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N.Mus.Nachl. 30, 132
Mein lieber Meister!– Herzlichsten Dank für Ihre
lieben Zeilen.
Der vorhergehende Brief liegt uns nicht vor.
Die Nachricht über den Faust hat
mich hoch erfreut. Nach dem Fertigstellen eines
Manuskriptes, gibt es nichts Schöneres – bis zur
Aufführung, – als das Einbinden desselben: es ist
das äußere Zeichen des Definitiven. – Ueber das
Werk wurde, weil Sie es wünschten, lange
geschwiegen; nun Sie aber als Erster dieses
Schweigen mit willkommenster Kunde brechen:
so lassen Sie mich die Hoffnung aussprechen,
daß der II. Band rasch folgen werde!
Ihre Bemerkung, daß Jean-Paul eher Kommen- tare zu Geschichten schreibe, erscheint mir
von schlagender Präzision. Ich vermag aber
darin keinen Tadel zu finden – in diesem
einen Fall. Sein geringes Verständnis für
Aufbau u. Tempo der Begebenheit ist die
unvermeidliche Kehrseite seiner Eigenart.
Diese Fähigkeit, bei allen kleinen und kleinsten
Vorfällen u. Gegenständen des Lebens Bezieh- ungen aufzudecken, das „flüsternde Gedränge“
Hier zitiert Jarnach wahrscheinlich den Gesang zu Zweien in der Nacht, ein Gedicht Eduard Mörikes.
überall wahrzunehmen und zu entwirren
hat für mich etwas so Grandioses, daß ich
darüber alles Andere, die ästhetische Forde- rung voran, vergesse. – Ich verstehe aber
Ihre Restriktion, der ich, in etwas veränderter
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Mein lieber Meister!
Herzlichsten Dank für Ihre
lieben Zeilen.
Der vorhergehende Brief liegt uns nicht vor.
Die Nachricht über den Faust hat
mich hoch erfreut. Nach dem Fertigstellen eines
Manuskriptes gibt es nichts Schöneres – bis zur
Aufführung – als das Einbinden desselben: Es ist
das äußere Zeichen des Definitiven. – Über das
Werk wurde, weil Sie es wünschten, lange
geschwiegen; nun Sie aber als Erster dieses
Schweigen mit willkommenster Kunde brechen:
so lassen Sie mich die Hoffnung aussprechen,
dass der II. Band rasch folgen werde!
Ihre Bemerkung, dass Jean Paul eher Kommentare zu Geschichten schreibe, erscheint mir
von schlagender Präzision. Ich vermag aber
darin keinen Tadel zu finden – in diesem
einen Fall. Sein geringes Verständnis für
Aufbau und Tempo der Begebenheit ist die
unvermeidliche Kehrseite seiner Eigenart.
Diese Fähigkeit, bei allen kleinen und kleinsten
Vorfällen und Gegenständen des Lebens Beziehungen aufzudecken, das „flüsternde Gedränge“
Hier zitiert Jarnach wahrscheinlich den Gesang zu Zweien in der Nacht, ein Gedicht Eduard Mörikes.
überall wahrzunehmen und zu entwirren,
hat für mich etwas so Grandioses, dass ich
darüber alles andere, die ästhetische Forderung voran, vergesse. – Ich verstehe aber
Ihre Restriktion, der ich, in etwas veränderter
Form, unbedingt beipflichte: Wenn es nur diese
Art der Literatur gäbe, wäre es sehr schlimm;
es ist trotzdem herrlich, dass es auch sie gibt.
Ich möchte ihm nicht gleichen – Sie finden
mich anspruchsvoll?? –, aber ich liebe ihn.
Ich bekam heute die Abzüge meiner Solo-Sonate; sie kommt mir auch im Druck
anständig vor. – Nicht ganz so mit der
beigefügten Übersetzung: sie ist zwar getreu,
hätte aber, wenn die Sache nicht so eilig
gewesen wäre, die Sprache etwas mehr
pflegen können.
❊ wie Jean Paul sagen würde.
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<lb/>Schweigen mit willkommenster Kunde brechen:
<lb/>so lassen Sie mich die Hoffnung aussprechen,
<lb/>da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> der II. Band rasch folgen werde!
<!-- Gibt es weitere Hinweise zum offenbar beendeten I. Band des Manuskripts: ist er erhalten, bis wohin reicht er?
(siehe Biographien oder z.B. den Briefwechsel Busoni–Petri) -->
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N.Mus.Nachl. 30, 132
Form, unbedingt beipflichte: wenn es nur diese
Art der Litteratur gäbe, wäre es sehr schlimm;
es ist trotzdem herrlich, daß es auch sie gibt.
Ich möchte ihm nicht gleichen – Sie finden
mich anspruchsvoll?? – aber ich liebe ihn.
Ich bekam heute die Abzüge meiner Solo-
Sonate; sie kommt mir auch im Druck
anständig vor. – nicht ganz so mit der
beigefügten Uebersetzung: sie ist zwar getreu,
hätte aber, wenn die Sache nicht so eilig
gewesen wäre, die Sprache etwas mehr
pflegen können.
(I) wie Jean-Paul sagen würde.
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<note type="shelfmark" resp="#archive" place="top-left">N.Mus.Nachl. 30, 132</note>
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<lb/>es ist trotzdem herrlich, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> es <hi rend="underline">auch sie</hi> gibt.
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<lb/>mich anspruchsvoll?? –<reg>,</reg> aber ich liebe ihn.
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Ich bekam heute die Abzüge meiner <title key="E0400496">Solo-
<lb break="no"/>Sonate</title>; sie kommt mir auch im Druck
<lb/>anständig vor. – <choice><orig>n</orig><reg>N</reg></choice>icht ganz so mit der
<lb/>beigefügten <choice><orig>Ue</orig><reg>Ü</reg></choice>bersetzung: sie ist zwar getreu,
<lb/>hätte aber, wenn die Sache nicht so eilig
<lb/>gewesen wäre, die Sprache etwas mehr
<lb/>pflegen können.
</p>
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Alle herzlichsten Grüße, auch
<lb/>an <persName key="E0300059">Frau Busoni</persName>, und von <rs key="E0300664">meiner</rs>,
<metamark function="footnote" n="1"><seg rend="sup">(I)</seg></metamark>
<note type="footnote" n="1"><metamark>(I)</metamark> wie <persName key="E0300355">Jean<choice><orig>-</orig><reg> </reg></choice>Paul</persName> sagen würde.</note>
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<signed rend="align(center)">Ihr treuer<orig>,</orig></signed>
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