Philipp Jarnach to Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Polling · July 22, 1921

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N.Mus.Nachl. 30, 127

Polling den 22 Juli 1921

Mein verehrter, lieber Meister. – Empfangen Sie
meinen herzlichsten Dank für Ihren lieben und, wie
immer, so anregenden Brief, ebenfalls für den Hinweis
auf Monteverdis Madrigale, den ich gewiss nicht un-
beachtet lassen werde. Der betreffende Brief Busonis befindet sich nicht im Nachlass; es bleibt unklar, ob sich Jarnach und Busoni auf bestimmte Madrigale von Monteverdi beziehen. Ich hatte vor Jahren zum ersten
Male Gelegenheit an diesen grossen Meister des freien
Ausdrucks heranzutreten. Es war 1909 als Jane Bathori
eine konzertmässige Aufführung einer Oper Monte-
verdis
veranstaltete, deren Einstudierung ich besorgte.
Der Titel ist mir nicht genau erinnerlich, ich glaube
Poppee, oder Nero und Poppee; Gemeint ist Monteverdis Oper „L’incoronazione di Poppea“. jedenfalls war es eine
Liebestragödie aus der römischen Kaisergeschichte.
Ich war damals trotz meiner grossen Jugend und der
verständnislosen Gleichgültigkeit, die wir Achtzehnjäh-
rige für die Vergangenheit der Kunst im allgemeinen
empfanden, von der unerhörten Ausdruckskraft
dieser schmucklosen Musik höchst frappiert. – Aber
von den Madrigalen wusste ich nichts. Ich freue mich
im voraus, sie zu lesen.

Den Einfall der beiden Abruzzen-Nibelungen
finde ich sehr ergötzlich, und es ist mir unmöglich
die Sache so ernst zu nehmen und Ihre Entrüstung

Polling, den 22. Juli 1921

Mein verehrter, lieber Meister.

Empfangen Sie meinen herzlichsten Dank für Ihren lieben und, wie immer, so anregenden Brief, ebenfalls für den Hinweis auf Monteverdis Madrigale, den ich gewiss nicht unbeachtet lassen werde. Der betreffende Brief Busonis befindet sich nicht im Nachlass; es bleibt unklar, ob sich Jarnach und Busoni auf bestimmte Madrigale von Monteverdi beziehen. Ich hatte vor Jahren zum ersten Male Gelegenheit, an diesen großen Meister des freien Ausdrucks heranzutreten. Es war 1909, als Jane Bathori eine konzertmäßige Aufführung einer Oper Monteverdis veranstaltete, deren Einstudierung ich besorgte. Der Titel ist mir nicht genau erinnerlich, ich glaube Poppee oder Nero und Poppee; Gemeint ist Monteverdis Oper „L’incoronazione di Poppea“. jedenfalls war es eine Liebestragödie aus der römischen Kaisergeschichte. Ich war damals trotz meiner großen Jugend und der verständnislosen Gleichgültigkeit, die wir Achtzehnjährige für die Vergangenheit der Kunst im Allgemeinen empfanden, von der unerhörten Ausdruckskraft dieser schmucklosen Musik höchst frappiert. – Aber von den Madrigalen wusste ich nichts. Ich freue mich im Voraus, sie zu lesen.

Den Einfall der beiden Abruzzen-Nibelungen finde ich sehr ergötzlich, und es ist mir unmöglich, die Sache so ernst zu nehmen und Ihre Entrüstung zu teilen. Ich hatte d’Annunzio immer in — seit einigen Jahren sich als sehr begründet erweisendem — Verdacht, ein Komödiant zu sein. Aber wenigstens sind diese beiden sich treu geblieben: Seit „Amicas“ bauernhaft grober Leitmotiverei wusste man, wo der dünne, aber frische Talentansatz Mascagnis hinversickert war. D’Annunzio, ich denke an „Il fuoco“ und „Vergine delle rocce“, kommt mir so vor: Er ist der begabtere, dafür aber auch unaufrichtigere der beiden wagnerischen Romanapostel der neunziger Jahre. Der andere wäre der Sâr Péladan, der einst, als er wieder einmal eine fünfaktige „Wagneride“ an die Direktorin der „Comédie-Française“ geschickt hatte, diese hübsche Antwort von Claretie erhielt: „Cher monsieur Péladan, chez nous l’art dramatique ne chevanche pas encore sur un cygne.“ Nun, spätere Zeiten rächten den armen Péladan, es kamen ganze Schwadronen von Gänsereitern angewatschelt; dem Sâr kam aber dies nicht mehr zustatten; sein einstiger Privat-Wagner wurde an allen Straßenecken feilgeboten, und kein Hahn krähte mehr nach ihm.

Pollinger Chronik. – Vorgestern machte ich ein Lied fertig. Schelten Sie nicht: Es ist das erste seit zwei, das dritte seit vier Jahren. Also nicht schöckweise“. – Gedicht von Stefan George. Kennen Sie den Mann, und wenn, wie stellen Sie sich zu seinen Sachen? Ich finde ihn nicht immer sympathisch; vor allem verlässt ihn manchmal die Klugheit, bei den Stoffen zu bleiben, die seiner Ausdrucksart angepasst sind. Trotzdem will es mir scheinen, als ob man ihn ebenso wenig, ja viel weniger übersehen dürfte als beispielsweise Rilke. Letzterer ist im Grunde ein Romantiker, während George mit der herb-feierlichen Reinheit seiner Sprache symbolisch ist für den Willen nach Klassizität, der heute die Besten erfüllt. Doch übertreibt er oft, wenn er seinen Schlafrock in olympische Falten legt. Immerhin: hoch geblickt, und das Licht blendet ihn nicht.

Ende des Monats sind die Aufführungen in Donaueschingen. Die Stuttgarter Neue Musik-Zeitung bringt das Programm mit Bildern und Notizen. Es scheint alles sehr schön vorbereitet zu sein. Ich freue mich sehr auf die Aufführung, weniger auf die Reise, welche von hier aus zehn Stunden dauert.

Apropos der neu komponierten Stelle in „Turandot“: wenn es Ihnen irgendwie bequem sein kann, dass ich den Klavierauszug davon mache, so stehe ich augenblicklich zur Verfügung.

Empfangen Sie, bitte, sowie Frau Busoni die allerherzlichsten Grüße von meiner Frau und Ihrem

Philipp Jarnach

                                                                
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N.Mus.Nachl. 30, 127
zu teilen. Ich hatte d’Annunzio immer in — seit einigen
Jahren sich als sehr begründet erweisenden — Verdacht,
ein Komödiant zu sein. Aber wenigstens sind diese
beiden sich treu geblieben: Seit „Amica’s“ bauernhaft
grober Leitmotiverei wusste man wo der dünne aber
frische Talentansatz Mascagnis hinversickert war.
D’Annunzio, ich denke an „Il fuoco“ und „Virgine delle
rocce“
, kommt mir so vor: er ist der begabtere, dafür
aber auch unaufrichtigere der beiden wagnerischen Ro-
manaposteln der neunziger Jahre. Der andere wäre der
Sâr Péladan, der einst, als er wieder einmal eine fünf-
aktige „Wagneride“ an die Direktorin der „Comedie fran-
çaise“
geschickt hatte, diese hübsche Antwort von Claretie
erhielt: „Cher monsieur Péladan, chez nous l’art dra-
matique ne chevanche pas encore sur un cygne.“

Nun, spätere Zeiten rächten den armen Péladan, es kamen
ganze Schwadronen von Gänsereitern angewatschelt;
dem Sâr kam aber dies nicht mehr zustatten; sein
einstiger Privat-Wagner wurde an allen Strassenecken
feilgeboten, und kein Hahn krähte mehr nach ihm.

Pollinger Chronik. – Vorgestern machte ich ein Lied fertig.
Schelten Sie nicht: es ist das erste seit zwei, das
dritte seit vier Jahren. Also nicht schöckweise“. –

                                                                
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N.Mus.Nachl. 30, 127
Gedicht von Stefan George. Kennen Sie den Mann, und
wenn, wie stellen Sie sich zu seinen Sachen? Ich finde ihn
nicht immer sympathisch; vor allem verlässt ihn manch-
mal die Klugheit, bei den Stoffen zu bleiben, die seiner
Ausdrucksart angepasst sind. Trotzdem will es mir scheinen,
als ob man ihn ebensowenig, ja viel weniger übersehen
dürfte, als beispielsweise Rilke. Letzterer ist im Grunde
ein Romantiker, während George mit der herb-feierlichen
Reinheit seiner Sprache symbolisch ist für den Willen
nach Klassizität der heute die Besten erfüllt. Doch
übertreibt er oft, wenn er seinen Schlafrock in olym-
pische Falten legt. Immerhin: hoch geblickt, und das
Licht blendet ihn nicht.

Ende des Monats sind die Aufführungen in Donau-
eschingen
. Die Stuttgarter Neue Musikzeitung bringt
das Programm mit Bildern und Notizen. Es scheint
alles sehr schön vorbereitet zu sein. Ich freue mich
sehr auf die Aufführung, weniger auf die Reise, welche
von hier aus zehn Stunden dauert.

A-propos der neu komponierten Stelle in „Turandot“:
wenn es Ihnen irgendwie bequem sein kann, dass
ich den Klavierauszug davon mache, so stehe ich
augenblicklich zur Verfügung.

Empfangen Sie, bitte, sowie Frau Busoni die aller-
herzlichsten Grüsse von meiner Frau u. Ihrem

Philipp Jarnach

                                                                
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Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,127 |

proof Kalliope

Condition
Der Brief ist gut erhalten.
Extent
3 Blatt, 3 beschriebene Seiten
Collation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)

Summary
Jarnach dankt für einen Hinweis auf Monteverdis Madrigale; erinnert sich an eine Poppea-Aufführung 1909 in Paris; äußert sich zu den Abruzzen-Nibelungen“ bzw. wagnerischen Romanaposteln“ Pietro Mascagni, Gabriele d’Annunzio und Joséphin Péladan; hat ein Lied nach Stefan George beendet, stellt diesen trotz seiner Übertreibungen über Rainer Maria Rilke; freut sich auf die Donaueschinger Musiktage; bietet an, zu einer neu komponierten Stelle in Turandot den Klavierauszug anzufertigen.
Incipit
Empfangen Sie meinen herzlichsten Dank für Ihren lieben

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
January 8, 2021: candidate (coding checked, proofread)
Direct context
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