Philipp Jarnach to Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Polling · August 7, 1922

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N.Mus.Nachl. 30, 132
Polling den 7.VIII.22.

Mein lieber Meister!– Herzlichsten Dank für Ihre
lieben Zeilen. Der vorhergehende Brief liegt uns nicht vor. Die Nachricht über den Faust hat
mich hoch erfreut. Nach dem Fertigstellen eines
Manuskriptes, gibt es nichts Schöneres – bis zur
Aufführung, – als das Einbinden desselben: es ist
das äußere Zeichen des Definitiven. – Ueber das
Werk wurde, weil Sie es wünschten, lange
geschwiegen; nun Sie aber als Erster dieses
Schweigen mit willkommenster Kunde brechen:
so lassen Sie mich die Hoffnung aussprechen,
daß der II. Band rasch folgen werde!

Ihre Bemerkung, daß Jean-Paul eher Kommen-
tare zu Geschichten schreibe, erscheint mir
von schlagender Präzision. Ich vermag aber
darin keinen Tadel zu finden – in diesem
einen Fall. Sein geringes Verständnis für
Aufbau u. Tempo der Begebenheit ist die
unvermeidliche Kehrseite seiner Eigenart.
Diese Fähigkeit, bei allen kleinen und kleinsten
Vorfällen u. Gegenständen des Lebens Bezieh-
ungen aufzudecken, das „flüsternde Gedränge“ Hier zitiert Jarnach wahrscheinlich den Gesang zu Zweien in der Nacht, ein Gedicht Eduard Mörikes.
überall wahrzunehmen und zu entwirren
hat für mich etwas so Grandioses, daß ich
darüber alles Andere, die ästhetische Forde-
rung voran, vergesse. – Ich verstehe aber
Ihre Restriktion, der ich, in etwas veränderter

Polling, den 7.VIII.22.

Mein lieber Meister!

Herzlichsten Dank für Ihre lieben Zeilen. Der vorhergehende Brief liegt uns nicht vor. Die Nachricht über den Faust hat mich hoch erfreut. Nach dem Fertigstellen eines Manuskriptes gibt es nichts Schöneres – bis zur Aufführung – als das Einbinden desselben: Es ist das äußere Zeichen des Definitiven. – Über das Werk wurde, weil Sie es wünschten, lange geschwiegen; nun Sie aber als Erster dieses Schweigen mit willkommenster Kunde brechen: so lassen Sie mich die Hoffnung aussprechen, dass der II. Band rasch folgen werde!

Ihre Bemerkung, dass Jean Paul eher Kommentare zu Geschichten schreibe, erscheint mir von schlagender Präzision. Ich vermag aber darin keinen Tadel zu finden – in diesem einen Fall. Sein geringes Verständnis für Aufbau und Tempo der Begebenheit ist die unvermeidliche Kehrseite seiner Eigenart. Diese Fähigkeit, bei allen kleinen und kleinsten Vorfällen und Gegenständen des Lebens Beziehungen aufzudecken, das „flüsternde Gedränge“ Hier zitiert Jarnach wahrscheinlich den Gesang zu Zweien in der Nacht, ein Gedicht Eduard Mörikes. überall wahrzunehmen und zu entwirren, hat für mich etwas so Grandioses, dass ich darüber alles andere, die ästhetische Forderung voran, vergesse. – Ich verstehe aber Ihre Restriktion, der ich, in etwas veränderter Form, unbedingt beipflichte: Wenn es nur diese Art der Literatur gäbe, wäre es sehr schlimm; es ist trotzdem herrlich, dass es auch sie gibt. Ich möchte ihm nicht gleichen – Sie finden mich anspruchsvoll?? –, aber ich liebe ihn.

Ich bekam heute die Abzüge meiner Solo-Sonate; sie kommt mir auch im Druck anständig vor. – Nicht ganz so mit der beigefügten Übersetzung: sie ist zwar getreu, hätte aber, wenn die Sache nicht so eilig gewesen wäre, die Sprache etwas mehr pflegen können.

Alle herzlichsten Grüße, auch an Frau Busoni, und von meiner,

Ihr treuer

Philipp

wie Jean Paul sagen würde.
                                                                
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N.Mus.Nachl. 30, 132

Form, unbedingt beipflichte: wenn es nur diese
Art der Litteratur gäbe, wäre es sehr schlimm;
es ist trotzdem herrlich, daß es auch sie gibt.
Ich möchte ihm nicht gleichen – Sie finden
mich anspruchsvoll?? – aber ich liebe ihn.

Ich bekam heute die Abzüge meiner Solo-
Sonate
; sie kommt mir auch im Druck
anständig vor. – nicht ganz so mit der
beigefügten Uebersetzung: sie ist zwar getreu,
hätte aber, wenn die Sache nicht so eilig
gewesen wäre, die Sprache etwas mehr
pflegen können.

Alle herzlichsten Grüße, auch
an Frau Busoni, und von meiner, (I)

Ihr treuer,

Philipp

(I) wie Jean-Paul sagen würde.
                                                                
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Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,132 |

proof Kalliope

Condition
Der Brief ist gut erhalten.
Extent
2 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Collation
Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat

Summary
Jarnach ist erfreut über Busonis Abschluss eines Teils von Doktor Faust; reagiert auf eine Bemerkung Busonis über Jean Paul; kritisiert die Übersetzung auf den fertigen Abzügen seiner Violinsonate.
Incipit
Herzlichsten Dank für ihre lieben Zeilen.

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
March 3, 2021: candidate (coding checked, proofread)
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