Ferruccio Busoni an Philipp Jarnach arrow_backarrow_forward

Zürich · 1. Januar 1920

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N.Mus.Depos. 56,89
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1 Januar 1920
Zürich

L Ph J unser Gespräch, zu später
Stunde begonnen, musste
Fragment bleiben. Es […] 1 Zeichen: überschrieben. betraf Theatra-
-lisches und Dramatisches, an Goethe
und V. Hugo gemessen, und die grosse
Schätzung jener FaustDichtung, liess
uns am Wege inne halten, wie
vor einer prächtigen Aussicht. Dass Busoni ein großer Bücherliebhaber mit einer äußerst umfangreichen Privatbibliothek war, ist bekannt. Mit Jarnach hatte er einen gleichermaßen lesefreudigen Gesprächspartner gefunden, wie sich u. a. an dieser Briefstelle, aber auch aus einigen unveröffentlichten Erinnerungen Jarnachs ablesen lässt: „Depuis que j’avais appris à lire, je montrai une grande passion pour les livres. On me mit d’abord dans les mains les romans enfantins de la comtesse de Ségur. Combien pauvre et insiguifiante est la littérature pour la jeunesse. Ceux, qui parmi ces ouvrages, sont amusants sont plutôt nuisibles, parce que vides de tout enseignement; les autres, les enfants ne les lisent pas. – Mais ma grande précocité me permit bientôt d’aborder les auteurs qui s’adressent à la seconde enfance. J’ai lu entre huit et dix ans tout Jules Vernes [sic], qui trouve sa place d’ordinaire entre douze et quatorze. Mes parents avaient abandonné le choix de mes lectures [an dieser Stelle bricht der Text unvermittelt ab]“ (Jarnach, „Sur la Route. Souvenirs (1892–1914)“, Notizheft mit hs. Eintragungen, N.Mus.Depos. 56 [Nachlass Philipp Jarnach], Kasten 16, [o.eigene Sign., Nr. 352 oder 353 in der Findliste]). Mit dieser Präferenz befand er sich sehr auf einer Linie mit Busonis Leseinteressen. Dieser bezeichnete nämlich noch kurz vor seinem Tod eine dramatisierte Version von Jules Vernes Reise um die Erde in 80 Tagen als eine der „[d]rei Theaterwirkungen … von einschneidendster und unvergesslichst[er] und tiefster Wirkung“ auf ihn (Tagebucheintrag Gottfried Galstons vom 12.6.1924, in: Galston/Weindel 2000, S. 133).
Für einige nähere Informationen zu Busonis zwiespältigem Verhältnis zu Goethes Faust im Kontext der Entstehung seiner eigenen Faust-Oper siehe die Kommentierung zum alten Puppenspiel in Busonis Brief an Jarnach vom 4.3.1920.
Mit
Ausnahmen zu rechnen u. zu rechten,
bringt keine Regel zu Stande: mit
darum führte unser nächtliches Ge-
spräch zu keinem Ergebnis und liess
offenen Raum zu allenjeder Möglichkeit von
Schlüssen, auch zu manchem Misverständ-
-nis; namentlich […] mindestens 1 Zeichen: überschrieben. darüber, wie ich
[…] 1 Zeichen: überschrieben. diese Fragen betrachte. – Es ist mit
der Auffassung des Dramatischen, wie
mit der Deutung der „Sitte“ in
× Turandot. Länder, Epochen, Moden
× „Turandot“verschieben fortwährend Begriffe und
Gesetz.

1. Januar 1920, Zürich

L Ph J,

unser Gespräch, zu später Stunde begonnen, musste Fragment bleiben. Es betraf Theatralisches und Dramatisches, an Goethe und Victor Hugo gemessen, und die große Schätzung jener Faust-Dichtung ließ uns am Wege innehalten wie vor einer prächtigen Aussicht. Dass Busoni ein großer Bücherliebhaber mit einer äußerst umfangreichen Privatbibliothek war, ist bekannt. Mit Jarnach hatte er einen gleichermaßen lesefreudigen Gesprächspartner gefunden, wie sich u. a. an dieser Briefstelle, aber auch aus einigen unveröffentlichten Erinnerungen Jarnachs ablesen lässt: „Depuis que j’avais appris à lire, je montrai une grande passion pour les livres. On me mit d’abord dans les mains les romans enfantins de la comtesse de Ségur. Combien pauvre et insiguifiante est la littérature pour la jeunesse. Ceux, qui parmi ces ouvrages, sont amusants sont plutôt nuisibles, parce que vides de tout enseignement; les autres, les enfants ne les lisent pas. – Mais ma grande précocité me permit bientôt d’aborder les auteurs qui s’adressent à la seconde enfance. J’ai lu entre huit et dix ans tout Jules Vernes [sic], qui trouve sa place d’ordinaire entre douze et quatorze. Mes parents avaient abandonné le choix de mes lectures [an dieser Stelle bricht der Text unvermittelt ab]“ (Jarnach, „Sur la Route. Souvenirs (1892–1914)“, Notizheft mit hs. Eintragungen, N.Mus.Depos. 56 [Nachlass Philipp Jarnach], Kasten 16, [o.eigene Sign., Nr. 352 oder 353 in der Findliste]). Mit dieser Präferenz befand er sich sehr auf einer Linie mit Busonis Leseinteressen. Dieser bezeichnete nämlich noch kurz vor seinem Tod eine dramatisierte Version von Jules Vernes Reise um die Erde in 80 Tagen als eine der „[d]rei Theaterwirkungen … von einschneidendster und unvergesslichst[er] und tiefster Wirkung“ auf ihn (Tagebucheintrag Gottfried Galstons vom 12.6.1924, in: Galston/Weindel 2000, S. 133).
Für einige nähere Informationen zu Busonis zwiespältigem Verhältnis zu Goethes Faust im Kontext der Entstehung seiner eigenen Faust-Oper siehe die Kommentierung zum alten Puppenspiel in Busonis Brief an Jarnach vom 4.3.1920.
Mit Ausnahmen zu rechnen und zu rechten, bringt keine Regel zu Stande: Darum führte unser nächtliches Gespräch zu keinem Ergebnis und ließ offenen Raum zu jeder Möglichkeit von Schlüssen, auch zu manchem Missverständnis; namentlich darüber, wie ich diese Fragen betrachte. – Es ist mit der Auffassung des Dramatischen wie mit der Deutung der „Sitte“ in Turandot. Länder, Epochen, Moden verschieben fortwährend Begriff und Gesetz.

Ich weiß theoretisch und wissenschaftlich- ästhetisch davon recht wenig. Aber ich konnte feststellen, dass – abwechselnd – die Probleme der „tragischen Schuld“, „der Intrigue“, „der Situation“, „des Charakters“, „des Schicksals“, „der inneren Wandlung“ als dramatische Beweger galten.

Dazu gesellten sich, ebenfalls abwechselnd, die Gemütszustände, die Heroisches, Dämonisches, Romantisches (Wildes und Weiches) und endlich Alltägliches, dann wieder Symbolisches und noch anderes, betonten.

Als Drittes fügten sich an: das Historische, Legendarische, Humoristische, Satyrische, Als alternative Lesart wäre auch das „Satirische“ denkbar. Die Schrift ist zwar unbeeinträchtigt, doch lässt die Ersetzung Labyrinth/Labirynth auf der folgenden Briefseite eine insgesamt etwas unklare Handhabung der Orthographie bei Wörtern mit y/i vermuten. Die inhaltliche Einreihung des Wortes zwischen dem „Humoristischen“ und dem „Komischen“ könnte zudem als Indiz für eine Fehlschreibung gewertet werden. Komische, Tendenziöse, Philosophische und was weiß ich. Im Faust ist es das Enzyklopädische und die subjektive Beleuchtung aller Begebenheiten.

Bleibt noch das Wunderbare und schließlich das unbefangene Spiel. – Alles hat ein Recht zu existieren, sobald Geist und Meisterschaft es beherrschen: – Aber woher wollten Sie die einzige Regel herleiten?

Es muss weiter noch damit gerechnet werden, dass selbst die Wirkung auf der Bühne von Zeiten und Richtungen abhängt; dass einiges unsere Väter erschütterte, welches uns zum Lachen bringen würde. Wo früher die lange, rhetorische Rede (Tirade) begeisterte, wird heute Abkürzung verlangt.

Ist z. B. Puccini ein Fachmann der Bühne, so ist er es nur für heute, auf kurze Dauer, und ein Meister von nur einer unter tausenden von Möglichkeiten, die er nicht pflegt. – Das Theater ist ein dargestelltes Feuilleton, auf das Datum der Zeitungsnummer gestellt. Meist ist ein schlagendes Theaterstück eine schlechte Literatur, ein literarisches Meisterwerk ein schwaches Bühnenstück. In einem kurzen Textentwurf setzt Busoni diesen Gedanken auch in Analogie zur Musik: „Ein gutes Kunstwerk kann ein schlechtes Theaterstück sein, ein gutes Theaterstück ein schlechtes Kunstwerk. Der Fall, dass ein gutes Kunstwerk ein gutes Theaterstück abgiebt, gehört zu den Phaenomena in der BühnenGeschichte. Ebenso selten ist der Fall, dass eine gute Musik ein schlechtes Textbuch rettet – wie in Verdis ‚Trovatore‘ – hingegen häufig das Vorkommnis, dass ein gutes Textbuch eine mittelmässige Musik durchbringt. Ein sogenanntes ‚gutes‘ Textbuch!“ (Vgl. Busoni, [o. T.], [o. O.], [o. D.], Ms.autograph, D–B, Mus.Nachl. F. Busoni C I, 100; Archiv-Datierung auf ca. 1914, mit Blick auf die hier kommentierte Briefstelle erschiene allerdings 1920 eher plausibel.)

Zeichnen Sie, wenn Sie können, einen Grundriss dieses Labyrinthes; wer wird jemals den Stil, den Zweck, den Sinn des Theaters unwiderruflich festlegen? Nicht

Ihr Sie herzlich grüßender

F. Busoni

                                                                
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2Diplomatische Umschrift
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Ich weiss theoretisch u. wissenschaftlich-
aesthetisch davon recht wenig. Aber
ich konnte feststellen, dass – abwechselnd –
die Probleme der „tragischen Schuld“
„der Intrigue“
„der Situation“
„des Charackters“
„des Schicksals“
„der inneren Wandlung“
als dramatische Beweger galten.

Dazu […] 1 Zeichen: überschrieben. gesellten sich, ebenfalls abwechselnd,
die Gemüthszustände,, diedie heroisches,
dämonisches, romantisches (wildes u. weiches)
und endlich alltägliches, dann wieder
symbolisches, und noch Anderes, betonten.

Als drittes fügten sich an:, das Historische,
Legendarische, humoristische, Satyrische, Als alternative Lesart wäre auch das „Satirische“ denkbar. Die Schrift ist zwar unbeeinträchtigt, doch lässt die Ersetzung Labyrinth/Labirynth auf der folgenden Briefseite eine insgesamt etwas unklare Handhabung der Orthographie bei Wörtern mit y/i vermuten. Die inhaltliche Einreihung des Wortes zwischen dem „Humoristischen“ und dem „Komischen“ könnte zudem als Indiz für eine Fehlschreibung gewertet werden.
Komische, Tendenziöse, Philosophische, und
was weiss ich. Im Faust ist es das
Enzyklopädische und die subjektive Be-
-leuchtung aller Bege[…] mindestens 1 Zeichen: überschrieben. benheiten.

Bleibt noch das Wunderbare
und schliesslich
das unbefangene Spiel. – Alles hat
ein Recht zu existieren, sobald Geist und
Meisterschaft es beherrschen: – aber wo-
-her wollten Sie die einzige Regel
herleiten?

                                                                
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Es muss weiter noch damit gerechnet
werden, dass selbst die Wirkung auf
der Bühne, von Zeiten u. Richtungen
abhängt; dass Einiges unsere Väter
erschütterte, welches Uns zum Lachen
bringen würde. Wo früher die lange,
rethorische Rede (Tirade) begeisterte,
wird heute nach Transkription unsicher. noch Transkription unsicher. nich Transkription unsicher. Abkürzung verlangt.

Ist z. B. Puccini ein Fachmann der
Bühne, so ist er es nur für heute,
auf kurze Dauer, und ein Meister
von nur einer, unter tausend[en] von Möglich-
-keiten, die er nicht pflegt. – Das
Theater ist ein dargestelltes Feuilleton,
auf das Datum der Zeitungsnummer
gestellt. Meist ist ein schlagendes
Theaterstück eine schlechte Literatur,
ein literarisches Meisterwerk ein
seh Transkription unsicher. Alternative Lesart:
sch
schwaches Bühnenstück. In einem kurzen Textentwurf setzt Busoni diesen Gedanken auch in Analogie zur Musik: „Ein gutes Kunstwerk kann ein schlechtes Theaterstück sein, ein gutes Theaterstück ein schlechtes Kunstwerk. Der Fall, dass ein gutes Kunstwerk ein gutes Theaterstück abgiebt, gehört zu den Phaenomena in der BühnenGeschichte. Ebenso selten ist der Fall, dass eine gute Musik ein schlechtes Textbuch rettet – wie in Verdis ‚Trovatore‘ – hingegen häufig das Vorkommnis, dass ein gutes Textbuch eine mittelmässige Musik durchbringt. Ein sogenanntes ‚gutes‘ Textbuch!“ (Vgl. Busoni, [o. T.], [o. O.], [o. D.], Ms.autograph, D–B, Mus.Nachl. F. Busoni C I, 100; Archiv-Datierung auf ca. 1914, mit Blick auf die hier kommentierte Briefstelle erschiene allerdings 1920 eher plausibel.)

M Zeichnen Sie, wenn Sie können,
einen Grundriss dieses Labyri[…] mindestens 2 Zeichen: durchgestrichen. Labirynthes;
wer wird jemals den Styl, dien Zweck,
den Sinn des Theaters unwiderruflich
festlegen? Nicht Ihr Sie herzlich grüssender
F. Busoni

                                                                
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1. Jan. 1920 Nr. 1
Brief von Busoni an Ph. Jarnach
(aus Zürich)
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<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"> <note type="objdesc" resp="#E0300361">[Rückseite von Textseite 3]</note> <note xml:id="unkn_date" type="dating" place="top-right" rend="rotate(90)" resp="#unknown_hand"> <date when-iso="1920-01-01">1. Jan. 1920</date> <note type="annotation" place="inline" resp="#unknown_hand"> <seg rend="square border">Nr. 1</seg> <lb/>Brief von <persName key="E0300017">Busoni</persName> an <persName key="E0300376">Ph. Jarnach</persName> <lb/><seg rend="align(left)">(aus <placeName key="E0500132">Zürich</placeName>)</seg> <lb/><hi rend="underline right">3 Seiten</hi> </note> </note> </div>

Dokument

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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Depos. 56,89 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
3 Blatt, 3 beschriebene Seiten
Kollation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signatur eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat
  • unbekannte Hand, die u. a. auf der letzten Seite verso Datum, Absender, Empfänger sowie Umfang des Briefes vermerkt hat
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 123456

Zusammenfassung
Busoni greift einen nächtlichen, nicht zu Ende geführten Diskurs über „Theatralisches und Dramatisches“ zwischen sich und Jarnach noch einmal auf; erwähnt u. a. Goethes Faust, seinen Einakter Turandot, „dramatische Beweger“ und „Gemütszustände“ sowie Wirkungsmöglichkeiten auf der Bühne; bezeichnet das Theater als „dargestelltes Feuilleton“.
Incipit
unser Gespräch, zu später Stunde begonnen, musste Fragment bleiben

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
31. Mai 2022: in Korrekturphase (Transkription abgeschlossen, Auszeichnungen codiert, zur Korrekturlesung freigegeben)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition