|
[1]
Mus.ep. H. Huber 36 (Busoni-Nachl. B II) Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2263
Lieber Freund!
So sind sie alle, unsere Musik⸗ historiker, vom schlechten Exempel
eines Kretschmar ausgehend:
arme Geisteskrüppel, die entweder
ans einem musik-technischen
Versuche, oder an einem anderen
Berufe (Jus, Theologie od. Philologie)
scheiternd, am sogenan̅ten „Unter
dem Strich“
Bezeichnung fürs Feuilleton (auf dem unteren Drittel der Zeitungsseite, abgetrennt durch einen Strich).
sich mit einer ganzen
Schaar impotenter & impertinenter
Schreiber verbunden haben & jetzt
ein wenig die Welt regieren.
Mit Ausnahme einiger Zöpfe &
héréditaire-
Frz.: erblich.Belasteten werden
|
Lieber Freund!
So sind sie alle, unsere Musikhistoriker, vom schlechten Exempel
eines Kretzschmar ausgehend:
arme Geisteskrüppel, die, entweder
an einem musik-technischen
Versuche oder an einem anderen
Berufe (Jus, Theologie oder Philologie)
scheiternd, am sogenannten „Unter
dem Strich“
Bezeichnung fürs Feuilleton (auf dem unteren Drittel der Zeitungsseite, abgetrennt durch einen Strich).
sich mit einer ganzen
Schar impotenter und impertinenter
Schreiber verbunden haben und jetzt
ein wenig die Welt regieren.
Mit Ausnahme einiger Zöpfe und
héréditaire
Frz.: erblich.Belasteten werden
solche – fast naive – „Extuberanzen“
Emporwölbungen (zu lat. „extuberare“).
nicht ernst genommen – sogar auch
nicht in der Stadt Holbeins und der
Druckerschwärze. Sie – in Ihrer
Ausnahmsstellung in der heutigen musikalischen
Kultur – dürfen stolz über diese
Dinge zu weiterem Schaffen, Schenken
und Schulen übergehen. Und ich schließe
mich als treuer Freund mit ähnlichen
Gefühlen an! –
Was das „Schenken“ anbelangt,
so bin ich – nicht als Bestimmender
aber als Beistimmender – der Ansicht,
dass Sie die Schweiz noch nicht verlassen
dürfen. Die Saat, die Sie in Zürich und
Basel ausgestreut haben, bedarf immer
noch einer guten Pflege und kann quantitativ
gesteigert werden. Dann fehlt die
ganze französische Schweiz, die Sie auch
in das Interesse Ihrer Interpretationskultur
ziehen sollten. Ich sprach gerade am letzten
Sonntag in Bern, wo ich der letzten Aufführung
meiner Oper beiwohnte, mit einem hervorragenden
Kenner der Genfer Verhältnisse, und seine
Meinung geht auch dahin, dass Sie gerade auch
in Genf eine große Tat mit Ihrem Erscheinen
erfüllen würden! Ergo!
Und das Schulen! Auch da
hätten wir Sie nötig! Sie sollten
alle Monate nur einen Tag zur
Pädagogik herauslesen. Wir würden
Ihnen einige begabte Schüler
zuschicken, denen Sie mit Ihrem
Rate beistehen könnten. Überlegen
Sie sich den modus „practicandi“!
Ihre Chopin-Zeilen wirken
für die meisten wie eine Offenbarung!
Auch in diesen Offenbarungen hätten
Sie in der Schweiz den möglichst-dankbarsten
Boden! –
Und jetzt wünsche ich Ihnen blauen
Himmel und gute Menschen jenseits
des Gotthard, und vergessen Sie die
„Nördlichen“ nicht.
Ihr herzlich ergebener
Huber
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split">
<note type="foliation" resp="#archive2" place="top-right">[1]</note>
<note type="shelfmark" resp="#archive" place="top">
<subst resp="#archive3"><del rend="strikethrough">Mus.ep. H. Huber 36 (Busoni-Nachl. B II)</del><add place="below">Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2263</add></subst>
</note>
<opener><salute>Lieber Freund!</salute></opener>
<p type="pre-split">So sind sie alle, unsere Musik
<lb break="no"/>historiker, vom schlechten Exempel
<lb/>eines <persName key="E0300152" rend="latin">Kret<reg>z</reg>schmar</persName> ausgehend:
<lb/>arme Geisteskrüppel, die<reg>,</reg> entweder
<lb/>an<del rend="strikethrough">s</del> einem musik-technischen
<lb/>Versuche<orig>,</orig> oder an einem anderen
<lb/>Berufe (<hi rend="latin">Jus, Theologie <choice><abbr>od.</abbr><expan>oder</expan></choice> Philologie</hi>)
<lb/>scheiternd, am sogena<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>ten <soCalled rend="dq-du">Unter
<lb/>dem Strich</soCalled>
<note type="commentary" resp="#E0300314">Bezeichnung fürs Feuilleton (auf dem unteren Drittel der Zeitungsseite, abgetrennt durch einen Strich).</note>
sich mit einer ganzen
<lb/>Scha<orig>a</orig>r impotenter <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> impertinenter
<lb/>Schreiber verbunden haben <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> jetzt
<lb/>ein wenig die Welt regieren.
<lb/>Mit Ausnahme einiger Zöpfe <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice>
<lb/><foreign xml:lang="fr" rend="latin">héréditaire</foreign><choice><orig>-</orig><reg> </reg></choice><note type="commentary" resp="#E0300314">Frz.: erblich.</note>Belasteten werden
</p></div>
|
2Facsimile
|
2Diplomatic transcription
|
2XML
|
|
solche – fast naive – „Extuberanzen“
Emporwölbungen (zu lat. „extuberare“).
nicht ernst genom̅en – sogar auch
nicht in der Stadt Holbeins & der
Druckerschwärze. Sie – in Ihrer
Ausnahmsstellung in der heutigen musikalischen
Cultur – dürfen stolz über solchediese
Dinge zu weiterem Schaffen, Schenken
& Schulen übergehen. Und ich schließe
mich als treuer Freund mit ähnlichen
Gefühlen an! –
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Was das „Schenken“ anbelangt,
so bin ich – nicht als Bestim̅ender
aber als Beistim̅ender – der Ansicht,
daß Sie die Schweiz noch nicht verlaßen
dürfen. Die Saat, die Sie in Zürich &
Basel ausgestreut haben, bedarf im̅er
noch einer guten Pflege & kan̅ […]
1 word: cancelled.
quantitativ
gesteigert werden. Dan̅ fehlt die
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split">
solche – fast naive – <soCalled rend="dq-du">Extuberanzen</soCalled>
<note type="commentary" resp="#E0300314">Emporwölbungen (zu lat. <mentioned xml:lang="la">extuberare</mentioned>).</note>
<lb/>nicht ernst geno<choice><abbr>m̅</abbr><expan>mm</expan></choice>en – sogar auch
<lb/>nicht in der <rs key="E0500097">Stadt</rs> <persName key="E0300241">Holbeins</persName> <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> der
<lb/>Druckerschwärze. <hi rend="underline">Sie</hi> – in Ihrer
<lb/>Ausnahmsstellung in der heutigen musikalischen
<lb/><choice><orig>C</orig><reg>K</reg></choice>ultur – dürfen stolz über <subst><del rend="strikethrough">solche</del><add place="above">diese</add></subst>
<lb/>Dinge zu weiterem Schaffen, Schenken
<lb/><choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> Schulen übergehen. Und ich schließe
<lb/>mich als treuer Freund mit ähnlichen
<lb/>Gefühlen an! –</p>
<note type="stamp" place="margin-right" resp="#dsb_st_red" xml:id="dsb_st">
<stamp rend="round border align(center) small">Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
<p type="pre-split" rend="indent-first">Was das <soCalled rend="dq-du">Schenken</soCalled> anbelangt,
<lb/>so bin ich – nicht als Besti<choice><abbr>m̅</abbr><expan>mm</expan></choice>ender
<lb/>aber als <hi rend="underline">Bei</hi>sti<choice><abbr>m̅</abbr><expan>mm</expan></choice>ender – der Ansicht,
<lb/>da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> Sie die <placeName key="E0500092">Schweiz</placeName> noch nicht verla<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>en
<lb/>dürfen. Die Saat, die Sie in <placeName key="E0500132">Zürich</placeName> <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice>
<lb/><placeName key="E0500097">Basel</placeName> ausgestreut haben, bedarf i<choice><abbr>m̅</abbr><expan>mm</expan></choice>er
<lb/>noch einer guten Pflege <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> ka<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice> <subst><del rend="strikethrough"><gap extent="1" unit="word" reason="strikethrough"/></del><add place="above">quantitativ</add></subst>
<lb/>gesteigert werden. Da<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice> fehlt die
</p></div>
|
3Facsimile
|
3Diplomatic transcription
|
3XML
|
|
[2]
ganze französische Schweiz, die Sie auch
in das Intereße Ihrer Interpretationscultur
ziehen sollten. Ich sprach gerade am letzten
Son̅tag in Bern, wo ich der letzten Aufführung
meiner Oper beiwohnte, mit einem hervorragenden
Ken̅er der Genfer-Verhältniße, & seine
Meinung geht auch dahin, daß Sie gerade auch
in Genf eine große That mit Ihrem Erscheinen
erfüllen würden! Ergo!
Und das Schulen! Auch da
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
hätten wir Sie nöthig! Sie sollten
alle Monate nur einen Tag zur
Pädagogik herauslesen. Wir würden
Ihnen nur einige begabte Schüler
zuschicken, denen Sie mit Ihrem
Rathe beistehen kön̅ten. Ueberlegen
Sie sich den modus „practicandi“!
Ihre Chopinzeilen wirken
für die Meisten wie eine Offenbarung!
Auch in diesen Offenbarungen hätten
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p rend="indent-first" type="split">
<note type="foliation" resp="#archive2" place="top-right">[2]</note>
<lb/>ganze <placeName key="E0500335">französische Schweiz</placeName>, die Sie auch
<lb/>in das Intere<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>e Ihrer Interpretations<choice><orig>c</orig><reg>k</reg></choice>ultur
<lb/>ziehen sollten. Ich sprach gerade am letzten
<lb/>So<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>tag in <placeName key="E0500186">Bern</placeName>, wo ich der letzten Aufführung
<lb/><rs key="E0400156">meiner Oper</rs> beiwohnte, mit einem hervorragenden
<lb/>Ke<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>er der <placeName key="E0500219">Genfer</placeName><choice><orig>-</orig><reg> </reg></choice>Verhältni<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>e, <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> seine
<lb/>Meinung geht auch dahin, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> Sie gerade auch
<lb/>in <placeName key="E0500219">Genf</placeName> eine große T<orig>h</orig>at mit Ihrem Erscheinen
<lb/>erfüllen würden! <foreign xml:lang="la">Ergo</foreign>!</p>
<p rend="indent-first">Und das Schulen! Auch da
<note type="stamp" place="margin-left" resp="#dsb_st_red" sameAs="#dsb_st">
<stamp rend="round border align(center) small">Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
<lb/>hätten wir Sie nöt<orig>h</orig>ig! Sie sollten
<lb/>alle Monate nur <hi rend="underline">einen</hi> Tag zur
<lb/>Pädagogik herauslesen. Wir würden
<lb/>Ihnen <del rend="strikethrough">nur</del> einige begabte Schüler
<lb/>zuschicken, denen Sie mit Ihrem
<lb/>Rat<orig>h</orig>e beistehen kö<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>ten. <choice><orig>Ue</orig><reg>Ü</reg></choice>berlegen
<lb/>Sie sich den <foreign xml:lang="la" rend="latin">modus <soCalled rend="dq-du">practicandi</soCalled></foreign>!</p>
<p type="pre-split" rend="indent-first">Ihre <persName key="E0300137">Chopin</persName><choice><orig>z</orig><reg>-Z</reg></choice>eilen wirken
<lb/>für die <choice><orig>M</orig><reg>m</reg></choice>eisten wie eine Offenbarung!
<lb/>Auch in diesen Offenbarungen hätten
</p></div>
|
4Facsimile
|
4Diplomatic transcription
|
4XML
|
|
Sie in der Schweiz den möglichst-dankbarsten
Boden! –
Und jetzt wünsche ich Ihnen blauen
Him̅el & gute Menschen jenseits
des Gotthard & vergeßen Sie die
„Nördlichen“ nicht
Ihr herzlich ergebener
Huber
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p rend="indent-first" type="split">
<lb/>Sie in der <placeName key="E0500092">Schweiz</placeName> den möglichst-dankbarsten
<lb/>Boden! –</p>
<p>Und jetzt wünsche ich Ihnen blauen
<lb/>Hi<choice><abbr>m̅</abbr><expan>mm</expan></choice>el <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> gute Menschen jenseits
<lb/>des <placeName key="E0500336">Gotthard</placeName><reg>,</reg> <choice><abbr>&</abbr><expan>und</expan></choice> verge<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice>en Sie die
<lb/><soCalled rend="dq-du">Nördlichen</soCalled> nicht<reg>.</reg>
</p>
<closer>
<salute rend="align(right)">Ihr herzlich ergebener</salute>
<signed rend="align(right)"><persName key="E0300125">Huber</persName></signed>
</closer>
</div>
|
5Facsimile
|
5Diplomatic transcription
|
5XML
|
|
Basel 1
-3.V.16–9
Briefaufgabe
|
<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" place="top-right" resp="#post">
<stamp rend="round border majuscule align(center)" xml:id="post_abs">
<placeName key="E0500097">Basel</placeName> 1
<lb/>-<date when-iso="1916-05-03">3.V.16</date>–9
<lb/>Briefaufgabe
</stamp>
</note>
<address xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0">
<addrLine rend="align(center)">Herrn <persName key="E0300017">Ferruccio Busoni</persName></addrLine>
<note type="stamp" place="center" resp="#dsb_st_red">
<stamp rend="round border align(center) small">Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
<note type="stamp" place="bottom-left" resp="#post">
<stamp rend="round border majuscule align(center) rotate(180)" sameAs="#post_abs">
<placeName key="E0500097">Basel</placeName> 1
<lb/>-<date when-iso="1916-05-03">3.V.16</date>–9
<lb/>Briefaufgabe
</stamp>
</note>
<note type="stamp" place="bottom-left" resp="#post">
<stamp rend="round border majuscule align(center) rotate(180)" sameAs="#post_abs">
<placeName key="E0500097">Basel</placeName> 1
<lb/>-<date when-iso="1916-05-03">3.V.16</date>–9
<lb/>Briefaufgabe
</stamp>
</note>
<addrLine><placeName key="E0500132" rend="underline">Zürich</placeName></addrLine>
<addrLine><placeName key="E0500189">Scheuchzerstr. 36</placeName>.</addrLine>
</address>
|
6Facsimile
|
6Diplomatic transcription
|
6XML
|
|
Huber
Mus.ep. H. Huber 36 Mus.Nachl. F. Busoni
B II, 2263-Beil.
Hans
Hans Hans
|
<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="annotation" place="top-center" resp="#recipient">Huber</note>
<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" place="center" resp="#sbb_st_blue">
<stamp>Nachlaß Busoni <handShift new="#archive_red"/>B II</stamp>
</note>
<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="shelfmark" resp="#archive" place="center">
<subst resp="#archive3"><del rend="strikethrough">Mus.ep. H. Huber 36</del><add place="below">Mus.Nachl. F. Busoni<lb/>
B II, 2263-Beil.</add></subst>
</note>
<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="annotation" resp="#unknown_hand" place="left" rend="rotate(-90) large">Hans</note>
<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" place="right" resp="#post">
<stamp rend="round border majuscule align(center)" xml:id="post_rec">
<placeName key="E0500132">Zürich</placeName>
<lb/>-<date when-iso="1916-05-03">3.V.16</date>-12
<lb/>Brf. Exp.
</stamp>
</note>
<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="annotation" resp="#unknown_hand" place="center" rend="rotate(180) large">Hans<lb/>Hans</note>
|