Philipp Jarnach to Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Polling · June 23, 1921

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N.Mus.Nachl. 30, 126

Mein lieber Meister!

Ich schreibe Ihnen heute ohne andren
Anlass als der Wunsch, einen Augenblick in
Ihrer Nähe zu sein. Denn zu berichten gibt
es wenig, dass der Mitteilung wert wäre.
Ich arbeite, lese, bin immer verliebter in
oberbayrische Landschaften. Zürich liegt be-
reits in ziemlicher Ferne hinter mir; der
eine Monat in Berlin hat die Spuren
verwischt; Bevor Jarnach im Oktober 1921 von Zürich nach Berlin zog, hatte er sich bereits vom 18. April bis zum 27. Mai 1921 in Berlin aufgehalten, u. a. um die Berliner Aufführung seines Streichquintetts op. 10 (20. April 1921) und die dortigen Erstauführungen von Busonis Opern Turandot und Arlecchino (19. Mai 1921) zu besuchen. Vor seinem endgültigen Umzug nach Berlin hielt sich Jarnach in Polling auf (vgl. Weiss 1996, S. 131 f.). ich bin wieder Gross-Städter
geworden, – eine Eigenschaft, die ich in
meinem Pariser Jahren Jarnach hatte 1907–1914 in Paris gelebt und am Konservatorium studiert. – abgesehen davon,
dass ich damals ein dummer Junge war –
nur deshalb so sehr unterschätzte, weil mir
die Provinz nur von der Kindheit her
in Erinnerung war. Der Zustand geistigen
Wachseins war einem selbstverständlich. (In
Zürich Jarnach war nach der deutschen Kriegserklärung 1914 von Paris nach Zürich übergesiedelt. musste ich dann auf meine Kosten
lernen, wie sehr die Individualität vom
Milieu abhängig ist.)

Die wenigen Momente wo wir dies-

Mein lieber Meister!

Ich schreibe Ihnen heute ohne andren Anlass als der Wunsch, einen Augenblick in Ihrer Nähe zu sein. Denn zu berichten gibt es wenig, das der Mitteilung wert wäre. Ich arbeite, lese, bin immer verliebter in oberbayerische Landschaften. Zürich liegt bereits in ziemlicher Ferne hinter mir; der eine Monat in Berlin hat die Spuren verwischt; Bevor Jarnach im Oktober 1921 von Zürich nach Berlin zog, hatte er sich bereits vom 18. April bis zum 27. Mai 1921 in Berlin aufgehalten, u. a. um die Berliner Aufführung seines Streichquintetts op. 10 (20. April 1921) und die dortigen Erstauführungen von Busonis Opern Turandot und Arlecchino (19. Mai 1921) zu besuchen. Vor seinem endgültigen Umzug nach Berlin hielt sich Jarnach in Polling auf (vgl. Weiss 1996, S. 131 f.). ich bin wieder Großstädter geworden, eine Eigenschaft, die ich in meinen Pariser Jahren Jarnach hatte 1907–1914 in Paris gelebt und am Konservatorium studiert. – abgesehen davon, dass ich damals ein dummer Junge war – nur deshalb so sehr unterschätzte, weil mir die Provinz nur von der Kindheit her in Erinnerung war. Der Zustand geistigen Wachseins war einem selbstverständlich. (In Zürich Jarnach war nach der deutschen Kriegserklärung 1914 von Paris nach Zürich übergesiedelt. musste ich dann auf meine Kosten lernen, wie sehr die Individualität vom Milieu abhängig ist.)

Die wenigen Momente, wo wir diesmal uns wirklich sprechen konnten, ließen mich noch mehr bedauern, dass die Sie belagernden Besucherscharen dies nicht öfter gestatteten. – Und so dachte ich, als Sie mir die Freude und die Ehre machten, mir das tiefschöne Klavierstück vorzuspielen, das Sie soeben vollendet hatten, Offenbar handelt es sich um eines der beiden Stücke, die Busoni im April und Mai 1921 als Nr. 2 und 3 der Drei Albumblätter für Pianoforte fertiggestellt hatte (Nr. 2 in Rom im April, Nr. 3 in Berlin bis zum 25. Mai 1921, zwei Tage vor Jarnachs Abreise). dass ich nicht mehr lückenlos die Wege Ihres Schaffens zu überblicken vermochte. Diese Musik war zu viel und zu wenig zugleich für die Neugierde, die sie in mir erweckte. Ich brachte sie unwillkürlich mit den mir bekannten Fragmenten des „Faust“ in Zusammenhang, was vielleicht nicht ganz richtig ist. Es fehlt mir die Ergänzung. Ich war ergriffen und überrascht …

Vor einigen Tagen kam ein sehr liebenswürdiger Brief des Herrn Burkard, der für die Quintettaufführung Notizen wünschte. Bei den ersten Donaueschinger Musiktagen (31. Juli und 1. August 1921) wurde, nach einer Empfehlung Busonis, Jarnachs Streichquintett aufgeführt. Zum Kontakt Busonis mit Heinrich Burkard und zu den erbetenen „Notizen“ vgl. Weiss 1996, S. 132–134. Sonst treffen Briefe hier ziemlich spärlich ein; namentlich die guten Freunde aus der Schweiz scheinen das erhöhte Auslandsporto zu fürchten; über das Schicksal zurückgelassener Habseligkeiten wissen wir nicht einmal Bescheid. – Dagegen berichtet Calabrini aus Florenz, dass er dort mit einer ganzen Reihe bekannter Ausländer verkehrt, ein „cenacolo“, Ital.: „Zirkel“, Künstler- oder Intellektuellen-Treffpunkt. dem zurzeit Graf Kessler, Däubler, Pierre Jouve und – Fritz von Unruh angehören. Es scheint also, dass nicht nur Musiker nach Italien pilgern. Und die Dichter sind wenigstens die Uneigennützigeren.

Ich vermute Sie stark in der Arbeit. Hoffentlich haben Sie für die Erholungsstunden ein besseres Wetter, als wir seit drei Tagen erdulden. Es verdrießt mich mehr als früher, wenn Wind oder Nass den nachmittäglichen Ausgang vereitelt. Jetzt habe ich zwar meine Bücher da und meine kleine Partiturensammlung, der ich mit Freude den „Arlecchino“ einreihte (ich entdeckte erst hier, beim Auspacken, die schöne, liebe Widmung); Offenbar handelt es sich um eine Eintragung in Jarnachs Exemplar; Busonis Oper „Arlecchino oder Die Fenster“ ist im Druck von Partitur und Klavierauszug dem Geiger und Dirigenten Arthur Bodanzky gewidmet. so verdanke ich einer Regenstunde oft Lichtvolles. – Bei Durchsicht von „neuen Erwerbungen“ stieß ich auf das mir bis jetzt unbekannte Streichquintett von Schubert; der langsame Satz darin ist von einer erschütternden Intensität der Empfindung – ohne jede „Steigerung“, sogar ohne „forte“ Tatsächlich erreicht das Adagio von Schuberts Streichquintett C-Dur nach Crescendo ab Takt 5 bereits im siebten Takt das erste (und auch keineswegs einzige) Forte. nur eine stille, lange Melodie über getragenen Akkorden und leisen Pizzicati; choralmäßige Einfachheit. Sehr klein fühlt man sich davor. Dabei sticht es durch keine „musikalische“ Besonderheit hervor.

Ich würde furchtbar gern etwas von den weiteren Aufführungen Ihrer Opern hören, und ob Sie mit denselben zufrieden waren. Am 19. Mai 1921 waren die beiden Einakter „Arlecchino“ und Turandot in der Staatsoper Berlin unter Leo Blech aufgeführt worden (vgl. Dent 1933, S. 262 f.). Jarnach war anwesend und bedankte sich am folgenden Tag bei Busoni (siehe den Brief vom 20. Mai 1921). Weitere Aufführungen im Zeitraum Mai/Juni 1921 konnten bisher nicht ermittelt werden. Machen Sie uns die Freude, mein lieber Meister, und schreiben ein paar Zeilen. Auch möchte ich Sie fragen, ob das „Duettino concertante“ schon erschienen ist, denn José Berr (Zürich) beschwört mich, ihm dies mitzuteilen.

Empfangen Sie, sowie Frau Busoni, die allerherzlichsten Grüße von Amalie-Barbara und Ihrem

P.

Polling, 22.–23. Juni 1921.
                                                                
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mal uns wirklich sprechen konnten, liessen
mich noch mehr bedauern, dass die Sie be-
lagernden Besucherscharen dies nicht öfter
gestatteten. – Und so dachte ich, als Sie mir
die Freude u. die Ehre machten, mir das
tiefschöne Klavierstück vorzuspielen, das Sie
soeben vollendet hatten, Offenbar handelt es sich um eines der beiden Stücke, die Busoni im April und Mai 1921 als Nr. 2 und 3 der Drei Albumblätter für Pianoforte fertiggestellt hatte (Nr. 2 in Rom im April, Nr. 3 in Berlin bis zum 25. Mai 1921, zwei Tage vor Jarnachs Abreise). dass ich nicht
mehr lückenlos die Wege Ihres Schaffens
zu überblicken vermochte. Diese Musik
war zu viel und zu wenig zugleich für
die Neugierde, die sie in mir erweckte. Ich
brachte sie unwillkürlich mit den mir
bekannten Fragmente[n] des „Faust“ in Zu-
sammenhang, was vielleicht nicht ganz
richtig ist. Es fehlt mir die Ergänzung.
Ich war ergriffen und überrascht …

Vor einigen Tagen kam ein sehr liebenswürdiger
Brief des Herrn Burkard, der für die Quintett-
aufführung Notizen wünschte. Bei den ersten Donaueschinger Musiktagen (31. Juli und 1. August 1921) wurde, nach einer Empfehlung Busonis, Jarnachs Streichquintett aufgeführt. Zum Kontakt Busonis mit Heinrich Burkard und zu den erbetenen „Notizen“ vgl. Weiss 1996, S. 132–134. Sonst treffen
Briefe hier ziemlich spärlich ein; namentlich
die guten Freunde aus der Schweiz scheinen
das erhöhte Auslandsporto zu fürchten; über Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

das Schicksal zurückgelassener Habseligkeiten
wissen wir nicht einmal Bescheid. – Dagegen
berichtet Calabrini aus Florenz, dass er dort

                                                                
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N.Mus.Nachl. 30, 126
mit einer ganzen Reihe bekannter Ausländer
verkehrt, ein „cenacolo“ Ital.: „Zirkel“, Künstler- oder Intellektuellen-Treffpunkt. dem zurzeit Graf Kessler
Daübler, Pierre Jouve und – Fritz von Unruh
angehören. Es scheint also dass nicht nur
Musiker nach Italien pilgern. Und die Dichter
sind wenigstens die uneigennützigeren.

Ich vermute Sie stark in der Arbeit. Hoffentlich
haben Sie für die Erholungsstunden ein besseres
Wetter als wir seit drei Tagen erdulden.
Es verdriesst mich mehr als früher, wenn
Wind oder Nass den nachmittäglichen Ausgang
vereitelt. Jetzt habe ich zwar meine Bücher
da und meine kleine Partiturensammlung,
der ich mit Freude den „Arlecchino“ einreihte,
(Ich entdeckte erst hier, beim Auspacken, die
schöne, liebe Widmung;) Offenbar handelt es sich um eine Eintragung in Jarnachs Exemplar; Busonis Oper „Arlecchino oder Die Fenster“ ist im Druck von Partitur und Klavierauszug dem Geiger und Dirigenten Arthur Bodanzky gewidmet. so verdanke ich einer
Regenstunde oft Lichtvolles. – Bei Durchsicht von
„neuen Erwerbungen“ stiess ich auf das mir
bis jetzt unbekannte Streichquintett von Schu-
bert
; der langsame Satz darin ist von einer er-
schütternden Intensität der Empfindung – ohne
jede „Steigerung“, sogar ohne „forte“ Tatsächlich erreicht das Adagio von Schuberts Streichquintett C-Dur nach Crescendo ab Takt 5 bereits im siebten Takt das erste (und auch keineswegs einzige) Forte. nur eine stille,
lange Melodie über getragenen Akkorden und leisen
pizzicati; choralmässige Einfachheit. Sehr klein
fühlt man sich davor. Dabei sticht es durch

                                                                
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keine „musikalische“ Besondertheit hervor.

Ich würde furchtbar gern etwas von den
weiteren Aufführungen Ihrer Opern hören,
und ob Sie mit denselben zufrieden waren. Am 19. Mai 1921 waren die beiden Einakter „Arlecchino“ und Turandot in der Staatsoper Berlin unter Leo Blech aufgeführt worden (vgl. Dent 1933, S. 262 f.). Jarnach war anwesend und bedankte sich am folgenden Tag bei Busoni (siehe den Brief vom 20. Mai 1921). Weitere Aufführungen im Zeitraum Mai/Juni 1921 konnten bisher nicht ermittelt werden.
Machen Sie uns die Freude, mein lieber
Meister, und schreiben ein paar Zeilen.
Auch möchte ich Sie fragen, ob das „Duettino
concertante“
schon erschienen ist, denn José
Berr
(Zürich) beschwört mich, ihm dies
mitzuteilen.

Empfangen Sie, sowie Frau Busoni,
die allerherzlichsten Grüsse von Amalie-
Barbara
und Ihrem

P.

Polling, 22–23 Juni 1921.
Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                
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Document

doneStatus: candidate XML Facsimile Download / Cite

Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,126 |

proof Kalliope

Condition
Der Brief ist gut erhalten.
Extent
2 Blatt, 4 beschriebene Seiten
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)

Summary
Jarnach bedauert die nur spärlichen Kontakte mit Busoni während seines Aufenthaltes in Berlin; berichtet von Korrespondenz mit Heinrich Burkard für die geplante Aufführung seines Quintetts bei den ersten Donaueschinger Musiktagen; hat beim Durchsehen seiner Partiturensammlung die Widmung von Busonis Arlecchino entdeckt; bewundert den Beginn des Adagio in Schuberts Streichquintett C-Dur; möchte mehr über Aufführungen von Busonis Arlecchino und Turandot in Berlin erfahren.
Incipit
Ich schreibe Ihnen heute ohne andren Anlass

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
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