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Mus.Nachl. F. Busoni B II, 1728
Mus.ep. R. Freund 39 (Busoni-Nachl. B II)
[1]
25/10 [1913 od. 14]
Der Brief stammt mit großer Sicherheit aus dem Jahr 1912. (vgl. dritte Anmerkung)
Lieber Freund! Ihre reiche
Sendung
Es ist nicht überliefert, welche Beilagen dieser Brief hatte. Vmtl. handelte es sich um die nachfolgend kommentierten Werke, also Erstausgaben der
Sonatina seconda (Busoni hatte die 2. , entgültige
Fassung am 08.07.1912 fertiggestellt), der Edizione
minore der Fantasia contrappuntistica und Busonis Vervollständigung
der Lisztschen Figaro-Fantasie (Komposition beendet am
11.07.1912). Alle drei Werke sind 1912 als Einzelausgaben
bei Breitkopf & Härtel im Druck erschienen.
(Kindermann 1980, S. 250 f., 286 ff. und 440)
die mich freudigst
überraschte, wurde mir
hieher nachgeschickt. Ende
September verliess ich nämlich
Zürich u. wohne jetzt hier
mit meinen Schwestern.
Wieso das kam, erzähle ich
Ihnen ein andermal.
Busoni zitiert diesen Satz in einem Brief vom 07.11.1912
an seine Frau Gerda und kommentiert weiter: „Also ist er weg von seiner
Frau. Mit 60 Jahren solche Entschlüße; es muss schon ein starker Grund dazu sein!“
(Busoni/Weindel 2015, Bd. 1, Br. 644, S. 575)
–
Die Sonatine hat mich sofort
gefangen genom̅en. Die so
ungewöhnliche Harmonik
passt eben zu dem fantastisch-
mystischen Charakter des
Stückes u. macht den Eindruck
des Natürlichen, Spontan-
Intuitiven.
Dieser Eindruck, auch in Bezug auf die später erwähnte Fantasia contrappuntistica, war äußerst
nachhaltig. Freund bestätigt ihn noch 10 Jahre später.
(vgl. Brief vom 04.08.1922)
Ich frage mich
|
25. Oktober
Der Brief stammt mit großer Sicherheit aus dem Jahr 1912. (vgl. dritte Anmerkung)
Lieber Freund!
Ihre reiche
Sendung,
Es ist nicht überliefert, welche Beilagen dieser Brief hatte. Vmtl. handelte es sich um die nachfolgend kommentierten Werke, also Erstausgaben der
Sonatina seconda (Busoni hatte die 2. , entgültige
Fassung am 08.07.1912 fertiggestellt), der Edizione
minore der Fantasia contrappuntistica und Busonis Vervollständigung
der Lisztschen Figaro-Fantasie (Komposition beendet am
11.07.1912). Alle drei Werke sind 1912 als Einzelausgaben
bei Breitkopf & Härtel im Druck erschienen.
(Kindermann 1980, S. 250 f., 286 ff. und 440)
die mich freudigst
überraschte, wurde mir
hieher nachgeschickt. Ende
September verließ ich nämlich
Zürich und wohne jetzt hier
mit meinen Schwestern.
Wieso das kam, erzähle ich
Ihnen ein andermal.
Busoni zitiert diesen Satz in einem Brief vom 07.11.1912
an seine Frau Gerda und kommentiert weiter: „Also ist er weg von seiner
Frau. Mit 60 Jahren solche Entschlüße; es muss schon ein starker Grund dazu sein!“
(Busoni/Weindel 2015, Bd. 1, Br. 644, S. 575)
–
Die Sonatine hat mich sofort
gefangen genommen. Die so
ungewöhnliche Harmonik
passt eben zu dem fantastisch-mystischen Charakter des
Stückes und macht den Eindruck
des Natürlichen, Spontan-Intuitiven.
Dieser Eindruck, auch in Bezug auf die später erwähnte Fantasia contrappuntistica, war äußerst
nachhaltig. Freund bestätigt ihn noch 10 Jahre später.
(vgl. Brief vom 04.08.1922)
Ich frage mich,
weshalb ich zu Schönberg kein Verhältnis
finden kann, während mir bei Ihnen auch
das Kühnste (wenn auch nicht immer sogleich
wie bei der Sonatine, so doch bei häufigerem Durchspielen) als natürlich erscheint.
Ist es bei ihm das Formal-Unvollendete und die
Kurzatmigkeit und Interesselosigkeit der Motive?
Sie sind der wahre Futurist
Die „Futuristen“ waren eine Bewegung von Künstlern (vorwiegend Schriftsteller, bildende
Künstler) im europäischen Raum (Ausgangspunkt Italien) zu Beginn des
20. Jh. (v. a. etwa 1909–1914),
die sich de facto die Zukunft selbst auf die Fahnen geschrieben hatten. Sie verstanden sich als Verfechter des Fortschritts
und wandten sich gegen überlieferte Tradition. (vgl. Scherliess 1999, S. 244 f.)
Der „Futurismus“ entzieht sich einer allgemeinen Definition oder inhaltlichen Abgrenzung und
ist vielfach von Widersprüchen geprägt. (vgl. etwa Nicolodi 1999, S. 47)
Der von Marinetti geprägte Neologismus mutierte zum Schlagwort, das stellvertretend
für alles absolut Neue, Moderne und Avantgardistische eingesetzt wurde. Busoni stand
den Futuristen bzw. ihren Ideen (also dem Streben nach Neuem) durchaus nahe – auch wenn er deren Begriffe nie
für sich beanspruchte –, lehnte aber den totalen Bruch mit der Tradition ab.
Bereits in seinem ersten Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst brachte er seine Vision
einer zukünftigen Musik und Ideen in Bezug auf neue Ausdrucksmöglichkeiten zu Papier. (vgl. etwa die Abschnitte zu einer Neuordnung
der Notation sowie des Tonsystems
oder – noch wichtiger – zur Entwicklung von neuen Instrumenten)
Es verwundert also kaum, dass er ein am 1. März 1912 anonym veröffentlichtes
Manifest (die beliebteste Kommunikationsform der Futuristen), welches den Futurismus in der Musik
verkündete, als Irritation, wenn nicht als Affront auffassen musste. Denn darin heißt es u. a.: „Die Komponisten von heute […] verdienen lediglich
unsere Verachtung, insofern als sie vergeblich originale Werke mit abgestandenen Mitteln zimmern […]“. (zit. nach
Busonis Reaktion auf das Manifest; Busoni/Weindel 2006, S. 67;
ursprüngl. veröffentlicht in: Pan, Heft 1 vom 03.10.1912 unter
dem Titel „Futurismus der Tonkunst“) Unter diesen Vorbedingungen lässt sich Freunds Aussage
als Zeichen der Rückendeckung, ggf. auch als kleinen Trost interpretieren.
NB: Ein charakteristisches Merkmal, das den Futurismus von anderen avantgardistischen Kunstströmungen abhob, war eine Faszination
für Maschinen und moderne Technik in jeder Form. Mechanisierung, Bewegung und Tempo sind weitere wichtige Schlüsselbegriffe,
die das Leben und die Sicht auf Kunst prägten. (vgl.Scherliess 1999, S. 244)
Doch gerade im Hinblick auf technische Errungenschaften attestierte Gerda Busoni
ihrem Mann rückblickend ein recht ambivalentes Verhältnis zum Neuen: „Ferruccio
hat nie eine Schreibmaschine benutzt und höchstens 2–3mal in seinem Leben telefoniert. […] Er, der verrufene Futurist,
war in den meisten Sachen altmodisch.“ (Busoni/Schnapp 1958, S. 23)
in dem Sinne,
dass Sie in die Zukunft hineinwirken und
(wenn auch wider Willen) zeigen, dass unser Tonsystem noch immer geeignet ist, Neues zu sagen. –
Die neuen Teile oder vielmehr der neue Teil
der Bach-Fantasie (das Choralvorspiel) hat
mir auch gut gefallen und ich begreife, dass
Sie sich bewogen fanden,
die gekürzte Ausgabe – in
usum Delphini
„ad usum Delphini“ (orthograph. Variante: „in usum...“)
[neulat.]: „zum Gebrauch des Dauphins“ (des frz. Kronprinzen), für dessen Unterricht Ausgaben antiker Klassiker hergestellt wurden, die in moralischer und politischer Hinsicht
gerreinigt und kommentiert waren. Ursprünglich Terminus aus dem Buchwesen; im erweiterten Sinn (v. a. 19. Jh.):
„zum Gebrauch für Schüler“ bzw. für sie bearbeitet. (Dose/Folz/Mang/Schrupp/Tauchmann/Thyen/Trunk-Nußbaumer 1993, S. 119)
Die erstmals im Jahr 1910 veröffentlichte Edizione definitiva
der Fantasia contrappuntistica ist klaviertechnisch anspruchsvoll und sehr umfangreich.
Busoni selbst bezeichnete sie als „monumental“ und „Monstre-Fuge [sic]“
(Busoni/Weindel 2015, Bd. 1, Br. 520 und 523, S. 470 f.)
und vermerkt im Vorwort der zwei Jahre später erschienenen Edizione minore:
„Das vorliegende, kleinere [Werk], ist mehr auf die Klavierübung, als auf den Konzertvortrag gerichtet.“ Auch
Freund betrachtet dies offenbar als sinnvolle Ergänzung für alle Lernenden, die (noch)
nicht auf Virtuosenniveau spielen.
– erscheinen
zu lassen. Ich persönlich
halte mich aber an die
Fantasia contrappuntistica. –
An der Figaro-Fantasie
kann ich, offen gestanden,
nicht viel finden.
Natürlich interessiert mich
alles, was Liszt schrieb,
aber diese Fantasie
gehört doch wohl zu
den Schwachen.
(Opern-)Paraphrasen, zu denen auch Liszts Figaro-Fantasie gehört,
waren bis zum Ende des 19. Jh. (speziell in den Jahren 1830 bis 1850)
beim Publikum äußerst beliebt und gehörten als Bravourstücke in das Repertoire jedes erfolgreichen Pianisten. Diese Wahrnehmung
wandelte sich mit der Jahrhundertwende. Ab da bis in die 1980er Jahre
hinein war es en vogue, diese Werke als „oberflächlich“ und „von zweitrangigem künstlerischen Wert zu betrachten“.
(Gut/Altenburg 2009, S. 413 f.) Noch 1968 lässt sich in
einschlägiger Literatur nachlesen, dass „die Opernfantasie […] sich nun einmal als edlere Kunstform nicht durchgesetzt [hat]“
und konkret mit Bezug auf Liszt heißt es an gleicher Stelle: „Es sind ganz schwache
[Opernfantasien] darunter...“ (Raabe 1968, Bd. 2, S. 31)
Freunds Bemerkung, dass Liszts Fantasie
„doch wohl zu den Schwachen“ im Hinblick auf sein Gesamtwerk gehört, könnte also eine persönliche Präferenz ausdrücken –
oder, zumindest teilweise, auch den Zeitgeist widerspiegeln. Für Busoni war die Opernparaphrase
im Übrigen nicht „das ordinäre, exhibitionistische Virtuosenstück […] sondern eine psychologische Verdichtung der Oper und
ihrer Handlung im Medium Klavier“. (Sitsky 1986, S. 228)
Das Allegro
hat aber Leben und die
Coda (alla Marcia) wirkt
ausgezeichnet. Diese
„Ergänzung“ ist doch nicht
von Ihnen? –
Aus unbekannten Gründen hat Liszt seine Figaro-Fantasie nie ganz
zu Ende komponiert, obwohl er sie 1843 sogar selbst in Berlin
aufführte (Searle 1966, S. 40). Die Lücken im Manuskript
sind gering und von Liszt im Vortrag wahrscheinlich improvisiert worden. Sie betreffen das
Ende einer kurzen Überleitung (drei leere Takte im Ms., T. 574–576) und den Schluss des Werkes (Komposition bricht nach
T. 601 ab; (Liszt/Howard 1997, S. VI ff.). Liszt
verarbeitete im Original musikalisches Material aus zwei Mozart-Opern:
Le nozze di Figaro (Figaros Arie „Non più andrai“ aus Akt 1
und Cherubinos Arietta „Voi che sapete“ aus Akt 2) sowie Don Giovanni
(Tanzszene – Menuett, Kontertanz und Walzer – aus dem Finale des 1. Akts; Searle 1966, S. 41 f.).
Das bis dato ungedruckte Klavierwerk wurde von Busoni ergänzt
und auf sein Bestreben hin im Rahmen der Liszt–Gesamtausgabe bei Breitkopf & Härtel
1912 erstmals veröffentlicht (Busoni / Breitkopf & Härtel / Hanau 2012, Bd. 1, Br. 654, S. 498).
Laut Liszt/Howard 1997 handelt es sich bei dieser Erstausgabe allerdings um „eine stark verstümmelte Fassung“
(orig. engl.: „a greatly truncated version“). Howard moniert, dass „Busoni
in der Ausgabe verschweigt, wie groß eigentlich seine Zugabe war“ und „was und wieviel er […]
weggelassen hatte“. Der direkte Vergleich zeigte, dass Busoni die Don-Giovanni-Abschnitte
ganz ausließ und somit „gezwungen war, Liszts 597 Takte umfassendes
Originalmanuskript um 245 Takte (!) zu reduzieren und 37 neue Takte selbst zu komponieren, um die
übrig gebliebenen Abschnitte für die Aufführung geeignet zu machen“. (ibid., S. VII)
Das von Freund erwähnte Allegro und die Coda sind im Wesentlichen original Liszt.
In Busonis Allegro fehlt T. 258 und bei Liszt folgen nach
T. 335 noch 16 Takte, bevor der Don-Giovanni-Abschnitt beginnt; Busoni notiert 19 andere
Takte nach T. 335 und springt dann direkt in die Coda (alla Marcia), die als einzige Abweichung vier zusätzliche Takte nach
T. 587 aufweist. (Mangels Taktzahlen in der Liszt/Busoni-Ausgabe beziehen sich die Angaben hier auf
ibid..)
Es bleibt unklar, weshalb Busoni das Werk nach eigener Aussage lediglich
„diskret ergänzt“ haben will (Willimann 1994, Br. an
Andreae vom 13.09.1912, S. 39), es de facto aber so
drastisch gekürzt wurde. Vorstellbar wäre, das Busoni nicht das vollständige Ms.
vorgelegen hat. Liszts Original ist auf losen Notenblättern notiert,
die nicht nummeriert sind. Der Übergang in den Don Giovanni–Teil ist in C-Dur, wie auch das Ende
dieses Abschnitts, bevor die Coda beginnt. Die betreffenden 15 Seiten könnten also weggelassen werden, ohne dass es zu harmonischen
Komplikationen käme. Zudem beginnt der Don Giovanni-Abschnitt auf einer neuen Notenseite und an keiner
Stelle im Ms. treten Motive aus beiden Mozart-Opern gleichzeitig in
Erscheinung. Dies wirft auch die Frage auf, ob Liszt überhaupt intendierte, zwei Opern miteinander zu kombienieren –
es wäre die einzige seiner zahlreichen Opernfantasien, wo dies der Fall ist – oder ob im Weimarer
Archiv ggf. fälschlich zwei separate Werke zusammengelegt wurden (Sitsky 1986, S. 235 f.).
So und nun
lassen Sie mich Ihnen
noch herzlichst danken
für die Freude, die Sie mir gemacht.
Vielleicht findet meine Schwester Irma
Sie in Berlin und Sie erfahren dann von
ihr, was Sie sonst interessiert zu hören.
In steter Anhänglichkeit
Ihr alt ergebener
R. Freund
|
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<addrLine><placeName key="E0500188">Budapest</placeName>, <placeName key="E0500469">Mérleg Gasse 4</placeName></addrLine>
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<lb/><date when-iso="--10-25"><choice><orig>25/10</orig><reg>25. Oktober</reg></choice></date>
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Ich frage mich<reg>, </reg>
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wesshalb ich zu Schönberg kein Verhältniss
finden kan̅, während mir bei Ihnen auch
das Kühnste (wen̅ auch nicht im̅er sogleich
wie bei der Sonatine, so doch bei häufige- rem Durchspielen) als natürlich erscheint.
Ist es bei ihm das Formal-Unvollendete u. die
Kurzathmigkeit u. Interesselosigkeit der Motive?
Sie sind der wahre Futurist,
Die „Futuristen“ waren eine Bewegung von Künstlern (vorwiegend Schriftsteller, bildende
Künstler) im europäischen Raum (Ausgangspunkt Italien) zu Beginn des
20. Jh. (v. a. etwa 1909–1914),
die sich de facto die Zukunft selbst auf die Fahnen geschrieben hatten. Sie verstanden sich als Verfechter des Fortschritts
und wandten sich gegen überlieferte Tradition. (vgl. Scherliess 1999, S. 244 f.)
Der „Futurismus“ entzieht sich einer allgemeinen Definition oder inhaltlichen Abgrenzung und
ist vielfach von Widersprüchen geprägt. (vgl. etwa Nicolodi 1999, S. 47)
Der von Marinetti geprägte Neologismus mutierte zum Schlagwort, das stellvertretend
für alles absolut Neue, Moderne und Avantgardistische eingesetzt wurde. Busoni stand
den Futuristen bzw. ihren Ideen (also dem Streben nach Neuem) durchaus nahe – auch wenn er deren Begriffe nie
für sich beanspruchte –, lehnte aber den totalen Bruch mit der Tradition ab.
Bereits in seinem ersten Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst brachte er seine Vision
einer zukünftigen Musik und Ideen in Bezug auf neue Ausdrucksmöglichkeiten zu Papier. (vgl. etwa die Abschnitte zu einer Neuordnung
der Notation sowie des Tonsystems
oder – noch wichtiger – zur Entwicklung von neuen Instrumenten)
Es verwundert also kaum, dass er ein am 1. März 1912 anonym veröffentlichtes
Manifest (die beliebteste Kommunikationsform der Futuristen), welches den Futurismus in der Musik
verkündete, als Irritation, wenn nicht als Affront auffassen musste. Denn darin heißt es u. a.: „Die Komponisten von heute […] verdienen lediglich
unsere Verachtung, insofern als sie vergeblich originale Werke mit abgestandenen Mitteln zimmern […]“. (zit. nach
Busonis Reaktion auf das Manifest; Busoni/Weindel 2006, S. 67;
ursprüngl. veröffentlicht in: Pan, Heft 1 vom 03.10.1912 unter
dem Titel „Futurismus der Tonkunst“) Unter diesen Vorbedingungen lässt sich Freunds Aussage
als Zeichen der Rückendeckung, ggf. auch als kleinen Trost interpretieren.
NB: Ein charakteristisches Merkmal, das den Futurismus von anderen avantgardistischen Kunstströmungen abhob, war eine Faszination
für Maschinen und moderne Technik in jeder Form. Mechanisierung, Bewegung und Tempo sind weitere wichtige Schlüsselbegriffe,
die das Leben und die Sicht auf Kunst prägten. (vgl.Scherliess 1999, S. 244)
Doch gerade im Hinblick auf technische Errungenschaften attestierte Gerda Busoni
ihrem Mann rückblickend ein recht ambivalentes Verhältnis zum Neuen: „Ferruccio
hat nie eine Schreibmaschine benutzt und höchstens 2–3mal in seinem Leben telefoniert. […] Er, der verrufene Futurist,
war in den meisten Sachen altmodisch.“ (Busoni/Schnapp 1958, S. 23)
in dem Sin̅e,
dass Sie in die Zukunft hinein wirken u.
(wen̅ auch wider Willen) zeigen, dass unser Tonsy- stem noch im̅er geeignet ist Neues zu sagen. –
Die neuen Theile oder vielmehr der neue Theil
der Bach-Fantasie (das Choralvorspiel) hat
mir auch gut gefallen u. ich begreife, dass
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Bereits in seinem ersten <title key="E0400043">Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst</title> brachte er seine Vision
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verkündete, als Irritation, wenn nicht als Affront auffassen musste. Denn darin heißt es u. a.: <q>Die Komponisten von heute […] verdienen lediglich
unsere Verachtung, insofern als sie vergeblich originale Werke mit abgestandenen Mitteln zimmern […]</q>. (zit. nach
<persName key="E0300017">Busonis</persName> Reaktion auf das Manifest; <bibl><ref target="#E0800018"/>, S. 67</bibl>;
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als Zeichen der Rückendeckung, ggf. auch als kleinen Trost interpretieren.
<lb/>NB: Ein charakteristisches Merkmal, das den Futurismus von anderen avantgardistischen Kunstströmungen abhob, war eine Faszination
für Maschinen und moderne Technik in jeder Form. Mechanisierung, Bewegung und Tempo sind weitere wichtige Schlüsselbegriffe,
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Doch gerade im Hinblick auf technische Errungenschaften attestierte <persName key="E0300059">Gerda Busoni</persName>
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Sie sich bewogen fanden
die gekürzte Ausgabe, in
usum delphini
„ad usum Delphini“ (orthograph. Variante: „in usum...“)
[neulat.]: „zum Gebrauch des Dauphins“ (des frz. Kronprinzen), für dessen Unterricht Ausgaben antiker Klassiker hergestellt wurden, die in moralischer und politischer Hinsicht
gerreinigt und kommentiert waren. Ursprünglich Terminus aus dem Buchwesen; im erweiterten Sinn (v. a. 19. Jh.):
„zum Gebrauch für Schüler“ bzw. für sie bearbeitet. (Dose/Folz/Mang/Schrupp/Tauchmann/Thyen/Trunk-Nußbaumer 1993, S. 119)
Die erstmals im Jahr 1910 veröffentlichte Edizione definitiva
der Fantasia contrappuntistica ist klaviertechnisch anspruchsvoll und sehr umfangreich.
Busoni selbst bezeichnete sie als „monumental“ und „Monstre-Fuge [sic]“
(Busoni/Weindel 2015, Bd. 1, Br. 520 und 523, S. 470 f.)
und vermerkt im Vorwort der zwei Jahre später erschienenen Edizione minore:
„Das vorliegende, kleinere [Werk], ist mehr auf die Klavierübung, als auf den Konzertvortrag gerichtet.“ Auch
Freund betrachtet dies offenbar als sinnvolle Ergänzung für alle Lernenden, die (noch)
nicht auf Virtuosenniveau spielen.
– erscheinen
zu lassen. Ich persönlich
halte mich aber an die
Fantasia Contrappuntttistica. –
A[…]
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n g[…]
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der Figaro-Fantasie
kan̅ ich, offen gestanden,
nicht viel finden.
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Natürlich interessirt mich
Alles was Liszt schrieb,
aber diese Fantasie
gehört doch wohl zu
den Schwachen.
(Opern-)Paraphrasen, zu denen auch Liszts Figaro-Fantasie gehört,
waren bis zum Ende des 19. Jh. (speziell in den Jahren 1830 bis 1850)
beim Publikum äußerst beliebt und gehörten als Bravourstücke in das Repertoire jedes erfolgreichen Pianisten. Diese Wahrnehmung
wandelte sich mit der Jahrhundertwende. Ab da bis in die 1980er Jahre
hinein war es en vogue, diese Werke als „oberflächlich“ und „von zweitrangigem künstlerischen Wert zu betrachten“.
(Gut/Altenburg 2009, S. 413 f.) Noch 1968 lässt sich in
einschlägiger Literatur nachlesen, dass „die Opernfantasie […] sich nun einmal als edlere Kunstform nicht durchgesetzt [hat]“
und konkret mit Bezug auf Liszt heißt es an gleicher Stelle: „Es sind ganz schwache
[Opernfantasien] darunter...“ (Raabe 1968, Bd. 2, S. 31)
Freunds Bemerkung, dass Liszts Fantasie
„doch wohl zu den Schwachen“ im Hinblick auf sein Gesamtwerk gehört, könnte also eine persönliche Präferenz ausdrücken –
oder, zumindest teilweise, auch den Zeitgeist widerspiegeln. Für Busoni war die Opernparaphrase
im Übrigen nicht „das ordinäre, exhibitionistische Virtuosenstück […] sondern eine psychologische Verdichtung der Oper und
ihrer Handlung im Medium Klavier“. (Sitsky 1986, S. 228)
Das Allegro
hat aber Leben u. die
Coda (Allá Marcia) wirkt
ausgezeichnet. Diese
“Ergänzung” ist doch nicht
von Ihnen? –
Aus unbekannten Gründen hat Liszt seine Figaro-Fantasie nie ganz
zu Ende komponiert, obwohl er sie 1843 sogar selbst in Berlin
aufführte (Searle 1966, S. 40). Die Lücken im Manuskript
sind gering und von Liszt im Vortrag wahrscheinlich improvisiert worden. Sie betreffen das
Ende einer kurzen Überleitung (drei leere Takte im Ms., T. 574–576) und den Schluss des Werkes (Komposition bricht nach
T. 601 ab; (Liszt/Howard 1997, S. VI ff.). Liszt
verarbeitete im Original musikalisches Material aus zwei Mozart-Opern:
Le nozze di Figaro (Figaros Arie „Non più andrai“ aus Akt 1
und Cherubinos Arietta „Voi che sapete“ aus Akt 2) sowie Don Giovanni
(Tanzszene – Menuett, Kontertanz und Walzer – aus dem Finale des 1. Akts; Searle 1966, S. 41 f.).
Das bis dato ungedruckte Klavierwerk wurde von Busoni ergänzt
und auf sein Bestreben hin im Rahmen der Liszt–Gesamtausgabe bei Breitkopf & Härtel
1912 erstmals veröffentlicht (Busoni / Breitkopf & Härtel / Hanau 2012, Bd. 1, Br. 654, S. 498).
Laut Liszt/Howard 1997 handelt es sich bei dieser Erstausgabe allerdings um „eine stark verstümmelte Fassung“
(orig. engl.: „a greatly truncated version“). Howard moniert, dass „Busoni
in der Ausgabe verschweigt, wie groß eigentlich seine Zugabe war“ und „was und wieviel er […]
weggelassen hatte“. Der direkte Vergleich zeigte, dass Busoni die Don-Giovanni-Abschnitte
ganz ausließ und somit „gezwungen war, Liszts 597 Takte umfassendes
Originalmanuskript um 245 Takte (!) zu reduzieren und 37 neue Takte selbst zu komponieren, um die
übrig gebliebenen Abschnitte für die Aufführung geeignet zu machen“. (ibid., S. VII)
Das von Freund erwähnte Allegro und die Coda sind im Wesentlichen original Liszt.
In Busonis Allegro fehlt T. 258 und bei Liszt folgen nach
T. 335 noch 16 Takte, bevor der Don-Giovanni-Abschnitt beginnt; Busoni notiert 19 andere
Takte nach T. 335 und springt dann direkt in die Coda (alla Marcia), die als einzige Abweichung vier zusätzliche Takte nach
T. 587 aufweist. (Mangels Taktzahlen in der Liszt/Busoni-Ausgabe beziehen sich die Angaben hier auf
ibid..)
Es bleibt unklar, weshalb Busoni das Werk nach eigener Aussage lediglich
„diskret ergaenzt“ haben will (Willimann 1994, Br. an
Andreae vom 13.09.1912, S. 39), es de facto aber so
drastisch gekürzt wurde. Vorstellbar wäre, das Busoni nicht das vollständige Ms.
vorgelegen hat. Liszts Original ist auf losen Notenblättern notiert,
die nicht nummeriert sind. Der Übergang in den Don Giovanni–Teil ist in C-Dur, wie auch das Ende
dieses Abschnitts, bevor die Coda beginnt. Die betreffenden 15 Seiten könnten also weggelassen werden, ohne dass es zu harmonischen
Komplikationen käme. Zudem beginnt der Don Giovanni-Abschnitt auf einer neuen Notenseite und an keiner
Stelle im Ms. treten Motive aus beiden Mozart-Opern gleichzeitig in
Erscheinung. Dies wirft auch die Frage auf, ob Liszt überhaupt intendierte, zwei Opern miteinander zu kombienieren –
es wäre die einzige seiner zahlreichen Opernfantasien, wo dies der Fall ist – oder ob im Weimarer
Archiv ggf. fälschlich zwei separate Werke zusammengelegt wurden (Sitsky 1986, S. 235 f.).
So u. nun
lassen Sie mich Ihnen
noch herzlichst danken
|
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Stelle im <rs key="E0400356">Ms.</rs> treten Motive aus beiden <persName key="E0300010">Mozart</persName>-Opern gleichzeitig in
Erscheinung. Dies wirft auch die Frage auf, ob <persName key="E0300013">Liszt</persName> überhaupt intendierte, zwei Opern miteinander zu kombienieren –
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<lb/>lassen Sie mich Ihnen
<lb/>noch herzlichst danken
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4Diplomatic transcription
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4XML
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Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
für die Freude die Sie mir gemacht.
Vielleicht findet meine Schwester Irma
Sie in Berlin u. Sie erfahren dan̅ von
ihr was Sie sonst interessirt zu hören.
In steter Anhänglichkeit
Ihr alt ergebener
R. Freund
[2]
|
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