Ludwig Rubiner an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Muralto · 27. April 1918

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27. April 1918.
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4281
Mus.ep. L. Rubiner 22
(Busoni-Nachl. B II)

Lieber
und bester Freund!

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Ihre letzten Zeilen haben mich
bekehrt und, nach so viel Jahren
endlich!, dem zweiten Teil F.
ganz gewonnen. Und zwar
haben Sie das, was kein Mensch
bisher fertig brachte, durch ein
Bild, einen Vergleich mir blitz⸗
schnell eröffnet. Nämlich: nur
ein Mensch, der selbst alles men⸗
schliche und künstlerische Erleben
durchwandert hat, konnte mir
die Doppelseite des Werkes zeigen,
dichterische Pyramide und Kunstgriff!
Dieses, mein sehr teuerer Freund,
ist wohl das wirkliche Geheimnis
des ganzen Faust, und von

27. April 1918.

Lieber und bester Freund!

Ihre letzten Zeilen haben mich bekehrt und, nach so viel Jahren endlich!, dem zweiten Teil F. ganz gewonnen. Und zwar haben Sie das, was kein Mensch bisher fertig brachte, durch ein Bild, einen Vergleich mir blitzschnell eröffnet. Nämlich: nur ein Mensch, der selbst alles menschliche und künstlerische Erleben durchwandert hat, konnte mir die Doppelseite des Werkes zeigen, dichterische Pyramide und Kunstgriff! Dieses, mein sehr teuerer Freund, ist wohl das wirkliche Geheimnis des ganzen Faust, und von hier aus muss das ganze Werk gesehen werden. Jeder Vers – an den ich früher vielleicht mit nur ästhetischen Sinnen gegangen wäre, oder mit nur philosophischen, oder mit nur erlebensbegierigen – jeder Vers wird mir nun retrospektiv klar!

Und nun muss ich Ihnen sagen: Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen nicht nur für die Entschleierung; sondern ich danke Ihnen in großer Erschütterung auch dafür, dass Sie mich für würdig gehalten haben, eine solche Erkenntnis, die man doch aus seinem gesamten Leben schöpft und die man aus Scheu und Heiligung für sich zu behalten pflegt, mir mitzuteilen. Dieses Vertrauen macht mich ganz glücklich!

Musik: Mein Musikgefühl wird durch Verse des Pater Seraphicus geweckt: „Steigt hinan zu höherm Kreise“. Goethe, Faust II (V. Akt, Bergschluchten, V. 11918).

Die Missa in Beethovens Lebenswerk einzig dastehend. Ich habe immer das Gefühl gehabt, in ihr ist er ganz offen. Es ist auch das Sammelwerk Beethovens. – Für mich „weiß“ ich auch, warum es sein bestes ist; doch habe ich noch nicht die Terminologie gefunden, um mich Ihnen gegenüber klar und unmissverständlich auszudrücken. Ich möchte das Missverständnis vermeiden, als meinte ich, die Missa sei dieses Werk, weil sie Kirchenmusik ist. Nein. Aber es hängt damit natürlich zusammen. Sie ist es, weil sie Hingabe an die über ihrem Autor stehende Kraft und weil dadurch ihre Musik zur freiesten wurde. (Während die meisten der großen Beethoven’schen anderen Werke sich nur an ihren Autor selbst wenden und, wenn auch oft verkappt, seinen psychologischen Zustand „nur“ schildern!)

Was wiederum Ihre mir gegebene Lösung des Faust betrifft: Ja, so ist nun einmal unsere Beschaffenheit. Die umfangreichsten Reduktionen, voll tiefster Bewunderung, jahrelang auf mich herniederprasselnd, helfen nichts und rücken mich nicht von der Stelle. Aber ein einziges Bild, mir gezeigt von einem innerlich Wissenden, schmilzt mich!

Ich bin über Sie, über mich, über Ihre Güte und über den Faust froh!

Meine Frau kam endlich, nach langem Drängen. Manches wird mir in diesen Tagen dadurch leichter. Möchte mir es nun vergönnt sein, wenigstens das Wichtigste meiner letzten Abschnitte hier noch zu Papier zu bringen. Im Brief vom 22. April 1918 schrieb Rubiner, er habe seine Frau zu kommen gebeten, da nur sie ihm helfen könne, „die entsetzliche Angst“ vor dem Anfangen (hier des V. Akts des Dramas Die Gewaltlosen) zu überwinden.

Auf bald! Mit der Umarmung der herzlichen Freundschaft

Ihr Ludwig Rubiner.

                                                                
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hier aus muss das ganze
Werk
gesehen werden. Jeder
Vers – an den ich früher
vielleicht mit nur aesthetischen
Sinnen gegangen wäre, oder mit
nur philosophischen, oder mit
nur erlebensbegierigen, – jeder
Vers wird mir nun retro⸗
spektiv klar!

Und nun muss ich Ihnen
sagen: Ich danke Ihnen. Ich
danke Ihnen nicht nur
für die Entschleierung; sondern
ich danke Ihnen in grosser
Erschütterung auch dafür, dass
Sie mich für würdig gehalten
haben, eine solche Erkennt⸗
nis, die man doch aus seinem
gesamten Leben schöpft, und
die man aus Scheu und Heiligung
für sich zu behalten pflegt,
mir mitzuteilen. Dieses
Vertrauen macht mich

                                                                
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[2] ganz glücklich!

Musik: Mein Musikgefühl wird
durch Verse des Pater Seraphicus
geweckt: „Steigt hinan zu höherm
Kreise“
Goethe, Faust II (V. Akt, Bergschluchten, V. 11918).

Die Missa in Beethovens Lebens⸗
werk einzig dastehend. Ich habe
immer das Gefühl gehabt, in ihr
ist er ganz offen. Es ist auch
das Sammelwerk B.s. – Für mich,
„weiss“ ich auch, warum es sein
Bestes ist; doch habe ich noch
nicht die Terminologie gefunden,
um mich Ihnen gegenüber klar
und unmissverständlich auszu⸗
drücken. Ich möchte das Missver⸗
ständnis vermeiden, als meinte ich,
die Missa sei dieses Werk, weil
sie Kirchenmusik ist. Nein. Aber
es hängt damit natürlich zusammen.
Sie ist es, weil sie Hingabe an die
über ihrem Autor stehende Kraft

                                                                
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und weil dadurch ihre Musik zur
freiesten wurde. (Während die
meisten der grossen B.schen anderen
Werke sich nur an ihren Autor
selbst wenden und, wenn auch oft
verkappt, seinen psychologischen
Zustand „nur“ schildern!)

Was wiederum Ihre mir gegebene Lösung
des Faust betrifft: Ja, so ist nun
einmal unsere Beschaffenheit. Die
umfangreichsten Reduktion[en], voll tiefster
Bewunderung, jahrelang auf mich
herniederprasselnd, helfen nichts und
rücken mich nicht von der Stelle. Aber
ein einziges Bild, mir gezeigt
von einem innerlich Wissenden,
schmilzt mich!

Ich bin über Sie, über mich, über Ihre
Güte, und über den Faust froh!

Meine Frau kam endlich, nach langem
Drängen. Manches wird mir in diesen
Tagen dadurch leichter. Möchte mir
es nun vergönnt sein, wenigstens das
Wichtigste meiner letzten Abschnitte
hier noch zu Papier zu bringen. Im Brief vom 22. April 1918 schrieb Rubiner, er habe seine Frau zu kommen gebeten, da nur sie ihm helfen könne, „die entsetzliche Angst“ vor dem Anfangen (hier des V. Akts des Dramas Die Gewaltlosen) zu überwinden.

Auf bald! Mit der Umarmung
der herzlichen Freundschaft

Ihr
Ludwig Rubiner.
                                                                
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Mus. Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4281-
Beil.
Nachlaß Busoni B II
Mus.ep. L. Rubiner 22
Zürich
28.IV.18.-10
Brf.Exp.
27 April 1918
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4281 | olim: Mus.ep. L. Rubiner 22 (Busoni-Nachl. B II) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten; Umschlagaufriss rechts (mit behebbarem Textverlust).
Umfang
1 Bogen, 4 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ludwig Rubiner, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand Gerda Busonis, die das Datum auf der Umschlagrückseite mit Bleistift notiert hat.
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 123456

Zusammenfassung
Rubiner dankt Busoni für dessen lebenskluge Offenbarung der „Doppelseite“ von Goethes Faust („dichterische Pyramide und Kunstgriff“); sieht in der Missa solemnis Beethovens opus summum; meldet die Ankunft seiner Frau zur Unterstützung am Schlussakt des Dramas Die Gewaltlosen.
Incipit
Ihre letzten Zeilen haben mich bekehrt

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
21. Februar 2018: in Korrekturphase (Transkription abgeschlossen, Auszeichnungen codiert, zur Korrekturlesung freigegeben)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition