Briefwechsel Ferruccio Busoni – Arnold Schönberg

Editionstyp
Briefe
Zeitraum der Entstehung
1903 bis 1927
Publikationsdatum
September 2017
Derzeitiger Umfang online/geplanter Umfang
42 von 42 (vollständig)
Von Ullrich Scheideler

„Mit Schönberg zu correspondiren macht mir stets Vergnügen“ Ferruccio Busoni an Emil Hertzka, Berlin, 17. Juni 1910; Archiv der Universal Edition, Wien.

Ferruccio Busoni im Briefwechsel mit Arnold Schönberg

Am 10. September 1903, wenige Tage vor seinem 29. Geburtstag, wandte sich Arnold Schönberg, damals ein noch wenig bekannter und erfolgreicher Wiener Komponist, brieflich mit einer Bitte an Ferruccio Busoni: „Hochverehrter Herr Professor […] Folgendes: Ich habe eine symphonische Dichtung: ‚Pelleas und Melisande‘ nach Maeterlinck componiert. Da diese nun leider insofern zu den ‚selten aufgeführten Werken‘ gehört, als sie noch gar nicht aufgeführt ist und meine bisherigen Versuche sie zu placieren durchaus vergeblich waren, so möchte ich mir erlauben, Sie zu fragen, ob Sie sie nicht einmal ansehen wollten.“ Schönberg hat immer wieder derartige Briefe geschrieben, war er doch auf die Unterstützung von Musikern, Dirigenten und Mäzenen angewiesen, wenn er seine Werke in die Öffentlichkeit bringen wollte. Und auch Busoni dürfte zahllose Briefe mit Bitten erhalten haben, an seinen Orchesterabenden, die er in Berlin in den Jahren 1902 bis 1909 veranstaltete und die ausdrücklich der Förderung der neuesten Musik dienten, bisher nicht gespielte Werke aufzuführen. Waren die ersten Anfänge des Briefwechsels zwischen Schönberg und Busoni also unscheinbar und wenig spektakulär, so entwickelte er sich wenige Jahre später zu einem Austausch über grundlegende musikalische Fragen, so dass mindestens für das Verständnis von Schönbergs Komponieren eine Quelle allerersten Ranges vorliegt.

Im Jahr 1903 hatte die Bitte um eine Aufführung keinen oder nur eingeschränkten Erfolg. Zwar ließ sich Busoni die Partitur von Pelleas und Melisande tatsächlich schicken, doch sah er keine Möglichkeit, das einen Meister des Orchesters zeigende Werk zu dirigieren. Vollkommen vergeblich war Schönbergs Ansinnen indes nicht, brachte Busoni am 5. November 1903 doch dessen Bearbeitung von Heinrich Schenkers Syrischen Tänzen zur Aufführung. Danach scheint es vorerst zu keinem weiteren brieflichen Austausch gekommen zu sein.

Erst im Sommer des Jahres 1909 fand der Briefwechsel seine Fortsetzung. Erneut wurde er mit der Bitte um die Aufführung einer neuen Komposition Schönbergs eröffnet. Diesmal war es indes kein Orchesterwerk, sondern eine Folge neuer Klavierstücke. Schon im ersten Brief vom 13. Juli 1909 deutete Schönberg an, dass es ihm um mehr ging als bloß einen renommierten und der Neuen Musik gegenüber aufgeschlossenen Pianisten für eine Aufführung bzw. die Uraufführung zu gewinnen. Er sah in Busoni vor allem einen Verbündeten, wenn es um einen Aufbruch in neue musikalische Welten ging. Und das war nicht nur eine Phrase, denn Schönberg setzte in dieser Zeit auf eine radikale Abkehr von der musikalischen Tradition: Ich habe zwei Klavierstücke […], die nur jemand spielen kann, der wie Sie mit seinen Sympathien auf der Seite aller jener ist, die suchen. Also nur Jemand, […] der eben aus seiner eigenen Phantasie soviel an die Werke der anderen abzugeben vermag, daß jene Vollkommenheit entsteht, die ja nur im Vorgestellten, im Eingebildeten, niemals aber im Thatsächlichen, in der realen Erscheinung vorkommen kann. […] [Die Stücke] sind ja technisch kaum von besonderer Schwierigkeit. Aber ihr Vortrag erfordert Glauben und Überzeugung. Busoni übermittelte nur wenige Tage später sein intensives Interesse, sodass Schönberg eine Abschrift der beiden Stücke übersenden konnte. Dann kam eine Dynamik in die Sache, welche nun einen ganz anderen und viel umfassenderen Verlauf als zunächst beabsichtigt nahm. Statt Bedingungen und Möglichkeiten einer Aufführung durch Busoni zu erörtern (zu der es wohl nie kam), ging es jetzt um nichts Geringeres als die ästhetischen Grundlagen von Schönbergs Komponieren.

Alles begann damit, dass Busoni glaubte, Unzulänglichkeiten in Schönbergs Klaviersatz zu entdecken, sodass er sich herausgefordert fühlte, den – wie er meinte – eigentlichen Absichten Schönbergs etwas nachzuhelfen, indem er das zweite, später als op. 11, Nr. 2 veröffentlichte Stück behutsam umkomponierte. Was sich an die Zusendung von Busonis erstem kleinen Entwurf anschloss, war ein Manifest der Neuen Musik, so wie Schönberg sie um 1910 verstand. In dieser Phase seines Komponierens kam es ihm nicht mehr auf Schönheit, sondern auf Wahrheit an, ja mehr noch: Da er das Vertrauen in die normative Kraft oder den Vorbildcharakter der musikalischen Tradition verloren hatte, bedeutete schon allein das Streben nach Wahrheit, das Suchen nach neuen Ausdrucksformen einen Wert an sich. Nicht das Fertige, sondern das Unfertige, nicht das Vollkommene, sondern das Unvollkommene war zu diesem Zeitpunkt das Ziel seiner Kunst. Das aber hatte eine doppelte Konsequenz: für den Akt des Komponierens sowie für das Kunstwerk selbst. Schönberg erklärte: „Meine einzige Absicht ist: keine Absicht zu haben! Keine formelle, keine architektonische, keine sonstige artistische, (als etwa die Stimmung eines Gedichtes zu treffen) keine ästhetische – überhaupt keine; oder höchstens die: dem Strom meiner unbewußten Empfindungen nichts Hemmendes in den Weg zu legen. Nichts da hinein geraten zu lassen, was durch die Intelligenz oder durch das Bewußtsein hervorgerufen ist“. Schon einige Wochen zuvor hatte Schönberg im Hinblick auf die Beschaffenheit der Werke programmatisch und nicht frei von Pathos formuliert: „Ich strebe an: Vollständige Befreiung von allen Formen. von allen Symbolen des Zusammenhangs und der Logik. also: weg von der ‚motivischen Arbeit‘[.] Weg von der Harmonie als Cement oder Baustein einer Architektur. Harmonie ist Ausdruck und nichts anderes als das. Dann: Weg vom Pathos! Weg […] von den gebauten und konstruierten Thürmen, Felsen und sonstigen gigantischem Kram. Meine Musik muß kurz sein. Knapp! in zwei Noten: nicht bauen, sondern ‚ausdrücken‘!! […] Und diese Buntheit, diese Vielgestaltigkeit, diese Unlogik die unsere Empfindungen zeigen […], möchte ich in meiner Musik haben. […] Nun habe ich bekannt und man möge mich verbrennen.“

Natürlich wollte Busoni Schönberg nicht verbrennen, aber er verhielt sich doch reserviert, obgleich er Sympathien für Schönbergs Maximen hegte. Er argumentierte vor allem von seiner Position als Pianist aus. Die Idee, nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu suchen, war ihm nicht fremd, aber dem radikalen Bruch mit der Tradition vermochte er wenig abzugewinnen: „Das ‚Asketische‘ des Claviersatzes […] scheint mir ein unnützer Verzicht auf schon Errungenes. Sie setzen einen Werth anstelle eines früheren anstatt den neuen mit diesem zu addieren. Sie werden anders und nicht reicher.“ Busoni konnte daher in dem Werk, wie er dem Verlag Breitkopf & Härtel kurz darauf schrieb, lediglich „den Ansatz zu einer späteren Tonkunst“ erblicken. Dem hielt Schönberg ein anderes Verständnis von Musikgeschichte entgegen, nicht stets ergänzend und erweiternd im Sinne eines Fortschritts, sondern im Wechsel von Akzentsetzungen: „Die kontrapunktische Kunst Bachs ist verloren, wenn Beethovens melodische Homophonie beginnt. Die Formenkunst Beethovens wird verlassen, wenn Wagners Ausdrucks-Kunst beginnt.“

Greifbaren Niederschlag fand der Disput in Busonis Bearbeitung des zweiten Klavierstücks, die im Sommer 1909 fertiggestellt wurde. Das Autograph Busonis ist am Ende mit dem Datum „26. Juli 1909“ versehen; Staatsbibliothek zu Berlin, Musikabteilung, Mus.Nachl. F. Busoni 243. Diese Bearbeitung ist zum einen Ausdrucks von Busonis Gespür für die überragende musikgeschichtliche Bedeutung Schönbergs, die ja zu diesem Zeitpunkt kaum abzusehen war (und beide waren sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal persönlich begegnet). Zum anderen ist sie Dokument einer Tonsprache, die den Klaviersatz stärker vom Wechsel unterschiedlicher Klangfarben her dachte. Das zeigt sich etwa darin, dass Busoni etliche Akkorde in Spielfiguren auflöste oder in deutlich höhere oder tiefere Oktavlagen versetzte. Außerdem wurde das Stück um zwölf Takte verlängert, oft durch Dehnung oder Wiederholung von Takten, wodurch das Stück weniger komprimiert erscheint oder, wie Busoni es gegenüber Emil Hertzka, dem Direktor des Verlags Universal-Edition, formulierte, „Allzulakonisches verbreitert“ wurde. Ferruccio Busoni an Emil Hertzka, Berlin, 6. Dezember 1909; Archiv der Universal Edition, Wien.

Ein besonders erhellendes Dokument stellt in diesem Zusammenhang das Autograph Busonis dar, denn es zeigt, wie sich die Kommunikation jetzt in ein anderes Medium verlagerte. Schönberg hat an etlichen Stellen den Notentext kommentiert und kritisiert, woraufhin Busoni seine ursprüngliche Version teilweise noch einmal überarbeitete. Nachdem seit Ende 1909 die Drucklegung auch von Busonis Transkription ins Auge gefasst wurde (zunächst verhandelte der Verlag mit beiden Komponisten getrennt), wurde im Sommer 1910 auch der Briefwechsel wieder aufgenommen, um Details der Veröffentlichung zu klären. Eine erwogene Publikation der Transkription als Einlage in Schönbergs Originalfassung der Drei Klavierstücke wurde ebenso verworfen wie die Beigabe von zwei Vorworten, in denen beide ihre Anschauungen und Absichten erläutern sollten. Letztlich erschien Busonis Transkription separat. Auch eine Garantie, die Klavierstücke öffentlich zu spielen, wollte Busoni nicht abgeben, obwohl Schönberg eine solche erbeten hatte, um dem Verlag die Drucklegung schmackhaft zu machen. In dieser Hinsicht blieben beide auf Distanz, obgleich sie das eine oder andere Werk des jeweils anderen zur Aufführung brachten (oder bringen wollten) und im Konzert hörten.

Ab 1911 wurden nur noch sporadisch Briefe gewechselt. Noch einmal bemühte Schönberg sich um Busonis Unterstützung, als er im Herbst 1911 nach Berlin übersiedelte, ohne hier eine feste Anstellung in Aussicht zu haben. Da beide dann für mehrere Jahre am selben Ort wohnten, dürfte der Austausch zum größten Teil mündlich erfolgt sein. In einem Fall, der berühmt gewordenen Aufführung von Schönbergs Pierrot lunaire in Busonis Berliner Wohnung am 17. Juni 1913, kennen wir durch Berichte an Dritte Busonis Eindrücke von dem Werk, dem er „einige Meisterstellen und einige Genie-Momente“ attestierte, Ferruccio Busoni an seinen Schüler Egon Petri, Berlin, 19. Juni 1913. dem er sonst aber wiederum mit einer gewissen Reserve begegnete.

Die letzten Briefe enthalten Mitteilungen über gehörte Werke des jeweils anderen oder über eigene Kompositionspläne, auch die Wirren des Krieges kommen zur Sprache. Der Briefwechsel endet im Februar 1919, als Schönberg – inzwischen wieder nach Österreich zurückgekehrt – begeistert von einer Aufführung von Busonis Sechs Elegien im von ihm gegründeten Verein für musikalische Privataufführungen berichtete und eine Mitteilung über neue Werke erbat.

In seinem Brief an Emil Hertzka vom 16. Dezember 1909 hatte Busoni bereits selbst eine recht treffende Interpretation des Briefwechsels abgegeben: „So ist es für unsere Korrespondenz karakteristisch dass S. darin nur von sich gesprochen, ich nur von ihm und über ihn geschrieben habe.“ Archiv der Universal Edition, Wien. Ganz so einseitig verlief der Briefwechsel nicht, werden doch auch Busonis Positionen immer deutlich. Gleichwohl erfahren wir in erster Linie etwas über Schönbergs musikalisches Denken. Nicht zuletzt ist der briefliche Austausch zweier so unterschiedlicher Naturen aber ein einzigartiges Dokument in einer für die Musikgeschichte kritischen Phase: Ohne die brieflichen Zeugnisse wüssten wir weniger über Hintergründe und Ästhetik der Anfänge der Neuen Musik.

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