28. April 1917.
Lieber und verehrtester Herr
Busoni!
Ihr Brief hat mich mehr erfreut, als Sie vielleicht ahnen.
Es liegt so, dass ich Ihnen
den Aufsatz schickte, und in
aller Bescheidenheit. Ja, fast
zitternd, weil ich über manche
Dinge nichts anderes heute mehr
fühlen, denken und sagen kann
als diese … (ich weiß es wohl:)
Härten. Niemand empfindet das
schmerzlicher als ich selbst.
Warum ich aber gerade mein
Urteil (so oft, und ohne dass Sie
es wissen!) in Ihre Hände
lege, das rührt daher: Ihnen
verdanke ich mehr als anderen
Menschen. Und, wie alles wirkliche Leben, kam es nicht mit
einem Schlag, sondern hat viele
Kristalle und Zellen und Häute
an mir gebildet.
Ich weiß sogar erst seit dem
letzten Vierteljahr ganz klar
und in Worten ausdrückbar,
welchen ungeheuren Einfluss
Sie auf mich ausgeübt haben.
Als vor zehn Jahren Ihre
Ästhetik erschien, klammerte
ich in Bewunderung und Zustimmung mich an Nebendinge.
Aber die Hauptsache, die
Zentralidee Ihres Buches,
die ganze divine Realisation
Ihres Lebensplanes – diese
nahm ich ganz stillschweigend
an, obwohl gerade sie es ist,
die in mir während dieser
Zeit unablässig geformt
hat. Es ist Ihre Idee, in
allen wichtigen Lebensdingen
sich wie am ersten Tage der
Weltgeburt mit unbefangenem
Auge vor das Leben zu stellen.
So selbstverständlich uns
das erscheint: Unerhörterweise
war es nicht selbstverständlich,
sondern Sie waren der erste,
der es mit fassbaren, fühlbaren
und anwendbaren Worten
öffentlich ausgesprochen hat.
Wie alle wirklichen Lebenswahrheiten, ist auch diese ungeheuer
einfach. Sie hat in mir Wurzeln geschlagen. Und in den paar Jahren,
seit denen ich ein wirklich
wollender Mensch bin, brach
diese von Ihnen als Vorbild
aufgestellte Wahrheit in allen
möglichen Variationen aus
mir. Natürlich wurde sie
dadurch fruchtbar, dass sie
sich kreuzte und verband
mit den persönlichsten Erlebnissen.
(Ich werde noch Gelegenheit haben, öffentlich von der
wahrhaften Lebensgesetzlichkeit
dieser Idee und dem, was ihr
zu verdanken ist, Rechenschaft
abzulegen.)
Es ist jedenfalls so: wäre mir
nicht Ihr Zentralfeuer der
Ästhetik seinerzeit als Geschenk
(geradezu!) zugefallen, so wäre
ich gewiss heute noch auf
vielen Nebenwegen.
Den Aufsatz, der Ihnen vorliegt,
gab ich vor einem halben
Jahr (Oktober 1916) in Druck. Ich
bedaure nichts mehr, als dass
ich Ihre Verse nicht eher kannte,
diese:
„Wir wissen, dass wir kommen,
um zu gehn,
Was zwischenliegt, ist das, was
uns betrifft!“
Freies Zitat aus Busonis Doktor Faust; originaler Wortlaut des Librettodrucks (Zweites Bild, Faust): „Gewiß ist, daß wir kommen um zu gehen: – was zwischen liegt, ist das, was uns betrifft.“
Ich könnte mir, mit Ihrer
Erlaubnis, gar kein schöneres
und konzentrierter das Letzte
ausdrückendes Motto denken!
Heute, wo ich mir
über wenigstens einen gewissen
Rhythmus in meinem Leben
sehr klar geworden bin,
ist mir auch gleichzeitig
klar geworden, wie, in
welcher Art, die große Wirkung
Ihrer Menschenpersönlichkeit
auf mein Leben sich vollzogen
hat.
Ich kann es wohl am besten
mit Worten von V. de l’I. A.
aus „Axël“ ausdrücken. Sie
wirkten so, wie es in Axël
heißt: „Ich belehre nicht: ich erwecke!“
Orig.: „Je n’instruis pas, j’éveille.“ (Troisième partie „Le monde occulte“, § 1 „Au seuil“, 1. Szene: Maître Janus versucht Axël zu überzeugen, über sein sterbliches Sein hinauszublicken und das „Licht, das allerkennend und alldurchdringend den wirklichen Charakter der Dinge erhellt“, zu sehen; vgl. Villiers de L’Isle-Adam / Villiers de L’Isle Adam 1992, S. 112).
Und ich möchte hinzufügen,
dass je ungestörter der Schlaf
war, umso frischer dann
die Erweckung.
Ich glaube aber auch
andrerseits nicht, dass ich
es so gemacht habe, wie
oft der Schüler, der einfach
ordnungslos über die Stränge
schlägt und glaubt, so den
Meister überbieten zu können.
Nein. – Sondern ich habe
nur jene großen (von Ihnen zuerst ausgedrückten) Maßstäbe
angelegt an Gebiete des Denkens
und Erlebens, die mir besonders
vertraut waren. Und mit einer mir
– wenigstens zur Zeit – größtmöglich erreichbaren Gewissenhaftigkeit.
Dass ich in einem bereits
außerhalb der gewöhnlichen
Konsequenzen liegenden
Punkte mit Ihnen übereinstimme, nämlich der „Natur“, weiß
ich neuerdings aus Gesprächen
mit Ihnen. – Aber ich
glaube, dass ich in einem
andern Punkte – den übrigens
die heutige Menschheit nie zu
berühren wagt – mich mit
manchen Ihrer heimlichen Gedanken treffe: das ist im
Kapitel über die „Seele“.
Nebenbei habe ich die dunkle Ahnung,
dass wir, wenn wir auf einige
sehr erfahrene, alte Kirchenväter
zurückgehen würden, wir vielleicht
dort irgendwie verwandte Erkenntnis finden dürften. Es ist aber nur
eine Lieblingsahnung von mir. Einen
Beweis dafür habe ich noch nicht.
(Es kommt auch im Grunde nicht
darauf an.) — Wenn ich mit einem
kurzen Wort bezeichnen soll, was ich
in dem Aufsatz tat, so möchte ich sagen:
Ich suchte – an eigener Inspiration,
Einweihung und Lebenserfahrung – den
Weg zu beschreiben zu jenem
unablässig neuen ersten Tag der Welt,
dessen Keim Sie vor zehn Jahren
in mich pflanzten!
Mit dankbarem
Händedruck
Ihr Ludwig Rubiner.