Ludwig Rubiner an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Locarno · 9. Mai 1918

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Donnerstag, Himmelfahrt.
1918.
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Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4282Mus.ep. L. Rubiner 23 (Busoni-Nachl. B II)

Lieber Verehrter!

Schon seit langem habe ich
nichts mehr von Ihnen
vernommen – quindici giorni
fa – Ital.: „vor fünfzehn Tagen“. und ich möchte doch so
gerne wissen, wie es bei Ihnen
geht und steht? Wie ist
Ihre und Frau Gerdas Gesund-
heit? Und wie richten Sie
sich in diesem Sommer das
Leben ein? Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Ich eile mit Riesenschritten
dem Ende meiner Arbeit zu. Dieser
letzte Akt, an dem ich nun noch
einiges zu tun habe – und darnach
fahre ich gen Zürich – ist mein
kühnster. Der schwebt wirklich
so zwischen Hölle und äusserster

Donnerstag, Himmelfahrt. 1918.

Lieber Verehrter!

Schon seit langem habe ich nichts mehr von Ihnen vernommen – quindici giorni fa –, Ital.: „vor fünfzehn Tagen“. und ich möchte doch so gerne wissen, wie es bei Ihnen geht und steht? Wie ist Ihre und Frau Gerdas Gesundheit? Und wie richten Sie sich in diesem Sommer das Leben ein?

Ich eile mit Riesenschritten dem Ende meiner Arbeit zu. Dieser letzte Akt, an dem ich nun noch einiges zu tun habe – und darnach fahre ich gen Zürich – ist mein kühnster. Der schwebt wirklich so zwischen Hölle und äußerster Phantasie, dass mir vor mir etwas bange wird. Im IV. Akt des Dramas Die Gewaltlosen statuieren drei Personen durch ihren Freitod ein Exempel für die Gewaltlosigkeit. Ich übersehe schon jetzt im Voraus: Dieses Werk wird mich bei meinen Zeitgenossen weder berühmt noch verachtet machen, sondern mich der Lächerlichkeit preisgeben. Dies sage ich ohne tragische Gebärde, die ich nur komisch fände. (Sogenanntes Verkanntsein gibt es in Wahrheit gar nicht.) Ich nehme mir schon jetzt vor, meine folgenden Arbeiten nur als Gelegenheiten zu benutzen, gerade dieses ausgelachte Buch in den folgenden Jahren zu Ehren zu bringen. Sein heutiger Erfolg scheint mir unmöglich zu sein, und darum wäre er mir auch gleichgültig.

Im vergangenen Monat regnete es in Locarno vermutlich etwas mehr als in Zürich. Die Weltereignisse dieser Stadt bestanden in einem durchreisenden Chinesen, der zauberte und nach einem meiner Bekannten, dem sein Leben billig ist, mit schweren Messern warf, ohne ihn zu verletzen.

Ich möchte Ihnen eine Meister-Geistergeschichte senden, allerdings von Selma Lagerlöf, demnach ein Meisterstück der Geister-Literatur. Es könnte sich bei dieser „Geistergeschichte“ um verschiedene Werke Selma Lagerlöfs handeln, denen ein mystischer Inhalt zugrunde liegt, z. B. Körkarlen.

Sehr Lieber, Ihre Nahrückung des Faust Busoni und Rubiner tauschten sich mit Blick auf Busonis entstehende Oper Doktor Faust mehrfach zum Faust-Stoff und zu Goethes Faust aus, besonders bezüglich des Themas „Wille“, das auch das zentrale Motiv von Rubiners Drama Die Gewaltlosen ist. hat sich in diesen Wochen in mir bestätigt, gestärkt, ist geradezu in mein Blut übergangen und hat in mir Körper gebildet. —

Ich las eine Inhaltsangabe von Schrekers Oper „Die Gezeichneten“: Es gibt also auch schon den Victor-Hugo-Imitations- + Schönberg-Kitsch! Rubiner bezieht sich hier zunächst wohl ausschließlich auf die literarische Grundlage von Schönbergs Bühnenwerken und insbesondere auf Die glückliche Hand; vgl. Rubiners Brief vom 7. Februar 1918 an Busoni, wo Die glückliche Hand ein literarisch unergiebiges, rückwärtsgewandtes Werk genannt wird, „modernistisch-altmodisch“ und sprachlich von „schrecklichster, süßlichster Plattheit“. Hauptperson: ein buckliger Renaissance-„Lüstling“! Die Figur des Alviano Salvago als Pendant zur Titelrolle in Verdis Oper Rigoletto, die auf Victor Hugos Drama Le roi s’amuse basiert. Wer da nicht Verdi heißt, ist vermutlich ein impotenter Schönberg-Morphinist. Doch vielleicht bin ich ungerecht. Ich glaube aber nicht, denn man hat doch eigentlich den instinktiven Blick für das, was einer will! – Ich sah dieser Tage in den wirklichen Victor Hugo hinein. Das scheint mir ein Mann zu sein, dessen tatsächlich außerordentliche Irrtümer aufs ungeheuerste aufgewogen werden durch eine wahrhafte, mutige, reiche, vibrierende Genialität. Comme il est généreux! Frz.: „Wie gebefreudig er ist!“ Und wirklich, der naive Verdi ist ihm oft ähnlich!

Seien Sie gegrüßt, geliebt und umarmt von Ihrem

Ludwig Rubiner.

                                                                
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schon jetzt im Voraus: Dieses
Werk
wird mich bei meinen
Zeitgenossen weder berühmt
noch verachtet machen, sondern
mich der Lächerlichkeit preis⸗
geben. Dies sage ich ohne
tragische Gebärde, die ich nur
komisch fände. (Sogenanntes
Verkanntsein giebt es in
Wahrheit garnicht.) Ich nehme
mir schon jetzt vor, meine
folgenden Arbeiten nur
als Gelegenheiten zu benutzen,
gerade dieses ausgelachte
Buch in den folgenden Jahren
zu Ehren zu bringen. Sein
heutiger Erfolg scheint mir
unmöglich zu sein, und darum
wäre er mir auch gleichgültig.

                                                                
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Im vergangenen Monat
regnete es in Locarno ver⸗
mutlich etwas mehr als in
Zürich. Die Weltereignisse dieser
Stadt bestanden in einem
durchreisenden Chinesen, der
zauberte und nach einem
meiner Bekannten, dem sein
Leben billig ist, mit schweren
Messern warf, ohne ihn zu
verletzen.

Ich möchte Ihnen eine
Meister=Geistergeschichte senden,
allerdings von Selma Lagerlöf,
demnach ein Meisterstück der
Geister-Literatur. Es könnte sich bei dieser „Geistergeschichte“ um verschiedene Werke Selma Lagerlöfs handeln, denen ein mystischer Inhalt zugrunde liegt, z. B. Körkarlen.

Sehr Lieber,
Ihre Nahrückung des
Faust Busoni und Rubiner tauschten sich mit Blick auf Busonis entstehende Oper Doktor Faust mehrfach zum Faust-Stoff und zu Goethes Faust aus, besonders bezüglich des Themas „Wille“, das auch das zentrale Motiv von Rubiners Drama Die Gewaltlosen ist. hat sich in diesen Wochen
in mir bestätigt, gestärkt, ist
geradezu in mein Blut

                                                                
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übergangen und hat in
mir Körper gebildet. —

Ich las eine Inhaltsangabe
von Schrekers Oper „Die Gezeichneten“:
Es giebt also auch schon den
Victor-Hugo=Imitations + Schönberg=
Kitsch! Rubiner bezieht sich hier zunächst wohl ausschließlich auf die literarische Grundlage von Schönbergs Bühnenwerken und insbesondere auf Die glückliche Hand; vgl. Rubiners Brief vom 7. Februar 1918 an Busoni, wo Die glückliche Hand ein literarisch unergiebiges, rückwärtsgewandtes Werk genannt wird, „modernistisch-altmodisch“ und sprachlich von „schrecklichster, süsslichster Plattheit“. Hauptperson: Ein buckliger
Renaissance-„Lüstling“! Die Figur des Alviano Salvago als Pendant zur Titelrolle in Verdis Oper Rigoletto, die auf Victor Hugos Drama Le roi s’amuse basiert. Wer da nicht
Verdi heisst, ist vermutlich ein
impotenter Schönberg Morphinist. Doch
vielleicht bin ich ungerecht. Ich glaube
aber nicht, denn man hat doch
eigentlich den instinktiven Blick für
das, was Einer will! – Ich sah dieser
Tage in den wirklichen Victor Hugo
hinein. Das scheint mir ein Mann zu sein,
dessen tatsächlich ausserordentliche
Irrtümer aufs ungeheuerste aufgewogen
werden durch eine wahrhafte, mutige,
reiche, vibrierende Genialität. Comme
il est généreux! Frz.: „Wie gebefreudig er ist!“ Und wirklich, der
naive Verdi ist ihm oft ähnlich!

Seien [Sie] gegrüsst, geliebt und
umarmt von Ihrem

Ludwig Rubiner.

                                                                
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[Zü]rich
-9.V.1918-11
VIII
Brf. Exp.
Nachlaß Busoni B II
Mus.ep. L. Rubiner 23

Mus.Nachl. F. Busoni
B II 4282-Beil.
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
9 Mai 1918
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4282 | olim: Mus.ep. L. Rubiner Nr. 23 (Busoni-Nachl. B II) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
1 Bogen, 4 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ludwig Rubiner, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand Gerda Busonis, die mit Bleistift das Datum auf der Umschlagrückseite notiert hat.
  • Hand des Archivars, der die Siganturen mit Bleistift eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 123456

Zusammenfassung
Rubiner steht kurz vor dem Abschluss des Dramas Die Gewaltlosen; antizipiert, der „kühnste“ letzte Akt werde ihn „der Lächerlichkeit preisgeben“; kündigt Übersendung einer „Meister-Geistergeschichte“ von Selma Lagerlöf an; nennt Schrekers Oper Die Gezeichneten nach Lektüre einer Inhaltsangabe Victor-Hugo-Imitations- + Schönberg-Kitsch“.
Incipit
Schon seit langem habe ich nichts mehr von Ihnen vernommen

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
26. Februar 2018: in Korrekturphase (Transkription abgeschlossen, Auszeichnungen codiert, zur Korrekturlesung freigegeben)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition