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Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4269
Mus.ep. L. Rubiner 10 (Busoni-Nachl. B II)
[1]
Lieber und verehrter
Herr Busoni!
Ich bin sehr glücklich über
Ihre Einladung, den Schluss
Von Busonis Doktor Faust.
kennen lernen zu dürfen.
Dass hier irgendwo meine
Anregung sei, kann ich
natürlich nicht acceptieren;
erstens aus persönlichen
Gründen nicht, und dann
auch aus sachlichen: die
Schlussidee,
Dem handschriftlichem Libretto zu Doktor Faust lässt sich entnehmen,
dass Busoni u. a. die letzten Worte seines
Titelhelden noch zweimal modifiziert hat: von „[…] ich, Faust, ein ewiger Begriff“
zu „ein ewiger Geist“ und schließlich zu „ein ewiger Wille“.
(Beaumont 1985, Abb. 41, Datumsangabe auf der letzten
Manuskript-Seite: 4. Oktober 1917) Die erwähnte
„Schlussidee“ bezieht sich sehr wahrscheinlich auf diese letzte Änderung
des Schlussmonologs und geht auf den Einfluss Rubiners zurück.
„Wille“ ist ein zentraler Begriff in dessen Drama
Die Gewaltlosen, welches er 1917/18
im Schweizer Exil verfasste. Die Grundidee dieses Werkes besagt, dass
der menschliche Wille allein, ohne jedwede Anwendung von Gewalt, stärker ist als alle Macht. Im
Oktober 1918 wurde das Libretto
in dieser Gestalt in den Weißen Blättern zuerst veröffentlicht.
(vgl. auch Rubiners Brief an
Busoni vom 1. Oktober 1918)
von der Sie mir
sprachen liegt zu tief
in der Linie Ihres ganzen
Werkes und Ihrer Persönlich⸗ keit begründet, als dass
selbst eine Anregung zulässig
|
Lieber und verehrter
Herr Busoni!
Ich bin sehr glücklich über
Ihre Einladung, den Schluss
Von Busonis Doktor Faust.
kennen lernen zu dürfen.
Dass hier irgendwo meine
Anregung sei, kann ich
natürlich nicht akzeptieren;
erstens aus persönlichen
Gründen nicht, und dann
auch aus sachlichen: die
Schlussidee,
Dem handschriftlichem Libretto zu Doktor Faust lässt sich entnehmen,
dass Busoni u. a. die letzten Worte seines
Titelhelden noch zweimal modifiziert hat: von „[…] ich, Faust, ein ewiger Begriff“
zu „ein ewiger Geist“ und schließlich zu „ein ewiger Wille“.
(Beaumont 1985, Abb. 41, Datumsangabe auf der letzten
Manuskript-Seite: 4. Oktober 1917) Die erwähnte
„Schlussidee“ bezieht sich sehr wahrscheinlich auf diese letzte Änderung
des Schlussmonologs und geht auf den Einfluss Rubiners zurück.
„Wille“ ist ein zentraler Begriff in dessen Drama
Die Gewaltlosen, welches er 1917/18
im Schweizer Exil verfasste. Die Grundidee dieses Werkes besagt, dass
der menschliche Wille allein, ohne jedwede Anwendung von Gewalt, stärker ist als alle Macht. Im
Oktober 1918 wurde das Libretto
in dieser Gestalt in den Weißen Blättern zuerst veröffentlicht.
(vgl. auch Rubiners Brief an
Busoni vom 1. Oktober 1918)
von der Sie mir
sprachen, liegt zu tief
in der Linie Ihres ganzen
Werkes und Ihrer Persönlichkeit begründet, als dass
selbst eine Anregung zulässig
wäre. – Und wenn sich die
Gespräche von meiner Seite
wirklich „streng“ abgespielt
haben sollten, so wäre ich nur
tief beschämt. – Etwas ganz anderes ist es natürlich, dass
ich in einem so wichtigen
Moment Ihres Lebens, bei einer
so wichtigen Stelle Ihres Werkes
– mit Ihrer Erlaubnis (und das
ist keine Floskel) –, Ihnen
rückhaltlos Auskunft über
meine visuellen und geistigen
Vorstellungen gebe. Täte ich
das nicht, so würde ich
von mir glauben müssen,
dass ich der freundschaftlichen
Neigung, mit der Sie mich so
sehr erfreuen – und erquicken! –,
nicht würdig wäre. – Ja, es
ist im Gegenteile sogar so,
dass ein Mensch, der ganz
oben auf der Spitze steht,
und ein Werk, dessen Konzeption
wirklich menschheitumfassend
ist, mich zu Bekenntnissen
der Wahrheit treibt, die absolut
sind, und sogar – in der
Hitze der Liebe! – momentweise
der geselligen Art ermangeln
können.
Natürlich heißt mir „Wahrheit“
nie: Kritik, oder Ansicht, oder
Meinung – welche alle drei ich
für Unfug halte, sondern die
Darlegung und innere Weiterausbildung des geistigen Organismus, den eine Schöpfung hervorbringt.
Daher kann man bei großen
Werken nie höflich sein. (Bei
kleinen nichts als das.) Eine
große Schöpfung ist so sehr
ein lebendiges Wesen, das der
Liebende bei ihrer Enthüllung
oft wahrnimmt: hier ist ein
Glied verborgen – oft nur
noch verhüllt; und je mehr
er liebt, umso hitziger wird
er die Befreiung des geliebten
Wesens von den verhüllenden
Tüchern erbitten. Und er bittet
so lange, bis ihm der Körper
ganz gezeigt wird.
So ging es mir mit Ihrem
Werk. – Und nun möchte ich
recht bald zu Ihnen kommen
und den Schluss hören!
—
Nun eine ganz andere
persönliche Sache.
Mein Freund, der Maler
John Philipp (ich sagte Ihnen,
glaube ich, dass er ein alter
persönlicher Freund von mir
ist), den ich ermuntert
habe, zu Ihnen zu gehen
und Sie zu bitten, ihm zu
sitzen – (denn seine Porträts
sind von der außerordentlichsten, vibrierendsten Natur-Ähnlichkeit, und ich hätte
es schön gefunden, wenn er
das Ihre in ganz Deutschland
ausgestellt hätte) –,
Es ist kein Porträt Busonis von Philipp
überliefert; bekannte Bildnisse stammen von Umberto Boccioni und
Max Oppenheimer.
kam zu
mir und musste sich beklagen.
Er war am vergangenen
October 3, 1917Mittwoch bei Ihnen gewesen,
wurde an der Tür empfangen,
und draußen an der Tür
abgefertigt und fortgeschickt
„wie ein Schuster“. Ich bin
überzeugt, dass Sie davon keine
Ahnung haben, weder Sie noch
Frau Gerda. Denn bei Ihnen wird
ja nicht einmal ein Schuster wie
ein Schuster abgefertigt. Nun
fühlte der Prof. Philipp sich
furchtbar gekränkt, er war
völlig deprimiert und kam
sich geradezu geohrfeigt vor. Denn
wenn wir, er und ich, auch
mitnichten am selben Strang
der Kunstrichtung ziehen,
Rubiner bezieht sich vermutlich auf die unterschiedlichen Strömungen, denen
die Künstler angehören. Philipps zum großen Teil aus
Porträts bestehendes Œuvre umfasst – wie im Brief angedeutet – Bilder, die dem Naturalismus
zuzuordnen sind, wohingegen der Literat Rubiner ein Vertreter des Expressionismus ist.
so
muss ich doch auch heute noch
sagen, dass der Mann ein wirklicher Künstler ist; und die
Stimmungsart des Künstlers
in ihm fühlte sich natürlich
besonders gekränkt und beleidigt –
, gerade weil Sie ihn einmal
schon sehr liebenswürdig
empfangen hatten. So war er
also davon überzeugt, dass
jene Zurückweisung und
die Art der Zurückweisung
ganz besonders seine Person
treffen sollte. – Ein ganz klein
wenig von dieser Kränkung
spüre ich am eigenen Leibe
mit. (Obwohl seine Auffassung natürlich
subjektiv und gewiss irrig ist.)
Es ist für mich aber als
ganz selbstverständlich
klar, dass Sie natürlich
diese Wirkung niemals
beabsichtigt haben. Und dass
Sie selbst gar nichts von
ihr ahnen. – Ich kann
mir ja auch niemanden
in der Welt denken, dem
es ferner läge als Ihnen,
einen Menschen zu verletzen.
Und diese Worte, die von
Ihrer Güte überzeugt sind,
meine ich genauso buchstäblich,
wie ich sie hier niederschrieb.
Ich glaube nun, Sie würden
eine große Linderung für die
Würde meines Freundes Philipp
schaffen, wenn Sie ihm ein
einziges persönliches Wort zukommen ließen.
Ein solches Schreiben konnte nicht ermittelt werden; im Busoni-Nachlass ist kein
Briefwechsel mit Philipp überliefert.
Und mit dieser
kleinen Freundlichkeit würden
Sie auch – wenn ich das
unumwunden sagen darf –
auch mich sehr erfreuen und
beruhigen.
Das ist natürlich noch lange
etwas anderes, als gemalt werden.
Aber das Wörtchen, das so unverbindlich einen so tiefen (und von Ihnen
so unbeabsichtigten) Depressionszustand heilen kann, wäre doch
schön.
Mit den herzlichsten
Grüßen in freundschaftlicher
Verehrung
Ihr Ludwig Rubiner.
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Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4269
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<lb/>Ihre Einladung, den Schluss
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Von <persName key="E0300017">Busonis</persName> <title key="E0400218">Doktor Faust</title>.
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<lb/>kennen lernen zu dürfen.
<lb/>Dass hier irgendwo meine
<lb/>Anregung sei, kann ich
<lb/>natürlich nicht a<choice><orig>cc</orig><reg>kz</reg></choice>eptieren;
<lb/>erstens aus persönlichen
<lb/>Gründen nicht, und dann
<lb/>auch aus sachlichen: die
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Dem handschriftlichem Libretto zu <title key="E0400218">Doktor Faust</title> lässt sich entnehmen,
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zu <q>ein ewiger Geist</q> und schließlich zu <q>ein ewiger Wille</q>.
<bibl>(<ref target="#E0800137"/>, Abb. 41, Datumsangabe auf der letzten
Manuskript-Seite: <date when-iso="1917-10-04">4. Oktober 1917</date>)</bibl> Die erwähnte
<q>Schlussidee</q> bezieht sich sehr wahrscheinlich auf diese letzte Änderung
des Schlussmonologs und geht auf den Einfluss <persName key="E0300126">Rubiners</persName> zurück.
<mentioned rend="dq-du">Wille</mentioned> ist ein zentraler Begriff in dessen Drama
<title key="E0400316">Die Gewaltlosen</title>, welches er <date from-iso="1917" to-iso="1918">1917/18</date>
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(vgl. auch <persName key="E0300126">Rubiners</persName> <ref target="#D0100330">Brief</ref> an
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von der Sie mir
<lb/>sprachen<reg>,</reg> liegt zu tief
<lb/>in der Linie Ihres ganzen
<lb/>Werkes und Ihrer Persönlich
<lb break="no"/>keit begründet, als dass
<lb/>selbst eine Anregung zulässig
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wäre. – Und wenn sich die
Gespräche von meiner Seite
wirklich „streng“ abgespielt
haben sollten, so wäre ich nur
tief beschämt. – Etwas ganz ande⸗ res ist es natürlich, dass
ich in einem so wichtigen
Moment Ihres Lebens, bei einer
so wichtigen Stelle Ihres Werkes
– mit Ihrer Erlaubnis (und das
ist keine Floskel) – Ihnen
rückhaltlos Auskunft über
meine visuellen und geistigen
Vorstellungen gebe. Täte ich
das nicht, so würde ich
von mir glauben müssen,
dass ich der freundschaftlichen
Neigung, mit der Sie mich so
sehr erfreuen – und erquicken! –,
nicht würdig wäre. – Ja, es
ist, im Gegenteile sogar so,
|
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wäre. – Und wenn sich die
<lb/>Gespräche von meiner Seite
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<lb/>haben sollten, so wäre ich nur
<lb/>tief beschämt. – Etwas ganz ande
<lb break="no"/>res ist es natürlich, dass
<lb/>ich in einem so wichtigen
<lb/>Moment Ihres Lebens, bei einer
<lb/>so wichtigen Stelle Ihres Werkes
<lb/>– mit Ihrer Erlaubnis (und das
<lb/>ist keine Floskel) –<reg>,</reg> Ihnen
<lb/>rückhaltlos Auskunft über
<lb/>meine visuellen und geistigen
<lb/>Vorstellungen gebe. Täte ich
<lb/>das nicht, so würde ich
<lb/>von mir glauben müssen,
<lb/>dass ich der freundschaftlichen
<lb/>Neigung, mit der Sie mich so
<lb/>sehr erfreuen – und erquicken! –,
<lb/>nicht würdig wäre. – Ja, es
<lb/>ist<choice><orig>, </orig><reg> </reg></choice>im Gegenteile sogar so,
</p></div>
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B II, 4269 3
dass ein Mensch, der ganz
oben auf der Spitze steht,
und ein Werk, dessen Conception
wirklich menschheitumfassend
ist, mich zu Bekenntnissen
der Wahrheit treibt, die absolut
sind, und sogar – in der
Hitze der Liebe! – momentweise
der geselligen Art ermangeln
können.
Natürlich heisst mir „Wahrheit“
nie: Kritik, oder Ansicht, oder
Meinung – welche alle drei ich
für Unfug halte. Sondern die
Darlegung und innere Weiter⸗ ausbildung des geistigen Organis⸗ mus, den eine Schöpfung her⸗ vorbringt.
Daher kann man bei grossen
Werken nie höflich sein. (Bei
kleinen nichts als das.) Eine
grosse Schöpfung ist so sehr
|
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dass ein Mensch, der ganz
<lb/>oben auf der Spitze steht,
<lb/>und ein Werk, dessen <choice><orig>Conc</orig><reg>Konz</reg></choice>eption
<lb/>wirklich menschheitumfassend
<lb/>ist, mich zu Bekenntnissen
<lb/>der Wahrheit treibt, die absolut
<lb/>sind, und sogar – in der
<lb/>Hitze der Liebe! – momentweise
<lb/>der geselligen Art ermangeln
<lb/>können.</p>
<p>Natürlich hei<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>t mir <mentioned rend="dq-du">Wahrheit</mentioned>
<lb/>nie: Kritik, oder Ansicht, oder
<lb/>Meinung – welche alle drei ich
<lb/>für Unfug halte<choice><orig>. S</orig><reg>, s</reg></choice>ondern die
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<lb break="no"/>ausbildung des geistigen Organis
<lb break="no"/>mus, den eine Schöpfung her
<lb break="no"/>vorbringt.</p>
<p type="pre-split">Daher kann man bei gro<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en
<lb/>Werken nie höflich sein. (Bei
<lb/>kleinen nichts als das.) Eine
<lb/>gro<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>e Schöpfung ist so sehr
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4
ein lebendiges Wesen, dass der
Liebende bei ihrer Enthüllung
oft wahrnimmt: hier ist ein
Glied verborgen – oft nur
noch verhüllt; und je mehr
er liebt, umso hitziger wird
er die Befreiung des geliebten
Wesens von den verhüllenden
Tüchern erbitten. Und er bittet
so lange, bis ihm der Körper
ganz gezeigt wird.
So ging es mir mit Ihrem
Werk. – Und nun möchte ich
recht bald zu Ihnen kommen
und den Schluss hören!
—
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Nun eine ganz andere
persönliche Sache.
Mein Freund, der Maler
John Philipp (ich sagte Ihnen,
glaube ich, dass er ein alter
|
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ein lebendiges Wesen, da<choice><sic>ss</sic><corr>s</corr></choice> der
<lb/>Liebende bei ihrer Enthüllung
<lb/>oft wahrnimmt: hier ist ein
<lb/>Glied verborgen – oft nur
<lb/>noch verhüllt; und je mehr
<lb/>er liebt, umso hitziger wird
<lb/>er die Befreiung des geliebten
<lb/>Wesens von den verhüllenden
<lb/>Tüchern erbitten. Und er bittet
<lb/>so lange, bis ihm der Körper
<lb/>ganz gezeigt wird.</p>
<p>So ging es mir mit Ihrem
<lb/>Werk. – Und nun möchte ich
<lb/>recht bald zu Ihnen kommen
<lb/>und den Schluss hören!
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<lb/>Staatsbibliothek
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<p rend="indent-first">Nun eine ganz andere
<lb/>persönliche Sache.</p>
<p type="pre-split">Mein Freund, der Maler
<lb/><persName key="E0300339">John Philipp</persName> (ich sagte Ihnen,
<lb/>glaube ich, dass er ein alter
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B II, 4269 5
persönlicher Freund von mir
ist), den ich ermuntert
habe, zu Ihnen zu gehen,
und Sie zu bitten, ihm zu
sitzen (Denn seine Porträts
sind von der ausserordentlich⸗ sten, vibrierendsten Natur-
Ähnlichkeit, und ich hätte
es schön gefunden, wenn er
das Ihre in ganz Deutschland
ausgestellt hätte) –
Es ist kein Porträt Busonis von Philipp
überliefert; bekannte Bildnisse stammen von Umberto Boccioni und
Max Oppenheimer.
kam zu
mir und musste sich beklagen.
Er war am vergangenen
October 3, 1917Mittwoch bei Ihnen gewesen,
wurde an der Tür empfangen,
und draussen an der Tür
abgefertigt und fortgeschickt
„wie ein Schuster“. Ich bin
überzeugt, dass Sie davon keine
Ahnung haben, weder Sie noch
|
<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split"><p type="split">
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persönlicher Freund von mir
<lb/>ist), den <hi rend="underline">ich</hi> ermuntert
<lb/>habe, zu Ihnen zu gehen<orig>,</orig>
<lb/>und Sie zu bitten, ihm zu
<lb/>sitzen <choice><orig>(D</orig><reg>– (d</reg></choice>enn seine Porträts
<lb/>sind von der au<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>erordentlich
<lb break="no"/>sten, vibrierendsten Natur-
<lb break="no"/>Ähnlichkeit, und ich hätte
<lb/>es schön gefunden, wenn er
<lb/>das Ihre in ganz <placeName key="E0500015">Deutschland</placeName>
<lb/>ausgestellt hätte) –<choice><orig> </orig><reg>, </reg></choice>
<note type="commentary" resp="#E0300361">
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</note>
kam zu
<lb/>mir und musste sich beklagen.
<lb/>Er war am vergangenen
<lb/><date when-iso="1917-10-03">Mittwoch</date> bei Ihnen gewesen,
<lb/>wurde an der Tür empfangen,
<lb/>und drau<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en an der Tür
<lb/>abgefertigt und fortgeschickt
<lb/><soCalled rend="dq-du">wie ein Schuster</soCalled>. Ich bin
<lb/>überzeugt, dass Sie davon keine
<lb/>Ahnung haben, weder Sie noch
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6
Frau Gerda. Denn bei Ihnen wird
ja nicht einmal ein Schuster wie
ein Schuster abgefertigt. Nun
fühlte der Prof. Philipp sich
furchtbar gekränkt, er war
völlig deprimiert und kam
sich geradezu geohrfeigt vor. Denn
transcription uncertain:
ink blot.
,
wenn wir, er und ich, auch
mitnichten am selben Strang
der Kunstrichtung ziehen,
Rubiner bezieht sich vermutlich auf die unterschiedlichen Strömungen, denen
die Künstler angehören. Philipps zum großen Teil aus
Porträts bestehendes Œuvre umfasst – wie im Brief angedeutet – Bilder, die dem Naturalismus
zuzuordnen sind, wohingegen der Literat Rubiner ein Vertreter des Expressionismus ist.
so
muss ich doch auch heute noch
sagen, dass der Mann ein wirkli⸗ cher Künstler ist; und die
Stimmungsart des Künstlers
in ihm fühlte sich natürlich
besonders gekränkt und beleidigt –
– gerade weil sSie ihn einmal
schon sehr liebenswürdig
empfangen hatten. So war er
also davon überzeugt, dass
jene Zurückweisung und
die Art der Zurückweisung
|
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zuzuordnen sind, wohingegen der Literat <persName key="E0300126">Rubiner</persName> ein Vertreter des Expressionismus ist.
</note>
so
<lb/>muss <add place="above" rend="tiny">ich</add> doch auch heute noch
<lb/>sagen, dass der Mann ein wirkli
<lb break="no"/>cher Künstler ist; und die
<lb/>Stimmungsart des Künstlers
<lb/>in ihm fühlte sich natürlich
<lb/>besonders gekränkt und beleidigt –
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<lb/>empfangen hatten. So war er
<lb/>also davon überzeugt, dass
<lb/>jene Zurückweisung und
<lb/>die Art der Zurückweisung
</p></div>
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7Facsimile
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7Diplomatic transcription
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7XML
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B II, 4269 7
ganz besonders seine Person
treffen sollte. – Ein ganz klein
wenig von dieser Kränkung
spüre ich am eigenen Leibe
mit. (Obwohl seine Auffassung natürlich
subjektiv und gewiss irrig ist.)
Es ist für mich aber, als
ganz selbstverständlich,
klar, dass Sie natürlich
diese Wirkung niemals
beabsichtigt haben. Und dass
Sie selbst garnichts von
ihr ahnen. – Ich kann
mir ja auch niemanden
in der Welt denken, dem
es ferner läge als Ihnen,
einen Menschen zu verletzen.
Und diese Worte, die von
Ihrer Güte überzeugt sind,
meine ich genau so buchstäblich
wie ich sie hier niederschrieb.
|
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ganz besonders seine Person
<lb/>treffen sollte. – Ein ganz klein
<lb/>wenig von dieser Kränkung
<lb/>spüre ich am eigenen Leibe
<lb/>mit. <add place="inline" rend="small">(Obwohl seine Auffassung natürlich
<lb/><seg rend="align(center)">subjektiv und gewiss irrig ist.)</seg></add></p>
<p>Es ist für mich aber<orig>,</orig> als
<lb/>ganz selbstverständlich<orig>,</orig>
<lb/>klar, dass Sie natürlich
<lb/>diese Wirkung niemals
<lb/>beabsichtigt haben. Und dass
<lb/>Sie selbst gar<reg> </reg>nichts von
<lb/>ihr ahnen. – Ich kann
<lb/>mir ja auch niemanden
<lb/>in der Welt denken, dem
<lb/>es ferner läge als Ihnen,
<lb/>einen Menschen zu verletzen.
<lb/>Und diese Worte, die von
<lb/>Ihrer Güte überzeugt sind,
<lb/>meine ich genau<orig> </orig>so buchstäblich<reg>, </reg>
<lb/>wie ich sie hier niederschrieb.</p>
</div>
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8Facsimile
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8Diplomatic transcription
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8
Ich glaube nun, Sie würden
eine grosse Linderung für die
Würde meines Freundes Philipp
schaffen, wenn Sie ihm ein
einziges persönliches Wort zu- kommen liessen.
Ein solches Schreiben konnte nicht ermittelt werden; im Busoni-Nachlass ist kein
Briefwechsel mit Philipp überliefert.
Und mit dieser
kleinen Freundlichkeit würden
Sie auch – wenn ich das
unumwunden sagen darf –
auch mich sehr erfreuen und
beruhigen.
Das ist natürlich noch lange
etwas anderes, als gemalt werden.
Aber das Wörtchen, das so unver⸗ bindlich einen so tiefen (und von Ihnen
so unbeabsichtigten) Depressions⸗ zustand heilen kann, wäre doch
schön.
Mit den herzlichsten
Grüssen in freundschaftlicher
Verehrung
Ihr Ludwig Rubiner.
|
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<p>Ich glaube nun, Sie würden
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<lb/>Würde meines Freundes <persName key="E0300339">Philipp</persName>
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<note type="commentary" resp="#E0300361">
Ein solches Schreiben konnte nicht ermittelt werden; im <persName key="E0300017">Busoni</persName>-Nachlass ist kein
Briefwechsel mit <persName key="E0300339">Philipp</persName> überliefert.
</note>
Und mit dieser
<lb/>kleinen Freundlichkeit würden
<lb/>Sie auch – wenn ich das
<lb/>unumwunden sagen darf –
<lb/>auch mich sehr erfreuen und
<lb/>beruhigen.</p>
<p>Das ist natürlich noch lange
<lb/>etwas anderes, als gemalt werden.
<lb/>Aber das Wörtchen, das so unver
<lb break="no"/>bindlich einen so tiefen (und von Ihnen
<lb/>so unbeabsichtigten) Depressions
<lb break="no"/>zustand heilen kann, wäre doch
<lb/>schön.</p>
<closer>
<salute rend="indent-first">Mit den herzlichsten
<lb/>Grü<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en in freundschaftlicher
<lb/>Verehrung
</salute>
<signed rend="margin-right">Ihr <persName key="E0300126">Ludwig Rubiner</persName>.</signed>
</closer>
</div>
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9Facsimile
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9Diplomatic transcription
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9XML
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[Rückseite von Textseite 1]
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
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<note type="objdesc" resp="#E0300361">[Rückseite von Textseite 1]</note>
<note type="stamp" place="top-center" resp="#dsb_st_red">
<stamp rend="round border small align(center)">Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
</div>
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10Facsimile
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10Diplomatic transcription
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10XML
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[Rückseite von Textseite 2, vacat]
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<note type="objdesc" resp="#E0300361">[Rückseite von Textseite 2, vacat]</note>
</div>
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11Facsimile
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11Diplomatic transcription
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11XML
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[Rückseite von Textseite 3, vacat]
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12Facsimile
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12Diplomatic transcription
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[Rückseite von Textseite 4, vacat]
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13Facsimile
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13Diplomatic transcription
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13XML
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[Rückseite von Textseite 5]
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
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<note type="objdesc" resp="#E0300361">[Rückseite von Textseite 5]</note>
<note type="stamp" place="bottom-center" resp="#dsb_st_red">
<stamp rend="round border small align(center)">Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
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14Facsimile
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14Diplomatic transcription
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[Rückseite von Textseite 6, vacat]
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15Facsimile
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15Diplomatic transcription
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[Rückseite von Textseite 7]
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
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<note type="objdesc" resp="#E0300361">[Rückseite von Textseite 7]</note>
<note type="stamp" place="bottom-center" resp="#dsb_st_red">
<stamp rend="round border small align(center)">Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
</div>
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16Facsimile
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16Diplomatic transcription
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[Rückseite von Textseite 8]
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
7.10. 1917
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<div xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="split">
<note type="objdesc" resp="#E0300361">[Rückseite von Textseite 8]</note>
<note type="stamp" place="top-center" resp="#dsb_st_red">
<stamp rend="round border small align(center)">Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
<note type="dating" place="bottom-center" resp="#archive_2">
<date when-iso="1917-10-07">7.10. 1917</date>
</note>
</div>
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17Facsimile
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17Diplomatic transcription
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<address xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0">
<addrLine>Herrn</addrLine>
<addrLine><persName key="E0300017">Prof. Ferruccio Busoni</persName></addrLine>
<addrLine rend="align(right) underline"><placeName key="E0500132">Zürich VI</placeName></addrLine>
<addrLine rend="align(right)"><placeName key="E0500189">Scheuchzerstr. 36<orig>.</orig></placeName></addrLine>
</address>
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18Facsimile
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18Diplomatic transcription
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Rubiner
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Mus.ep. L. Rubiner 10 Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4269-Beil.
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<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="annotation" place="bottom-center" rend="large" resp="#recipient">Rubiner</note>
<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" place="bottom-center" rend="small" resp="#sbb_st_blue">
<del rend="strikethrough">Nachlaß Busoni<handShift new="#archive_red"/> B II</del>
</note>
<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" place="bottom-left" resp="#dsb_st_red">
<stamp rend="round border align(center) tiny">Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="shelfmark" place="right-of" resp="#archive">
<subst><del rend="strikethrough">Mus.ep. L. Rubiner 10</del><add place="below">Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4269-Beil.</add></subst>
</note>
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