Ludwig Rubiner an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Berlin · 20. November 1919

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20. Nov. 1919.
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4293

Lieber und verehrter Ferruccio!

Bitte lassen Sie mir noch ca. 8 Tage
Zeit, um mich Ihrem Buchvorschlage ganz
zu widmen. Ihr lieber, mir sehr lieber,
aber ausweichender Brief
was den „Faust“ betrifft,
macht mir die Sache heute viel schwerer
als vor einem halben Jahr, wo ich in dem
Verlag
noch neu war. (Sie wissen ja: Ich habe
dort nicht zu entscheiden, vor allem geschäft⸗
lich nicht, sondern ich bin ein blosser, beraten⸗
der „Angestellter“ – keineswegs der Verleger, der
Inhaber und auch nicht geschäftlich beteiligt.)
Um diesen Aufschub bitte ich, weil ich im Begriff
stehe, auf 8 Tage nach München zu fahren.
Dort will ich versuchen, eine Katastrophe,
die – tatsächlich unschuldigerweise – meine liebe
Frau
betroffen hat, wieder ins Gute zu wenden. Frida Rubiner war nach einer ersten Untersuchungshaft in München (3. Mai 1919 bis 12. Juni 1919) wegen kommunistischer Umtriebe bzw. Unterstützung der Münchner Räterepublik erneut am 19. September 1919 in Busonis Berliner Wohnung festgenommen worden. Das Volksgericht für den Landgerichtsbezirk München I verurteilte sie am 28. November 1919 zu einer Festungshaft von 21 Monaten. Den Strafantritt konnte sie unter Verweis auf ihren gesundheitlichen Zustand, sodann auf die schwere, schließlich tödliche Erkrankung ihres Mannes aufschieben; anschließend setzte sie sich ins Ausland ab. Noch 1925 wurde nach ihr in Berlin gefahndet; die Reststrafe wurde laut Eintrag im Urteilsbuch am 24. Februar 1926 erlassen.
Ach, das lastet schon so lange Zeit auf mir,
ganz fürchterlich. Sie leben jetzt auch wieder in
einem grossen Lande, im grossen Menschenstrom,
und sie empfinden wieder in unmittelbarem
Kontakt, dass das Leben lebenswert – und
voll bitterer Trauer ist. Meines ist schon lange
voll bitterer Erregung, und das war es, warum
ich so lange nicht zu schreiben im Stande
war; es schnürte mir den Hals zu.

20. Nov. 1919.

Lieber und verehrter Ferruccio!

Bitte lassen Sie mir noch ca. acht Tage Zeit, um mich Ihrem Buchvorschlage ganz zu widmen. Ihr lieber, mir sehr lieber, aber ausweichender Brief, was den „Faust“ betrifft, macht mir die Sache heute viel schwerer als vor einem halben Jahr, wo ich in dem Verlag noch neu war. (Sie wissen ja: Ich habe dort nicht zu entscheiden, vor allem geschäftlich nicht, sondern ich bin ein bloßer, beratender „Angestellter“ – keineswegs der Verleger, der Inhaber und auch nicht geschäftlich beteiligt.) Um diesen Aufschub bitte ich, weil ich im Begriff stehe, auf acht Tage nach München zu fahren. Dort will ich versuchen, eine Katastrophe, die – tatsächlich unschuldigerweise – meine liebe Frau betroffen hat, wieder ins Gute zu wenden. Frida Rubiner war nach einer ersten Untersuchungshaft in München (3. Mai 1919 bis 12. Juni 1919) wegen kommunistischer Umtriebe bzw. Unterstützung der Münchner Räterepublik erneut am 19. September 1919 in Busonis Berliner Wohnung festgenommen worden. Das Volksgericht für den Landgerichtsbezirk München I verurteilte sie am 28. November 1919 zu einer Festungshaft von 21 Monaten. Den Strafantritt konnte sie unter Verweis auf ihren gesundheitlichen Zustand, sodann auf die schwere, schließlich tödliche Erkrankung ihres Mannes aufschieben; anschließend setzte sie sich ins Ausland ab. Noch 1925 wurde nach ihr in Berlin gefahndet; die Reststrafe wurde laut Eintrag im Urteilsbuch am 24. Februar 1926 erlassen. Ach, das lastet schon so lange Zeit auf mir, ganz fürchterlich. Sie leben jetzt auch wieder in einem großen Lande, im großen Menschenstrom, und Sie empfinden wieder in unmittelbarem Kontakt, dass das Leben lebenswert – und voll bitterer Trauer ist. Meines ist schon lange voll bitterer Erregung, und das war es, warum ich so lange nicht zu schreiben im Stande war; es schnürte mir den Hals zu. Ich hoffe, dass sich jetzt alles, oder wenigstens vieles, lösen wird. – Rita war mir ein lieber, hilfreicher Trost.

Seien Sie vielmals gegrüßt und umarmt von Ihrem

In Freundschaft und Liebe Ihnen ergebenen

Ludwig Rubiner

                                                                
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2Diplomatische Umschrift
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Ich hoffe, dass sich jetzt alles, oder
wenigstens vieles, lösen wird. – Rita
war mir ein lieber, hilfreicher Trost.

Seien Sie vielmals gegrüsst
und umarmt von Ihrem

In Freundschaft und Liebe
Ihnen ergebenen

Ludwig Rubiner

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Mus.ep. L. Rubiner 34 (Busoni-Nachl. B II)
                                                                
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Charlottenburg
20.11.19.2–3N
2
Charlottenburg
20.11.19.2–3N
2
Dr. F. Busoni
Esqu.
London N.W
West Wing – outer Circle
Regent’s Park
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4Diplomatische Umschrift
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20 Nov. 1919
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4299-Beil.
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Nachlaß Busoni B II
Mus.ep. L. Rubiner 34
                                                                
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Dokument

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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4293 | olim: Mus.ep. L. Rubiner 34 (Busoni-Nachl. B II) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten; Umschlagaufriss rechts (ohne erkennbaren Textverlust).
Umfang
1 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ludwig Rubiner, Brieftext in blauer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand Gerda Busonis, der auf der Umschlagrückseite mit Bleistift das Datum notiert hat.
  • Hand des Archivars, der die Foliierung vorgenommen und die Signaturen mit Bleistift eingetragen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 1234

Zusammenfassung
Rubiner bittet um Aufschub beim Textbuchdruck zu Doktor Faust, da er zu seiner inhaftierten Frau nach München fahren müsse; empfindet sein Leben als „schon lange voll bitterer Erregung“.
Incipit
Bitte lassen Sie mir noch ca.

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
12. Mai 2023: in Bearbeitung (in der Erfassungs-/Codierungsphase)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition