Lieber Freund! Ohne ein
Wort der Erwiederung will
ich Ihren Brief doch nicht
lassen, wäre es auch nur
um meinem Bedauern Ausdruck
zu geben, dass Ihre
“Selbst-Auslassung” nicht
länger ausgefallen. Den̅
Alles was Sie denken u.
empfinden, interessirt mich
und am Meisten wenn
wir nicht vollständig
harmoniren., Übrigens deckt si wie im Falle
Brahms. Übrigens deckt
sich Ihre Ansicht (wen̅
Sie das „Deutschthum“
Ohne ein
Wort der Erwiderung will
ich Ihren Brief doch nicht
lassen, wäre es auch nur,
um meinem Bedauern Ausdruck
zu geben, dass Ihre
„Selbst-Auslassung“ nicht
länger ausgefallen. Denn
alles, was Sie denken und
empfinden, interessiert mich,
und am meisten, wenn
wir nicht vollständig
harmonieren,
wie im Falle
Brahms. Übrigens deckt
sich Ihre Ansicht (wenn
Sie das „Deutschtum“
fortlassen) mit derjenigen von Richard
Strauss, wenn Sie es auch in etwas
anderen Worten sagen. Gewiss ist,
dass Brahms nach neuen Formen gesucht
hätte, wenn er nicht in den Beethoven’schen
Formen das zum Ausdruck hätte
bringen können, was er eben zu sagen
hatte. Ich glaube also, dass Ihnen eigentlich
der Inhalt unsympathisch ist und nicht die
traditionelle „Form“. Und das ist (nämlich der Inhalt)
doch in jeder Kunst das Eigentlichste und
Höchste, und der ist Gefühlssache. Da würde
alles Diskutieren nichts nützen, da Sie
eben anders empfinden. Aber interessieren
würde es mich einmal, diese
„Materie“ – wie Goethe-Schiller
sagen würden – mit Ihnen
durchzusprechen, um Ihre
Meinung tout au longFrz.: in voller Länge, lang und breit.
zu hören. – Zu einem
schriftlichen Salbadern ist
Ihre Zeit aber zu kostbar, und wir (d. h. ich und
noch einige andere) ziehen
Ihre Brautwahl Ihren
schönsten theroretischen Erörterungen vor; denn diese sind
doch immer grau, und jeder wirkliche Künstler desavouiert sie
häufig im Schaffen, da
die Inspiration sich um
keine Theorien kümmert und
alles „hohe“ Produzieren unbewusst geschieht. Verzeihen
Sie diese Gemeinplätze,
sie fließen unwillkürlich in
die Feder. Also lassen
Sie uns nicht zu lange
warten, denn auch meine
Zeit ist kostbar, wenn
auch in anderem Sinne.
Nähert man sich den
Sechzigen, so hat man
nicht mehr viel Zeit
zu verlieren. –
Von meiner Frau alles
Schöne, und ich bin und
bleibe
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2Facsimile
2Diplomatic transcription
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2)
fortlassen) mit derjenigen von Richard
Strauss, wen̅ Sie es auch in etwas
anderen Worten sagen. Gewiss ist,
dass Brahms nach neuen Formen gesucht
hätte, wen̅ er nicht in den Beethoven-schen Formen dass zum Ausdruck hätte
bringen kön̅en was er eben zu sagen
hatte. Ich glaube also dass Ihnen eigentlich
der Inhalt unsympathisch ist u. nicht die
traditionelle „Form“. Und das ist wie(nämlich der Inhalt) doch in jeder Kunst das Eigentlichste u.
Höchste, u. der ist Gefühlssache. Da würde
alles Discutiren nichts nützen da Sie
eben anders empfinden. Aber interessiren
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<lb/>eben anders empfinden. Aber interessi<reg>e</reg>ren
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3Diplomatic transcription
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3.
würde es mich einmal diese
“Materie” [–] wie Göthe-Schiller sagen würden – mit Ihnen
durchzusprechen, um Ihre
Meinung tout au longFrz.: in voller Länge, lang und breit. zu hören. – Zu einem
schriftlichen Salbadern ist
Ihre Zeit ebenaber zu kost- bar u. wir (d. h. ich u.
noch einige Andere) ziehen
Ihre Brautwahl Ihren
schönsten theroretischen Erörte- rungen vor; denn diese sind
doch im̅er grau u. jeder wirk- liche Künstler desavouiert sie
häufig im Schaffen, da
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin die Inspiration sich um
keine Theorien küm̅ert u.
alles “hohe” Producieren unbe- wusst geschieht. Verzeihen
Sie diese Gemeinplätze,
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<lb/>Sie diese Gemeinplätze,
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4Facsimile
4Diplomatic transcription
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[2]
sie fliessen unwillkürlich in
die Feder. Also lassen
Sie uns nicht zu lange
warten, den̅ auch meine
Zeit ist kostbar, wen̅
auch imn anderem Sinne.
Nähert man sich den
Sechzigen, so hat man
nicht mehr viel Zeit
zu verlieren. –
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Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 1715 | olim:
Mus.ep. R. Freund 26 (Busoni-Nachl. B II)
|
Freund vermutet hinter Busonis Abneigung gegenüber Brahms den „Inhalt […] und nicht die traditionelle ‚Form‘“; betont das Primat des künstlerischen Schaffens gegenüber der Theorie.
Incipit
“Ohne ein Wort der Erwiderung will ich Ihren Brief doch nicht lassen”
Letter by Robert Freund to Ferruccio Busoni (Zurich, 11 May 1908), prepared by Zaher Alkaei, in: Briefwechsel Ferruccio Busoni – Robert Freund, edited by Christian Schaper and Ullrich Scheideler, Berlin: Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, January 2018: Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, https://busoni-nachlass.org/D0100533 (December 12, 2018: candidate)
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<title xml:lang="de">Brief von Robert Freund an Ferruccio Busoni (Zürich, 11. Mai 1908)</title>
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<handNote xml:id="major_hand" scope="major" medium="black_ink" scribe="author" scribeRef="#E0300208">Hand des Absenders Robert Freund, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.</handNote>
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Hand des Archivars, der die Signaturen mit Bleistift eingetragen sowie eine Foliierung und Datierung vorgenommen hat.
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Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
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<handNote xml:id="dsb_st_red" scope="minor" medium="red_ink" scribe="archivist">Bibliotheksstempel (rote Tinte)</handNote>
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Unbekannte Hand, die auf der Umschlagrückseite die Zuordnung <q>Freund</q> mit Bleistift notiert hat.
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<p>Erfassung von Briefen und Schriften von Ferruccio Busoni, ausgehend von Busonis Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz.</p>
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<p>Worttrennungen an Zeilenumbrüchen im Original mit einfachen Bindestrichen.</p>
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<p>Alle im Text vorkommenden Interpunktionszeichen wurden beibehalten und werden in der diplomatischen Umschrift wiedergegeben. Bei Auszeichnung durch XML-Elemente wurden umgebende Satzzeichen nicht mit einbezogen.</p>
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<p>Anführungszeichen wurden i. d. R. nicht beibehalten; die Art der Zeichen wurde im Attribut <att>rend</att> der entsprechenden Elemente codiert.</p>
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<p>Die Übertragung folgt den Editionsrichtlinien des Projekts. <ptr target="http://www.busoni-nachlass.org/E1000003"/></p>
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<lb/><soCalled rend="dq-uu">Selbst-Auslassung</soCalled> nicht
<lb/>länger ausgefallen. De<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>
<lb/><choice><orig>A</orig><reg>a</reg></choice>lles<reg>,</reg> was Sie denken <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice>
<lb/>empfinden, interessi<reg>e</reg>rt mich<reg>,</reg>
<lb/>und am <choice><orig>M</orig><reg>m</reg></choice>eisten<reg>,</reg> wenn
<lb/>wir nicht vollständig
<lb/>harmoni<reg>e</reg>ren<subst><del rend="overwritten">.</del><add place="across">,</add></subst> <del rend="strikethrough">Übrigens</del>
<lb/><del rend="strikethrough">deckt si</del> wie im Falle
<lb/><persName key="E0300009">Brahms</persName>. Übrigens deckt
<lb/>sich Ihre Ansicht (we<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>
<lb/>Sie das <q rend="dq-du">Deutscht<orig>h</orig>um</q>
<!--<note type="commentary" resp="#E0300365">Busoni hatte Brahms noch persönlich kennengelernt, wurde aber nie Mitglied der Brahmsgruppe um Joseph Joachim und Clara Schumann; er empfand eher Abneigung als Sympathie für diese Gruppe; sie war ihm mit der Welt der kleinen Höfe, Befehle, Titel und Auszeichnungen zu sehr verbunden (vgl. <bibl><ref target="E0800019"/>, S. 103</bibl>).</note> Platzierung genau hier fragwürdig, würde überhaupt eher in D0100532 gehören; sollte evtl. besser mit direktem Dent-Zitat arbeiten -->
<pb n="2"/>
<note type="pagination" place="top-right" resp="#major_hand">2)</note>
fortlassen) mit derjenigen von <persName key="E0300022">Richard
<lb/>Strauss</persName>, we<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice> Sie es auch in etwas
<lb/>anderen Worten sagen. Gewiss ist,
<lb/>dass <persName key="E0300009">Brahms</persName> nach neuen Formen gesucht
<lb/>hätte, we<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice> er nicht in den <persName key="E0300001" type="automated" nymRef="Ludwig van Beethoven">Beethoven</persName><subst><del rend="overwritten">-</del><add place="above"><reg>’</reg>schen</add></subst>
<lb/>Formen das<del rend="strikethrough">s</del> zum Ausdruck hätte
<lb/>bringen kö<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>en<reg>,</reg> was er eben zu sagen
<lb/>hatte. Ich glaube also<reg>,</reg> dass Ihnen eigentlich
<lb/>der Inhalt unsympathisch ist <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> <add place="above">nicht</add> die
<lb/>traditionelle <soCalled rend="dq-du">Form</soCalled>. Und das ist <subst><del rend="strikethrough">wie</del><add place="above">(nämlich der Inhalt)</add></subst>
<lb/><add place="margin-left">doch</add> in jeder Kunst das Eigentlichste <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice>
<lb/>Höchste, <add place="above"><choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice></add> der ist Gefühlssache. Da würde
<lb/>alles Dis<choice><orig>c</orig><reg>k</reg></choice>uti<reg>e</reg>ren nichts nützen<reg>,</reg> da Sie
<lb/>eben anders empfinden. Aber interessi<reg>e</reg>ren
<pb n="3"/>
<note type="pagination" place="top-left" resp="#major_hand">3.</note>
würde es mich einmal<reg>,</reg> diese
<lb/><soCalled rend="dq-uu">Materie</soCalled> <supplied reason="omitted">–</supplied> wie <persName key="E0300124">G<choice><orig>ö</orig><reg>oe</reg></choice>the</persName>-<persName key="E0300197">Schiller</persName>
<lb/>sagen würden – mit Ihnen
<lb/>durchzusprechen, um Ihre
<lb/>Meinung <foreign xml:lang="fr">tout au long</foreign>
<note type="commentary" resp="#E0300365">Frz.: in voller Länge, lang und breit.</note>
<lb/>zu hören. – Zu einem
<lb/>schriftlichen Salbadern ist
<lb/>Ihre Zeit <subst><del rend="overwritten">eben</del><add place="across">aber</add></subst> zu kost
<lb break="no"/>bar<reg>,</reg> <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> wir (d. h. ich <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice>
<lb/>noch einige <choice><orig>A</orig><reg>a</reg></choice>ndere) ziehen
<lb/>Ihre <title key="E0400138">Brautwahl</title> Ihren
<lb/>schönsten theroretischen Erörte
<lb break="no"/>rungen <add place="above">vor</add>; denn diese sind
<lb/>doch i<choice><abbr>m̅</abbr><expan>mm</expan></choice>er grau<reg>,</reg> <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> jeder <add place="inline">wirk</add>
<lb break="no"/><add place="margin-left">liche</add> Künstler desavouiert sie
<lb/>häufig im Schaffen, da
<note type="stamp" place="margin-right" resp="#dsb_st_red" xml:id="dsb_st">
<stamp rend="round border align(center) small">Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
<lb/>die Inspiration sich um
<lb/>keine Theorien kü<choice><abbr>m̅</abbr><expan>mm</expan></choice>ert <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice>
<lb/>alles <soCalled rend="dq-uu">hohe</soCalled> Produ<choice><orig>c</orig><reg>z</reg></choice>ieren unbe
<lb break="no"/>wusst geschieht. Verzeihen
<lb/>Sie diese Gemeinplätze,
<pb n="4"/>
<note type="foliation" resp="#archive" place="top-right">[2]</note>
sie flie<choice><orig>ss</orig><reg>ß</reg></choice>en unwillkürlich in
<lb/>die Feder. Also lassen
<lb/>Sie uns nicht zu lange
<lb/>warten, de<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice> auch meine
<lb/>Zeit ist kostbar, we<choice><abbr>n̅</abbr><expan>nn</expan></choice>
<lb/>auch i<subst><del rend="overwritten">m</del><add place="across">n</add></subst> anderem Sinne.
<lb/>Nähert man sich den
<lb/>Sechzigen, so hat man
<lb/>nicht mehr viel Zeit
<lb/>zu verlieren. –</p>
<p>Von <rs key="E0300434">meiner Frau</rs> <choice><orig>A</orig><reg>a</reg></choice>lles
<lb/>Schöne<reg>,</reg> <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice> ich bin <choice><abbr>u.</abbr><expan>und</expan></choice>
<lb/>bleibe</p>
<closer rend="align(right)">
<salute>Ihr herzlich ergebener</salute>
<signed><persName key="E0300208">R. Freund</persName></signed>
</closer>
<note type="stamp" place="margin-left" resp="#dsb_st_red" sameAs="#dsb_st">
<stamp rend="round border align(center) small">Deutsche
<lb/>Staatsbibliothek
<lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName>
</stamp>
</note>
</div>
</body>
</text>
</TEI>