Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4282Mus.ep. L. Rubiner 23 (Busoni-Nachl. B II)
Lieber Verehrter!
Schon seit langem habe ich
nichts mehr von Ihnen
vernommen – quindici giorni
fa –Ital.: „vor fünfzehn Tagen“.
und ich möchte doch so
gerne wissen, wie es bei Ihnen
geht und steht? Wie ist
Ihre und Frau Gerdas Gesund- heit? Und wie richten Sie
sich in diesem Sommer das
Leben ein?
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Ich eile mit Riesenschritten
dem Ende meiner Arbeit zu. Dieser
letzte Akt, an dem ich nun noch
einiges zu tun habe – und darnach
fahre ich gen Zürich – ist mein
kühnster. Der schwebt wirklich
so zwischen Hölle und äusserster
Schon seit langem habe ich
nichts mehr von Ihnen
vernommen – quindici giorni
fa –,Ital.: „vor fünfzehn Tagen“.
und ich möchte doch so
gerne wissen, wie es bei Ihnen
geht und steht? Wie ist
Ihre und Frau Gerdas Gesundheit? Und wie richten Sie
sich in diesem Sommer das
Leben ein?
Ich eile mit Riesenschritten
dem Ende meiner Arbeit zu. Dieser
letzte Akt, an dem ich nun noch
einiges zu tun habe – und darnach
fahre ich gen Zürich – ist mein
kühnster. Der schwebt wirklich
so zwischen Hölle und äußerster
Phantasie, dass mir vor mir
etwas bange wird.Im IV. Akt des Dramas Die Gewaltlosen statuieren drei Personen durch ihren Freitod ein Exempel für die Gewaltlosigkeit.
Ich übersehe
schon jetzt im Voraus: Dieses
Werk wird mich bei meinen
Zeitgenossen weder berühmt
noch verachtet machen, sondern
mich der Lächerlichkeit preisgeben. Dies sage ich ohne
tragische Gebärde, die ich nur
komisch fände. (Sogenanntes
Verkanntsein gibt es in
Wahrheit gar nicht.) Ich nehme
mir schon jetzt vor, meine
folgenden Arbeiten nur
als Gelegenheiten zu benutzen,
gerade dieses ausgelachte
Buch in den folgenden Jahren
zu Ehren zu bringen. Sein
heutiger Erfolg scheint mir
unmöglich zu sein, und darum
wäre er mir auch gleichgültig.
Im vergangenen Monat
regnete es in Locarno vermutlich etwas mehr als in
Zürich. Die Weltereignisse dieser
Stadt bestanden in einem
durchreisenden Chinesen, der
zauberte und nach einem
meiner Bekannten, dem sein
Leben billig ist, mit schweren
Messern warf, ohne ihn zu
verletzen.
—
Ich möchte Ihnen eine
Meister-Geistergeschichte senden,
allerdings von Selma Lagerlöf,
demnach ein Meisterstück der
Geister-Literatur.Es könnte sich bei dieser „Geistergeschichte“ um verschiedene Werke Selma Lagerlöfs handeln, denen ein mystischer Inhalt zugrunde liegt, z. B. Körkarlen.
—
Sehr Lieber,
Ihre Nahrückung des
FaustBusoni und Rubiner tauschten sich mit Blick auf Busonis entstehende Oper Doktor Faust mehrfach zum Faust-Stoff und zu GoethesFaust aus, besonders bezüglich des Themas „Wille“, das auch das zentrale Motiv von Rubiners Drama Die Gewaltlosen ist.
hat sich in diesen Wochen
in mir bestätigt, gestärkt, ist
geradezu in mein Blut
übergangen und hat in
mir Körper gebildet. —
—
Ich las eine Inhaltsangabe
von Schrekers Oper „Die Gezeichneten“:
Es gibt also auch schon den
Victor-Hugo-Imitations- + Schönberg-Kitsch!Rubiner bezieht sich hier zunächst wohl ausschließlich auf die literarische Grundlage von Schönbergs Bühnenwerken und insbesondere auf Die glückliche Hand; vgl. RubinersBrief vom 7. Februar 1918 an Busoni, wo Die glückliche Hand ein literarisch unergiebiges, rückwärtsgewandtes Werk genannt wird, „modernistisch-altmodisch“ und sprachlich von „schrecklichster, süßlichster Plattheit“.
Hauptperson: ein buckliger
Renaissance-„Lüstling“!Die Figur des Alviano Salvago als Pendant zur Titelrolle in Verdis Oper Rigoletto, die auf Victor Hugos Drama Le roi s’amuse basiert.
Wer da nicht
Verdi heißt, ist vermutlich ein
impotenter Schönberg-Morphinist. Doch
vielleicht bin ich ungerecht. Ich glaube
aber nicht, denn man hat doch
eigentlich den instinktiven Blick für
das, was einer will! – Ich sah dieser
Tage in den wirklichen Victor Hugo
hinein. Das scheint mir ein Mann zu sein,
dessen tatsächlich außerordentliche
Irrtümer aufs ungeheuerste aufgewogen
werden durch eine wahrhafte, mutige,
reiche, vibrierende Genialität. Comme
il est généreux!Frz.: „Wie gebefreudig er ist!“
Und wirklich, der
naive Verdi ist ihm oft ähnlich!
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2Faksimile
2Diplomatische Umschrift
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Phantasie, dass mir vor mir
etwas bange wird.Im IV. Akt des Dramas Die Gewaltlosen statuieren drei Personen durch ihren Freitod ein Exempel für die Gewaltlosigkeit.
Ich übersehe
schon jetzt im Voraus: Dieses
Werk wird mich bei meinen
Zeitgenossen weder berühmt
noch verachtet machen, sondern
mich der Lächerlichkeit preis⸗ geben. Dies sage ich ohne
tragische Gebärde, die ich nur
komisch fände. (Sogenanntes
Verkanntsein giebt es in
Wahrheit garnicht.) Ich nehme
mir schon jetzt vor, meine
folgenden Arbeiten nur
als Gelegenheiten zu benutzen,
gerade dieses ausgelachte
Buch in den folgenden Jahren
zu Ehren zu bringen. Sein
heutiger Erfolg scheint mir
unmöglich zu sein, und darum
wäre er mir auch gleichgültig.
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<lb/>gerade dieses ausgelachte
<lb/>Buch in den folgenden Jahren
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<lb/>heutiger Erfolg scheint mir
<lb/>unmöglich zu sein, und darum
<lb/>wäre er mir auch gleichgültig.</p>
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3Faksimile
3Diplomatische Umschrift
3XML
[2]
Im vergangenen Monat
regnete es in Locarno ver⸗ mutlich etwas mehr als in
Zürich. Die Weltereignisse dieser
Stadt bestanden in einem
durchreisenden Chinesen, der
zauberte und nach einem
meiner Bekannten, dem sein
Leben billig ist, mit schweren
Messern warf, ohne ihn zu
verletzen. —
Ich möchte Ihnen eine
Meister=Geistergeschichte senden,
allerdings von Selma Lagerlöf,
demnach ein Meisterstück der
Geister-Literatur.Es könnte sich bei dieser „Geistergeschichte“ um verschiedene Werke Selma Lagerlöfs handeln, denen ein mystischer Inhalt zugrunde liegt, z. B. Körkarlen.—
Sehr Lieber,
Ihre Nahrückung des FaustBusoni und Rubiner tauschten sich mit Blick auf Busonis entstehende Oper Doktor Faust mehrfach zum Faust-Stoff und zu GoethesFaust aus, besonders bezüglich des Themas „Wille“, das auch das zentrale Motiv von Rubiners Drama Die Gewaltlosen ist.
hat sich in diesen Wochen
in mir bestätigt, gestärkt, ist
geradezu in mein Blut
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<lb/>meiner Bekannten, dem sein
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hat sich in diesen Wochen
<lb/>in mir bestätigt, gestärkt, ist
<lb/>geradezu in mein Blut
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4Faksimile
4Diplomatische Umschrift
4XML
übergangen und hat in
mir Körper gebildet. —
—
Ich las eine Inhaltsangabe
von Schrekers Oper „Die Gezeichneten“:
Es giebt also auch schon den
Victor-Hugo=Imitations + Schönberg= Kitsch!Rubiner bezieht sich hier zunächst wohl ausschließlich auf die literarische Grundlage von Schönbergs Bühnenwerken und insbesondere auf Die glückliche Hand; vgl. RubinersBrief vom 7. Februar 1918 an Busoni, wo Die glückliche Hand ein literarisch unergiebiges, rückwärtsgewandtes Werk genannt wird, „modernistisch-altmodisch“ und sprachlich von „schrecklichster, süsslichster Plattheit“.
Hauptperson: Ein buckliger Renaissance-„Lüstling“!Die Figur des Alviano Salvago als Pendant zur Titelrolle in Verdis Oper Rigoletto, die auf Victor Hugos Drama Le roi s’amuse basiert.
Wer da nicht
Verdi heisst, ist vermutlich ein
impotenter Schönberg Morphinist. Doch
vielleicht bin ich ungerecht. Ich glaube
aber nicht, denn man hat doch
eigentlich den instinktiven Blick für
das, was Einer will! – Ich sah dieser
Tage in den wirklichen Victor Hugo hinein. Das scheint mir ein Mann zu sein,
dessen tatsächlich ausserordentliche
Irrtümer aufs ungeheuerste aufgewogen
werden durch eine wahrhafte, mutige,
reiche, vibrierende Genialität. Comme
il est généreux!Frz.: „Wie gebefreudig er ist!“
Und wirklich, der
naive Verdi ist ihm oft ähnlich!
Seien [Sie] gegrüsst, geliebt und
umarmt von Ihrem
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übergangen und hat in
<lb/>mir Körper gebildet. —</p>
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Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4282 | olim:
Mus.ep. L. Rubiner Nr. 23 (Busoni-Nachl. B II)
|
Rubiner steht kurz vor dem Abschluss des Dramas Die Gewaltlosen; antizipiert, der „kühnste“ letzte Akt werde ihn „der Lächerlichkeit preisgeben“; kündigt Übersendung einer „Meister-Geistergeschichte“ von Selma Lagerlöf an; nennt Schrekers Oper Die Gezeichneten nach Lektüre einer Inhaltsangabe „Victor-Hugo-Imitations- + Schönberg-Kitsch“.
Incipit
„Schon seit langem habe ich nichts mehr von Ihnen vernommen“
Brief von Ludwig Rubiner an Ferruccio Busoni (Locarno, 9. Mai 1918), bearbeitet von Clara Kroher, in: Briefwechsel Ferruccio Busoni – Ludwig Rubiner, hrsg. von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Berlin: Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Januar 2018: Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, https://busoni-nachlass.org/D0100325 (26. Februar 2018: in Korrekturphase)
Download der bereinigten Lesefassung im PDF-Dateiformat (.pdf)
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<title xml:lang="de">Brief von Ludwig Rubiner an Ferruccio Busoni (Locarno, 9. Mai 1918)</title>
<title xml:lang="en">Letter by Ludwig Rubiner to Ferruccio Busoni (Locarno, 9 May 1918)</title>
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<title type="genre">Briefe</title>
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<editor key="E0300314">Christian Schaper</editor>
<editor key="E0300313">Ullrich Scheideler</editor>
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<handNote xml:id="major_hand" scope="major" medium="black_ink" scribe="author" scribeRef="#E0300126">Hand des Absenders Ludwig Rubiner, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.</handNote>
<handNote xml:id="gerda.busoni" scope="minor" medium="pencil" scribe="relative" scribeRef="#E0300059">Hand Gerda Busonis, die mit Bleistift das Datum auf der Umschlagrückseite notiert hat.</handNote>
<handNote xml:id="archive" scope="minor" medium="pencil" scribe="archivist">Hand des Archivars, der die Siganturen mit Bleistift eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat.</handNote>
<handNote xml:id="archive_red" scope="minor" medium="red_pen" scribe="archivist">Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat</handNote>
<handNote xml:id="dsb_st_red" scope="minor" medium="red_ink" scribe="archivist">Bibliotheksstempel (rote Tinte)</handNote>
<handNote xml:id="sbb_st_blue" scope="minor" medium="blue_ink" scribe="archivist">Bibliotheksstempel (blaue Tinte)</handNote>
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<lb/>-<date when-iso="1918-05-09">9.V.1918</date>-11
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<p>Erfassung von Briefen und Schriften von Ferruccio Busoni, ausgehend von Busonis Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz.</p>
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<p>Worttrennungen an Zeilenumbrüchen im Original mit Doppelbindestrichen (⸗).</p>
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<p>Alle im Text vorkommenden Interpunktionszeichen wurden beibehalten und werden in der diplomatischen Umschrift wiedergegeben. Bei Auszeichnung durch XML-Elemente wurden umgebende Satzzeichen nicht mit einbezogen.</p>
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<p>Anführungszeichen wurden i. d. R. nicht beibehalten; die Art der Zeichen wurde im Attribut <att>rend</att> der entsprechenden Elemente codiert.</p>
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<p>Die Übertragung folgt den Editionsrichtlinien des Projekts. <ptr target="http://www.busoni-nachlass.org/E1000003"/></p>
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<persName ref="http://d-nb.info/gnd/118603590" key="E0300126">Rubiner, Ludwig</persName>
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<persName ref="http://d-nb.info/gnd/118518011" key="E0300017">Busoni, Ferruccio</persName>
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<placeName ref="http://www.geonames.org/maps/google_47.367_8.55.html" key="E0500132">Zürich</placeName>
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<addrLine><placeName key="E0500183" rend="left">Locarno</placeName>.</addrLine>
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<date when-iso="1918-05-09" rend="align(right)">Donnerstag, Himmelfahrt.
<lb/>1918.</date>
</dateline>
<note type="shelfmark" resp="#archive" place="top-right">[1]</note>
<note type="shelfmark" place="margin-left" rend="rotate(-90) tiny" resp="#archive">
<subst>
<add place="margin-left">Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4282</add>
<del rend="strikethrough">Mus.ep. L. Rubiner 23 (Busoni-Nachl. <handShift new="#archive_red"/>B II<handShift new="#archive"/>)</del>
</subst>
</note>
<salute rend="space-below">Lieber Verehrter!</salute>
</opener>
<p>Schon seit langem habe ich
<lb/>nichts mehr von Ihnen
<lb/>vernommen – <foreign xml:lang="it">quindici giorni
<lb/>fa</foreign> –<reg>,</reg>
<note type="commentary" resp="#E0300314">Ital.: <q>vor fünfzehn Tagen</q>.</note>
und ich möchte doch so
<lb/>gerne wissen, wie es bei Ihnen
<lb/>geht und steht? Wie ist
<lb/>Ihre und <persName key="E0300059">Frau Gerdas</persName> Gesund
<lb break="no" rend="sh"/>heit? Und wie richten Sie
<lb/>sich in diesem Sommer das
<lb/>Leben ein?
<note type="stamp" place="inline right" resp="#dsb_st_red">
<stamp rend="round border align(center) small">Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
</p>
<p rend="indent-first">Ich eile mit Riesenschritten
<lb/>dem Ende <rs key="E0400316">meiner Arbeit</rs> zu. Dieser
<lb/>letzte Akt, an dem ich nun noch
<lb/>einiges zu tun habe – und darnach
<lb/>fahre ich gen <placeName key="E0500132">Zürich</placeName> – ist mein
<lb/>kühnster. Der schwebt wirklich
<lb/>so zwischen Hölle und äu<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>erster
<pb n="2"/>
Phantasie, dass mir vor mir
<lb/>etwas bange wird.
<note type="commentary" resp="#E0300389">Im IV. Akt des Dramas <title key="E0400316">Die Gewaltlosen</title> statuieren drei Personen durch ihren Freitod ein Exempel für die Gewaltlosigkeit.</note>
Ich übersehe
<lb/>schon jetzt im Voraus: <rs key="E0400316">Dieses
<lb/>Werk</rs> wird mich bei meinen
<lb/>Zeitgenossen weder berühmt
<lb/>noch verachtet machen, sondern
<lb/>mich der Lächerlichkeit preis
<lb break="no"/>geben. Dies sage ich ohne
<lb/>tragische Gebärde, die ich nur
<lb/>komisch fände. (Sogenanntes
<lb/>Verkanntsein gi<orig>e</orig>bt es in
<lb/>Wahrheit gar<reg> </reg>nicht.) Ich nehme
<lb/>mir schon jetzt vor, meine
<lb/>folgenden Arbeiten nur
<lb/>als Gelegenheiten zu benutzen,
<lb/>gerade dieses ausgelachte
<lb/>Buch in den folgenden Jahren
<lb/>zu Ehren zu bringen. Sein
<lb/>heutiger Erfolg scheint mir
<lb/>unmöglich zu sein, und darum
<lb/>wäre er mir auch gleichgültig.</p>
<pb n="3"/>
<note type="shelfmark" resp="#archive" place="top-right">[2]</note>
<p rend="indent-first">Im vergangenen Monat
<lb/>regnete es in <placeName key="E0500183">Locarno</placeName> ver
<lb break="no"/>mutlich etwas mehr als in
<lb/><placeName key="E0500132">Zürich</placeName>. Die Weltereignisse dieser
<lb/>Stadt bestanden in einem
<lb/>durchreisenden Chinesen, der
<lb/>zauberte und nach einem
<lb/>meiner Bekannten, dem sein
<lb/>Leben billig ist, mit schweren<!-- wer ist der Bekannte? -->
<lb/>Messern warf, ohne ihn zu
<lb/>verletzen. <milestone unit="section" style="—" rend="inline"/>
</p>
<p>Ich möchte Ihnen eine
<lb/>Meister<pc>=</pc>Geistergeschichte senden,
<lb/>allerdings von <persName key="E0300380">Selma Lagerlöf</persName>,
<lb/>demnach ein Meisterstück der
<lb/>Geister-Literatur.
<note type="commentary" resp="#E0300389">Es könnte sich bei dieser <soCalled>Geistergeschichte</soCalled> um verschiedene Werke <persName key="E0300380">Selma Lagerlöfs</persName> handeln, denen ein mystischer Inhalt zugrunde liegt, z. B. <title key="E0400334">Körkarlen</title>.<!-- Auktionskatalog zu Busonis Bibliothek? --></note>
<milestone unit="section" style="—" rend="inline"/>
</p>
<p>Sehr Lieber,
<lb/><seg rend="indent">Ihre Nahrückung des</seg>
<lb/>Faust
<note type="commentary" resp="#E0300389"><persName key="E0300017">Busoni</persName> und <persName key="E0300126">Rubiner</persName> tauschten sich mit Blick auf <persName key="E0300017">Busonis</persName> entstehende Oper <title key="E0400218">Doktor Faust</title> mehrfach zum Faust-Stoff und zu <persName key="E0300124">Goethes</persName> <title key="E0400431">Faust</title> aus, besonders bezüglich des Themas <mentioned>Wille</mentioned>, das auch das zentrale Motiv von <persName key="E0300126">Rubiners</persName> Drama <title key="E0400316">Die Gewaltlosen</title> ist.</note>
hat sich in diesen Wochen
<lb/>in mir bestätigt, gestärkt, ist
<lb/>geradezu in mein Blut
<pb n="4"/>
übergangen und hat in
<lb/>mir Körper gebildet. —</p>
<milestone unit="section" style="—" rend="align(center)"/>
<p rend="indent-first">Ich las eine Inhaltsangabe
<lb/>von <persName key="E0300098">Schrekers</persName> Oper <title key="E0400338" rend="dq-du">Die Gezeichneten</title>:
<lb/>Es gi<orig>e</orig>bt also auch schon den
<lb/><persName key="E0300381">Victor-Hugo</persName><pc>=</pc><hi rend="underline">Imitations</hi><reg>-</reg> + <persName key="E0300023">Schönberg</persName><pc>=</pc>
<lb break="no"/>Kitsch!
<note type="commentary" resp="#E0300389"><persName key="E0300126">Rubiner</persName> bezieht sich hier zunächst wohl ausschließlich auf die literarische Grundlage von <persName key="E0300023">Schönbergs</persName> Bühnenwerken und insbesondere auf <title key="E0400021">Die glückliche Hand</title>; vgl. <persName key="E0300126">Rubiners</persName> <ref target="#D0100313">Brief vom <date when-iso="1918-02-07">7. Februar 1918</date></ref> an <persName key="E0300017">Busoni</persName>, wo <title key="E0400021">Die glückliche Hand</title> ein literarisch unergiebiges, rückwärtsgewandtes Werk genannt wird, <q>modernistisch-altmodisch</q> und sprachlich von <q>schrecklichster, sü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>lichster Plattheit</q>.</note>
Hauptperson: <choice><orig>E</orig><reg>e</reg></choice>in <hi rend="underline">buckliger</hi>
<lb/>Renaissance-<soCalled rend="dq-du">Lüstling</soCalled>!
<note type="commentary" resp="#E0300389">Die Figur des Alviano Salvago als Pendant zur Titelrolle in <persName key="E0300172">Verdis</persName> Oper <title key="E0400188">Rigoletto</title>, die auf <persName key="E0300381">Victor Hugos</persName> Drama <title key="E0400335">Le roi s’amuse</title> basiert.</note>
Wer da nicht
<lb/><persName key="E0300172">Verdi</persName> hei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>t, ist vermutlich ein
<lb/>impotenter <persName key="E0300023">Schönberg</persName><choice><orig> </orig><reg>-</reg></choice>Morphinist. Doch
<lb/>vielleicht bin ich ungerecht. Ich glaube
<lb/>aber nicht, denn man hat doch
<lb/>eigentlich den instinktiven Blick für
<lb/>das, was <choice><orig>E</orig><reg>e</reg></choice>iner will! – Ich sah dieser
<lb/>Tage in den wirklichen <persName key="E0300381">Victor Hugo</persName>
<lb/>hinein. Das scheint mir ein Mann zu sein,
<lb/>dessen tatsächlich au<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>erordentliche
<lb/>Irrtümer aufs ungeheuerste aufgewogen
<lb/>werden durch eine wahrhafte, mutige,
<lb/>reiche, vibrierende Genialität. <foreign xml:lang="fr">Comme
<lb/>il est généreux!</foreign>
<note type="commentary" resp="#E0300314">Frz.: <q>Wie gebefreudig er ist!</q></note>
Und wirklich, der
<lb/>naive <persName key="E0300172">Verdi</persName> ist ihm oft ähnlich!</p>
<closer>
<salute rend="indent-first">Seien <supplied reason="omitted">Sie</supplied> gegrü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>t, geliebt und
<lb/>umarmt von Ihrem </salute>
<signed rend="align(right)"><persName key="E0300126">Ludwig Rubiner</persName>.</signed>
</closer>
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