht, wiewohl Durigo offenbar romantische Gefühle für Schoeck hegte (vgl. Walton 2009, S. 48).
präsentierte
sich vorgestern
in Basel. Ich
liebe den jungen Künstler wegen
seiner offenen Musiknatur sehr;
auch sind mir seine Stimmungsgedanken recht sympathisch! Vor
30 ≤ 40 Jahren gab es einen
Kirchner, der als großer Klavierpoet den Deutschen imponierte.
Jetzt spielt man schon längst
wieder Schumann und leider
zu wenig Mendelssohn.
Trotzdem die Musik des Letzteren
mehr „hinter sich“ weist, bildet
sie doch außerordentlich den
Geschmack und die Gescheitheit in
der Musik. Letztere Eigenschaft
hat mich bei Ihnen immer –
natürlich nebst allem Anderen – so
überrascht, dass ich Ihnen als
Sklave folgen muss. Ich
ersehe dies auch wieder aus
Ihrer Einführung in den großen
Bach! –
Frl. Schwarzenbach kam als
Schatten der Durigo und ich habe
mit ihr Folgendes pro
22. Februar 1916Mardi
prochain
Frz.: für kommenden Dienstag (22. Februar 1916).
ausgemacht. Von
Basel um 1 Uhr ankommend,
werde ich bei ihr auf dem
Ulmberg
zu Mittag essen, nachher
mit ihr zwei Ateliers besuchen und nur etwa
um 5 Uhr schnell – ohne den
frommen Liszt-Geist zu stören –
in der Scheuchzerstraße erscheinen.
Abends sehe ich Sie im Konzerte
und spreche Sie nachher beim
Neuenburger! –
Wein aus dem Gebiet Neuenburg in der Schweiz.
Bereits stecke ich in der
Ève future und begreife immer noch
nicht, dass mir ein solcher „Kerl“
bis jetzt entgangen ist! –
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split">
<note type="numbering" resp="#archive2" place="top-right">5</note>
<note type="shelfmark" resp="#archive" place="margin-left" rend="rotate(-90) align(center)">
<subst><del rend="strikethrough">Mus.ep. H. Huber 31 (Busoni-Nachl. B II)</del><add place="below">Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2258</add></subst>
</note>
<opener>
<dateline>
<date when-iso="1916-02-16">den 16<reg>.</reg> Februar 1916</date>
</dateline>
<salute rend="large indent">
<foreign>M. C<reg>.</reg>!</foreign>
<note type="commentary" resp="#E0300333">Abk. für <mentioned xml:lang="fr">Mon cher</mentioned> oder <mentioned xml:lang="it">Mio caro/carissimo</mentioned> (mein Lieber/Liebster).</note>
</salute>
</opener>
<p type="pre-split" rend="indent-first">Für Ihre anerke<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>enden
<lb/>lieben Zeilen mu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> ich so recht
<lb/>im Si<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>e <persName key="E0300090" rend="latin">Niet<corr>z</corr>sche<orig>’</orig>s</persName>, den ich vor
<lb/>20 Jahren halb auswendig wu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>te
<lb/><choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> der viel Beküm<supplied reason="omitted">m</supplied>erni<choice><orig>ß</orig><reg>s</reg></choice>
<lb/><choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> Elend in meine Seele brachte
<lb/>(<foreign xml:lang="la" rend="latin">apage Satanas</foreign>!),
<note type="commentary" resp="#E0300333">Lat.: Weg mit dir, Satan (im Mittelalter eine feststehende Formel zur Bannung einer teuflischen Erscheinung).</note>
danken
<lb/><choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> an eine Stelle denken, die
<lb/>irgendwo in seinen Werken
<lb/>– vielleicht im <title key="E0400254" rend="dq-du">Wanderer
<choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> sein
<lb/>Schatten</title> <reg>–</reg> steht. Er spricht von
<lb/><q rend="dq-du">Weingeist-Autoren</q>, meint
<lb/>ungefähr: manche Schriftsteller
<lb/>sind weder Geist noch Wein,
<note type="foliation" place="bottom-right" resp="#archive">[1]</note>
</p></div>
|
|
aber Weingeist; sie kön̅en
flam̅end aufleuchten & geben
dan̅ Wärme!
Der Originaltext von Aphorismus Nr. 101 „Weingeist-Autoren“ lautet: „Manche Schriftsteller sind weder Geist noch Wein, aber Weingeist: sie können in Flammen geraten und geben dann Wärme.“
Sie, mein Lieber,
waren der Anzünder! –
Das Musik-Ehepaar
Durigo-Schoeck
Die Charakterisierung als „Musik-Ehepaar“ umschreibt metaphorisch die enge künstlerische Zusammenarbeit: Ilona Durigo zählte ab 1913 zu Othmar Schoecks engerem Freundeskreis und galt als seine bedeutendste Interpretin; miteinander verheiratet waren die beiden nicht, wiewohl Durigo offenbar romantische Gefühle für Schoeck hegte (vgl. Walton 2009, S. 48).
präsentierte
sich vorgestern
in Basel. Ich
liebe den jungen Künstler wegen
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
seiner offenen Musiknatur sehr;
auch sind mir seine Stim̅ungs⸗ gedanken sehrrecht sympathisch! Vor
30 ≤
Transkription unsicher:
unleserlich.
40 Jahren gab es ein[en]
Kirchner, der als großer Klavier⸗ poet den Deutschen imponirte.
HeuteJetzt spielt man schon längst
wieder Schumann & leider
zu wenig Mendelssohn.
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p rend="indent-first" type="split">
aber Weingeist; sie kö<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>en
<lb/>fla<choice><abbr>m̅</abbr><expan>mm</expan></choice>end aufleuchten <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> geben
<lb/>da<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice> Wärme!
<note type="commentary" resp="#E0300333">Der Originaltext von Aphorismus Nr. 101 <title>Weingeist-Autoren</title> lautet: <q>Manche Schriftsteller sind weder Geist noch Wein, aber Weingeist: sie können in Flammen geraten und geben dann Wärme.</q></note>
<hi rend="underline">Sie</hi>, mein Lieber,
<lb/>waren der Anzünder! –</p>
<p type="pre-split" rend="indent-first">Das Musik-Ehepaar
<lb/><persName key="E0300131" rend="latin">Durigo</persName>-<persName key="E0300141" rend="latin">Schoeck</persName>
<note type="commentary" resp="#E0300372">Die Charakterisierung als <q>Musik-Ehepaar</q> umschreibt metaphorisch die enge künstlerische Zusammenarbeit: <persName key="E0300131">Ilona Durigo</persName> zählte ab <date when-iso="1913">1913</date> zu <persName key="E0300141">Othmar Schoecks</persName> engerem Freundeskreis und galt als seine bedeutendste Interpretin; miteinander verheiratet waren die beiden nicht, wiewohl <persName key="E0300131">Durigo</persName> offenbar romantische Gefühle für <persName key="E0300141">Schoeck</persName> hegte (vgl. <bibl><ref target="#E0800286"/>, S. 48</bibl>).</note>
präsentierte
<lb/>sich vorgestern
in <placeName key="E0500097" rend="latin">Basel</placeName>. Ich
<lb/>liebe den jungen Künstler wegen
<note type="stamp" place="margin-right" resp="#dsb_st_red" xml:id="dsb_stamp">
<stamp rend="round border align(center) small">Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
<lb/>seiner offenen Musiknatur sehr;
<lb/>auch sind mir seine Sti<choice><abbr>m̅</abbr><expan>mm</expan></choice>ungs
<lb break="no"/>gedanken <subst><del rend="overwritten">sehr</del><add place="above">recht</add></subst> sympathisch! Vor
<lb/>30 <unclear cert="high" reason="illegible">≤</unclear> 40 Jahren gab es ein<supplied reason="omitted">en</supplied>
<lb/><persName key="E0300136">Kirchner</persName>, der als großer Klavier
<lb break="no"/>poet den Deutschen imponi<reg>e</reg>rte.
<lb/><subst><del rend="overwritten">Heute</del><add place="above">Jetzt</add></subst> spielt man schon längst
<lb/>wieder <persName key="E0300008">Schumann</persName> <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> leider
<lb/>zu wenig <persName key="E0300130">Mendelssohn</persName>.
</p></div>
|
|
Trotzdem die Musik des Letzteren
mehr „hinter sich“ weist, bildet
sie doch außerordentlich den
Geschmack & die Gescheidheit in
der Musik. Letztere Eigenschaft
hat mich bei Ihnen im̅er ,–
natürlich nebst allem Anderen ,– so
überrascht, daß ich Ihnen als
[…]
1 Zeichen: überschrieben.
Sklave folgen muß. Ich
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
ersehe dieß auch wieder aus
Ihrer Einführung in den großen
Bach! –
Frl. Schwarzenbach kam als
Schatten der Durigo & ich habe
mit ihr Folgd. pro
22. Februar 1916Mardi
prochain
Frz.: für kommenden Dienstag (22. Februar 1916).
ausgemacht. Von
Basel um 1. Uhr ankom̅end[2]
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p rend="indent-first" type="split">
Trotzdem die Musik des Letzteren
<lb/>mehr <soCalled rend="dq-du">hinter sich</soCalled> weist, bildet
<lb/>sie doch außerordentlich den
<lb/>Geschmack <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> die Geschei<choice><orig>d</orig><reg>t</reg></choice>heit in
<lb/>der Musik. Letztere Eigenschaft
<lb/>hat mich bei Ihnen <choice><orig>im̅er</orig><reg>immer</reg></choice> <subst><del rend="overwritten">,</del><add place="across">–</add></subst>
<lb/>natürlich nebst allem Anderen <subst><del rend="overwritten">,</del><add place="across">–</add></subst> so
<lb/>überrascht, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> ich Ihnen als
<lb/><subst><del rend="overwritten"><gap reason="overwritten" extent="1" unit="char"/></del><add place="across">S</add></subst>klave folgen mu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>. Ich
<note type="stamp" place="margin-left" resp="#dsb_st_red" sameAs="#dsb_stamp">
<stamp rend="round border align(center) small">Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
<lb/>ersehe die<choice><orig>ß</orig><reg>s</reg></choice> auch wieder aus
<lb/>Ihrer Einführung in den großen
<lb/><persName key="E0300013" rend="latin">Bach</persName>! –</p>
<p type="pre-split" rend="indent-first"><persName key="E0300140">Frl. Schwarzenbach</persName> kam als
<lb/>Schatten der <persName key="E0300131" rend="latin">Durigo</persName> <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> ich habe
<lb/>mit ihr <choice><abbr>Folgd.</abbr><expan>Folgendes</expan></choice> <foreign xml:lang="fr" rend="latin">pro <date when-iso="1916-02-22">Mardi
<lb/>prochain</date></foreign>
<note type="commentary" resp="#E0300333">Frz.: für kommenden Dienstag (<date when-iso="1916-02-22">22. Februar 1916</date>).</note>
ausgemacht. Von
<lb/><placeName key="E0500097" rend="latin">Basel</placeName> um 1<orig>.</orig> Uhr anko<choice><orig>m̅end</orig><reg>mmend,</reg></choice>
<note type="foliation" place="bottom-right" resp="#archive">[2]</note>
</p></div>
|
|
werde ich bei ihr auf dem
Ulmberg
zu Mittag eßen, nachher
mit ihr zwei Ateliers besuchen & nur etwa
um 5 Uhr schnell – ohne den
from̅en Liszt=Geist zu stören –
in der Scheuchzerstraße erscheinen.
Abends sehe ich Sie im Konzerte
& spreche Sie nachher beim
Neuenburger! –
Wein aus dem Gebiet Neuenburg in der Schweiz.
Bereits stecke ich in der
Ève future & begreife im̅er noch
nicht, daß mir ein solcher „Kerl“
bis jetzt entgangen ist! –
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p rend="indent-first" type="split">
<lb/>werde ich bei ihr auf dem
<lb/><placeName key="E0500333" rend="latin">Ulmberg</placeName>
zu Mittag e<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>en, nachher
<lb/><add place="margin-left above">mit ihr</add> zwei <hi rend="latin">Ateliers</hi> besuchen <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> nur etwa
<lb/>um 5 Uhr schnell – ohne den
<lb/><choice><orig>from̅en</orig><reg>frommen</reg></choice> <persName key="E0300013">Liszt</persName><pc>=</pc>Geist zu stören –
<lb/>in der <placeName key="E0500189" rend="latin">Scheuchzerstraße</placeName> erscheinen.
<lb/>Abends sehe ich Sie im Konzerte
<lb/><choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> spreche Sie nachher beim
<lb/><hi rend="latin">Neuenburger</hi>! –
<note type="commentary" resp="#E0300333">Wein aus dem Gebiet <placeName key="E0500201">Neuenburg</placeName> in der <placeName key="E0500092">Schweiz</placeName>.</note>
</p>
<p rend="indent-first">Bereits stecke ich in der
<lb/><title key="E0400255" xml:lang="fr" rend="latin">Ève future</title> <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> begreife <choice><orig>im̅er</orig><reg>immer</reg></choice> noch
<lb/>nicht, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> mir <rs key="E0300240">ein solcher <soCalled rend="dq-du">Kerl</soCalled></rs>
<lb/>bis jetzt entgangen ist! –</p>
<closer>
<salute rend="align(center)">Schönste Grüße
<lb/>Ihres
</salute>
<signed rend="align(right)"><persName key="E0300125">Hans Huber</persName></signed>
</closer>
</div>
|