Ludwig Rubiner an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Muralto · 28. Januar 1918

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Mus.ep. L. Rubiner 11 (Busoni-Nachl. B II) Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4270
[1]
28. Januar 1918
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Lieber und verehrtester
Herr Busoni!

Das war eine wunderbare Freun⸗
desüberraschung! Nun lese ich
den Arlecchino in Ruhe, und es
ist mir, in der Stille des Zimmers,
fast unbegreiflich, dass dieses
Werk nicht – den Dirigenten
vorausgesetzt – auf der Bühne
von selbst ablaufen sollte! Nur
wer in Zürich den Widerstand
der Materie Am 11. Mai 1917 findet die Erstauffürung von Arlecchino in Zürichstatt. miterlebt hat (und
ich möchte beinahe Materie physi-
kalisch gleichsetzen mit Wagneroper,
Wagnerorchester und Wagnersänger,
also gerade so altmodischen Dingen
wie Materie) nur der kann

28. Januar 1918

Lieber und verehrtester Herr Busoni!

Das war eine wunderbare Freundesüberraschung! Nun lese ich den Arlecchino in Ruhe, und es ist mir, in der Stille des Zimmers, fast unbegreiflich, dass dieses Werk nicht – den Dirigenten vorausgesetzt – auf der Bühne von selbst ablaufen sollte! Nur wer in Zürich den Widerstand der Materie Am 11. Mai 1917 findet die Erstauffürung von Arlecchino in Zürichstatt. miterlebt hat (und ich möchte beinahe Materie physikalisch gleichsetzen mit Wagneroper, Wagnerorchester und Wagnersänger, also gerade so altmodischen Dingen wie Materie), nur der kann begreifen, dass das Publikum nicht heimlich Sekt kommen lässt, um zum Schluss diese heitere Trunkenheit zur Wirklichkeit zu machen. Diesen Arlecchino stelle ich mir vor: im wirklichen Theater, im italienischen. Keine kunstgewerblichen Dynamitdekorationen, sondern normale, fast zu normale, konventionelle, fast witzig vor Konvention. Der Zuschauerraum nicht feierlich verdunkelt wie bei Tristanno ed Isotta, sondern recht strahlend hell, damit man schöne Schultern und heitere Menschen sehen soll. Das Publikum nicht mit den Händen erhaben vor dem Bauch, sondern lebhaft, sogar nicht einmal still; die Musik muss sie zur Stille zwingen, nicht eine gewaltsame Theaterordnung; in der Pause vorher Orangenverkäufer; Beifall bei offener Szene; Mitgerissensein vom Temperament der Musik. Ein solches Stück wie das große Quartett Arlecchino, IV. Satz, Nr. 7 (Szene, Quartett und Melodram). muss fünfmal da capo verlangt und gesungen werden. Die ganze Oper ein ewiger Karneval. Sie muss überall da gespielt werden, wo die Menschen recht traurig sind, wo es Hunger, Pest, Tote, Kriegsverwüstung, Krüppel, Sklavenaufstand, dumpfe Luft gegeben hat.

Lieber Herr Busoni und Freund Busoni, wir mögen uns theoretisch tausendmal aneinander vorbeiverstehen, praktisch kommt es doch genau so heraus, wie ich Sie mir mit Ihren Schöpfungen gleich zum ersten Mal und in nuce vorstellte: Heilung, Tröstung, Vorbild. Bereits im Mai 1916 war ein Aufsatz Rubiners über Busoni mit dem Titel Tröster erschienen.

Stellen Sie sich einmal in einem dumpfen Lande und unter dumpfen Menschen (alle Länder und Menschen sind dumpf) diesen „Arlecchino“ vor: Wird das nicht einen belebenden, bluterregenden, aufrührerischen Zug unter die Menschen bringen?

Der „Werther“ trieb die jungen Leute seiner Zeit zum Selbstmord; dieser „Arlecchino“ wird sie aber zur Freiheit treiben; und nicht zu einer plumpen, diskussionsartigen Spezialfreiheit, sondern zu einer losgelösten, möchte fast sagen: freien Freiheit, einer untechnischen. Einer, gegen die man nichts unternehmen kann. „Vorbild“ nenne ich ja nicht nur das Szenenbild, sondern gerade das, wogegen man sich überhaupt nicht mehr wehren kann, das man gar nicht mehr diskutieren kann, das man hinnehmen muss; also hier auch die Wirkung der Injektion durch die Musik.

So ein Stück wie das Quartett, wo Bach’scher Kantatenkontrapunkt zum buntesten Flimmer-Kugelspiel der freiesten, leichtesten, schwebendsten und springendsten Commedia dell’Arte wird, so ein Stück war bisher überhaupt noch nicht da. In zwanzig Jahren wird kein Mensch mehr begreifen, dass bei natürlich ausgebildeten Schauspielern, Sängern und Musikern der „Arlecchino“ jemals technische Schwierigkeiten geboten haben soll. Man wird das Stück am jährlich wiederholten Gedenkfeiertag des Friedensschlusses spielen, überall, in kleinen Dörfen unter einem Zeltdach, falls es regnen sollte; auf Brettern, die über Tonnen gelegt werden (die Celesta stellt die Kommune zur Verfügung).

Dies meine ich von der direkten Wirkung des „Arlecchino“. Zweygberg, ein stiller, fast grämlicher Mensch, war in meinem Zimmer, ich zeigte ihm den Klavierauszug, wir lasen beide ganz still, er musste manchmal vor Freude laut auflachen.

Dieses Stück ist nun aber von einer Vollkommenheit in der Realisierung des schwebend leichtesten Phantasiebildes, dass der andere entweder völlig entmutigt wird oder sich zu den höchsten Leistungen angespornt sieht. Nachdem das erste eingetreten war, doch voller Freude und Genuss, stieß ich zuletzt auf das andere.

Man nennt das Reinigung.

Übrigens finde ich, dass das Merkzeichen von in sich geschlossener Erfindung (in der Musik wie in der Dichtung) immer eine solche Reinigung ist. Es ist charakteristisch: Die sehr hohen und guten Dinge kann man nicht nachmachen, man kann sich nur von ihnen kräftigen lassen. (Innerlichste, propagandlose absolute Unmöglichkeit des Dilettantismus. Dagegen: Ansporn zur Arbeit oder Verurteilung zum Schweigen. – Meine Vorstellung vom Vorbild!) – Nun möchte ich Frau Gerda so viel Handküsse geben, wie sie mir erlaubt, und Ihnen eine herzliche Umarmung

von Ihrem Freund

                                                                
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2. begreifen, dass das Publikum
nicht heimlich Sekt kommen
lässt, um zum Schluss diese
heitere Trunkenheit zur Wirklich⸗
keit zu machen. Diesen Arlecchino
stelle ich mir vor: im wirklichen
Theater, im italienischen. Keine
kunstgewerblichen Dynamitdeko⸗
rationen, sondern normale,
fast zu normale, conventionelle,
fast witzig vor Convention.
Der Zuschauerraum nicht feierlich
verdunkelt wie bei Tristanno
ed Isotta
, sondern recht strahlend
hell, damit man schöne Schultern
und heitere Menschen sehen
soll. Das Publikum nicht mit
den Händen erhaben vor dem
Bauch, sondern lebhaft, sogar
nicht einmal still; die Musik

                                                                
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3 muss sie zur Stille zwingen,
nicht eine gewaltsame Theater⸗
ordnung; in der Pause vorher
Orangenverkäufer; Beifall
bei offener Scene; Mitgerissen⸗
sein vom Temperament der
Musik. Ein solches Stück wie
das grosse Quartett Arlecchino, IV. Satz, Nr. 7 (Szene, Quartett und Melodram). muss fünf⸗
mal dacapo verlangt und
gesungen werden. Die ganze
Oper ein ewiger Carneval.
Sie muss überall da gespielt
werden, wo die Menschen recht
traurig sind, wo es Hunger,
Pest, Tote, Kriegsverwüstung,
Krüppel, Sklavenaufstand,
dumpfe Luft gegeben hat.

Lieber Herr Busoni und
Freund Busoni, wir mögen
uns theoretisch tausendmal

                                                                
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4.
aneinander vorbeiverstehen, prak⸗
tisch kommt es doch genau so
heraus, wie ich Sie mir mit
Ihren Schöpfungen gleich zum
ersten Mal und in nuce vor⸗
stellte: Heilung, Tröstung,
Vorbild. Bereits im Mai 1916 war ein Aufsatz Rubiners über Busoni mit dem Titel Tröster erschienen. Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

Stellen Sie sich einmal in
einem dumpfen Lande und
unter dumpfen Menschen (alle
Länder und Menschen sind
dumpf) diesen „Arlecchino“ vor:
Wird das nicht einen belebenden,
bluterregenden, aufrührerischen
Zug unter die Menschen bringen?

Der „Werther“ trieb die jungen
Leute seiner Zeit zum Selbstmord;
dieser „Arlecchino“ wird sie aber
zur Freiheit treiben; und
nicht zu einer plumpen, dis⸗
kussionsartigen Specialfreiheit,

                                                                
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B II, 4270
5 sondern zu einer losgelösten,
möchte fast sagen: freien
Freiheit, einer untechnischen.
Einer, gegen die man nichts
unternehmen kann. Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin

„Vorbild“ nenne ich ja nicht
nur das Scenenbild, sondern
gerade das, wogegen man sich
überhaupt nicht mehr wehren
kann, das man garnicht
mehr diskutieren kann,
das man hinnehmen muss;
also hier auch die Wirkung der
Injection durch die Musik.

So ein Stück wie das Quartett,
wo Bachscher Cantatenkontra⸗
punkt zum buntesten Flimmer=
Kugelspiel der freiesten

                                                                
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6. leichtesten, schwebendsten
und springendsten Commedia
del[l]’Arte wird, so ein Stück
war bisher überhaupt noch
nicht da. In zwanzig
Jahren wird kein Mensch
mehr begreifen, dass bei
natürlich ausgebildeten Schau⸗
spielern, Sängern und Musikern
der „Arlecchino“ jemals
technische Schwierigkeiten
geboten haben soll. Man
wird das Stück am jährlich
wiederholten Gedenkfeiertag
des Friedensschlusses spielen,
überall, in kleinen Dörfen
unter einem Zeltdach, falls es
regnen sollte; auf Brettern,
die über Tonnen gelegt werden
(die Celesta stellt die Commune

                                                                
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7. zur Verfügung).

Dies meine ich von der direkten
Wirkung des „Arlecchino“. Zweyg⸗
berg
, ein stiller, fast grämlicher
Mensch, war in meinem Zimmer,
ich zeigte ihm den Klavieraus-
zug, wir lasen beide ganz
still, er musste manchmal
vor Freude laut auflachen.

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Dieses Stück ist nun
aber von einer Vollkommen⸗
heit der in der Realisierung
des schwebend leichtesten
Phantasiebildes, dass der
andere entweder völlig ent⸗
mutigt wird oder sich zu
den höchsten Leistungen angespornt
sieht. Nachdem das erste

                                                                
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8 eingetreten war, doch voller
Freude und Genuss, stiess ich
zuletzt auf das andere.

Man nennt das Reinigung.

Übrigens finde ich, dass das
Merkz[…] mindestens 1 Zeichen: überschrieben. eichen von in sich
geschlossener Erfindung (in der
Musik wie in der Dichtung)
immer eine solche Reinigung
ist. Es ist charakteristisch:
Die sehr hohen und guten
Dinge kann man nicht nach⸗
machen, man kann sich nur
von ihnen kräftigen lassen.
(Innerlichste, propagandlose
absolute Unmöglichkeit des
Dilettantismus. Dagegen: Ansporn
zur Arbeit oder Verurteilung zum
Schweigen. – Meine Vorstellung vom
Vorbild!) – Nun möchte ich Frau
Gerda
soviel Handküsse geben, wie
sie mir erlaubt, und Ihnen eine
herzliche Umarmung von Ihrem Freund

                                                                
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Exp.: Frz.: Absender („expéditeur“). L. Rubiner
Villa Rossa
MuraltoLocarno
K. 5w
Zürich 3
29. I. 1918.-5
VIII
Eildienst & Fächer
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
28 Jan 1918
Nachlaß Busoni B II

Mus.ep. L. Rubiner 11
Mus.Nachl.
F. Busoni
B II, 4270-Beil.
                                                                
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<note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="annotation" place="margin-left" resp="#unknown_hand" rend="rotate(-90)">K. 5w</note> <note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" place="right" resp="#post"> <stamp xml:id="post_rec" rend="round border majuscule align(center)"> <placeName key="E0500132">Zürich</placeName> 3 <lb/><date when-iso="1918-01-29">29. I. 1918</date>.-5 <lb/>VIII <lb/>Eildienst &amp; Fächer </stamp> </note> <note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="stamp" place="center" resp="#dsb_st_red"> <stamp rend="round border align(center) small">Deutsche <lb/>Staatsbibliothek <lb/><placeName key="E0500029"><hi rend="spaced-out">Berlin</hi></placeName> </stamp> </note> <note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="dating" place="center" resp="#gerda.busoni"> 28 Jan 1918 </note> <note xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" type="shelfmark" place="bottom-center" resp="#archive"> <subst><del rend="strikethrough"><stamp resp="#sbb_st_blue">Nachlaß Busoni <handShift new="#archive_red"/>B II</stamp> <lb/>Mus.ep. L. Rubiner 11</del><add place="right-of">Mus.Nachl. <lb/>F. Busoni <lb/>B II, 4270-Beil.<lb/> </add></subst> </note>

Dokument

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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4270 | olim: Mus.ep. L. Rubiner 11 (Busoni-Nachl. B II) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten; Umschlagaufriss rechts (mit behebbarem Textverlust).
Umfang
2 Bogen, 8 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ludwig Rubiner, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift.
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen und auf der ersten Seite eine Paginierung vorgenommen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
  • Hand Gerda Busonis, die mit Bleistift das Datum auf der Umschlagrückseite notiert hat.
  • Unbekannte Hand, die mit Bleistift eine Paginierung vorgenommen hat.
  • Unbekannte Hand, die auf der Umschlagrückseite mit Blaustift das Kürzel
  • K. 5w
  • notiert hat.
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 12345678910

Zusammenfassung
Rubiner hat von Busoni unverhofft einen Klavierauszug des Arlecchino erhalten; charakterisiert die Oper euphorisch als anti-wagnerisch, „fast witzig vor Konvention“ und als Fanal einer „freien Freiheit“; erkennt in Busoni „Heilung, Tröstung, Vorbild“.
Incipit
Das war eine wunderbare Freundesüberraschung!

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
25. Februar 2018: in Korrekturphase (Transkription abgeschlossen, Auszeichnungen codiert, zur Korrekturlesung freigegeben)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition