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Mus.ep. H. Leichtentritt 15 (Busoni-Nachl. B II) Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2772
Lieber und verehrter Meister und Freund!
Seit vier Wochen ungefähr höre ich ohne Variationen die nämliche Melodie,
daß Sie unmittelbar vor Ihrer Rückkehr
nach Berlin sind.
Busoni war mit seiner Frau Gerda zu Erholungszwecken für sechs Wochen nach Paris gereist, hatte aber auch dort viel für eine anstehende Konzertreise in Finnland geübt (vgl. Stuckenschmidt 1967, S. 52).
Jeden dritten Tag
fürchtete ich mit einem etwaigen Brief nach Paris zu spät zu kommen. Ich hätte
aber doch riskieren sollen, in den Quartsextakkord der Kadenz hineinzufahren.
Nun bin ich aus übergroßer Vorsicht, wie es scheint nach wirklich erfolgter Kadenz
nur zum Trugschluß gekommen, und anstatt Ihnen gutgemeinte Wünsche für
den Pariser Aufenthalt zu übermitteln wird es schicklicher sein, Sie in dem
zur Zeit sehr wenig anheimelnden Berlin zu bewillkommnen., und Ihnen
zu wünschen, daß die nicht zu zählenden atonalen Diskorde des täglichen
Lebens
Im November 1923 war der Höhepunkt der Inflation erreicht; am 15. November 1923 wurde die Reichsmark eingeführt, welche die Inflation beendete. Zwar spielt Leichtentritt hier vermutlich vor allem auf die politische und wirtschaftliche Lage in der Weimarer Republik an, scheint aber mehr als nur metaphorisch die musikalischen Entwicklungen dabei mitzumeinen. Seine Einstellung gegenüber Neuer Musik in Deutschland und ihrer „strange yet fascinating atmosphere“ speziell in Berlin (vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 387) war jedoch alles andere als rundweg ablehnend (vgl. Leichtentritt 1924).
Ihrem modern geschulten Ohr als ein wennschon nicht liebliches, so doch
merkwürdiges und neuartiges Klanggebilde (zwar ein schwacher Trost) erscheinen
mögen. Nachdem das große „europäische Konzert“ bankrott gemacht hat,
Mit dem „europäischen Konzert“ sind vermutlich, neben der Inflation in der Weimarer Republik, der Versailler Vertrag und seine Folgen gemeint; so war es etwa, da deutsche Sachlieferungen nicht erfolgten, am 9. Januar 1923 zur Ruhrbesetzung durch französische Truppen gekommen.
das große Orchester des öffentlichen Lebens in Deutschland mit üblen, schreienden
Instrumenten besetzt, von schlechten Dirigenten in falschem Tempo geleitet eine
jammervolle Musik vollführt, so bleibt uns einzelnen zunächst nur übrig, uns
auf die Kammermusik des engsten familiären Kreises zurückzuziehen, und dort
auf ein innerlich und äußerlich sauberes und gewissenhaftes Musizieren peinlich
bedacht zu sein. Wenn ich bei dieser Kammermusik in Ihrem kleinen Ensemble
gelegentlich bei der zweiten Geige oder Bratsche aushelfen kann, werde ich
mich glücklich schätzen. Noch schlimmer, oder eigentlich wirklich schlimm wird
es erst dann, wenn wir auch im gänzlich unbegleiteten Solo den rechten
Ton nicht mehr finden. Dann allerdings dürfte es Zeit sein gänzlich ein⸗ zupacken, oder die Instrumente zu zerschlagen. Der Himmel behüte uns davor!
Ihre Schilderung von Paris zeigt mir, daß der Zauber des alten Paris
Leichtentritt hatte 1894 nach Abschluss seines Studiums in Harvard fünf Monate in Paris verbracht (vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 95).
wie
immer unwiderstehlich ist, der Zauber des neuen Paris aber schon etwas an den
„faulen Zauber“ gegrenzt, und eigentlich mehr den materiellen, als den spirituellen
Bedürfnissen Genüge leistet. In der Hoffnung, Sie bald wieder etwas
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Lieber und verehrter Meister und Freund!
Seit vier Wochen ungefähr höre ich ohne Variationen die nämliche Melodie,
dass Sie unmittelbar vor Ihrer Rückkehr
nach Berlin sind.
Busoni war mit seiner Frau Gerda zu Erholungszwecken für sechs Wochen nach Paris gereist, hatte aber auch dort viel für eine anstehende Konzertreise in Finnland geübt (vgl. Stuckenschmidt 1967, S. 52).
Jeden dritten Tag
fürchtete ich, mit einem etwaigen Brief nach Paris zu spät zu kommen. Ich hätte
aber doch riskieren sollen, in den Quartsextakkord der Kadenz hineinzufahren.
Nun bin ich aus übergroßer Vorsicht, wie es scheint, nach wirklich erfolgter Kadenz
nur zum Trugschluss gekommen, und anstatt Ihnen gut gemeinte Wünsche für
den Pariser Aufenthalt zu übermitteln, wird es schicklicher sein, Sie in dem
zur Zeit sehr wenig anheimelnden Berlin zu bewillkommnen und Ihnen
zu wünschen, dass die nicht zu zählenden atonalen Diskorde des täglichen
Lebens
Im November 1923 war der Höhepunkt der Inflation erreicht; am 15. November 1923 wurde die Reichsmark eingeführt, welche die Inflation beendete. Zwar spielt Leichtentritt hier vermutlich vor allem auf die politische und wirtschaftliche Lage in der Weimarer Republik an, scheint aber mehr als nur metaphorisch die musikalischen Entwicklungen dabei mitzumeinen. Seine Einstellung gegenüber Neuer Musik in Deutschland und ihrer „strange yet fascinating atmosphere“ speziell in Berlin (vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 387) war jedoch alles andere als rundweg ablehnend (vgl. Leichtentritt 1924).
Ihrem modern geschulten Ohr als ein wennschon nicht liebliches, so doch
merkwürdiges und neuartiges Klanggebilde (zwar ein schwacher Trost) erscheinen
mögen. Nachdem das große „europäische Konzert“ bankrott gemacht hat,
Mit dem „europäischen Konzert“ sind vermutlich, neben der Inflation in der Weimarer Republik, der Versailler Vertrag und seine Folgen gemeint; so war es etwa, da deutsche Sachlieferungen nicht erfolgten, am 9. Januar 1923 zur Ruhrbesetzung durch französische Truppen gekommen.
das große Orchester des öffentlichen Lebens in Deutschland mit üblen, schreienden
Instrumenten besetzt, von schlechten Dirigenten in falschem Tempo geleitet eine
jammervolle Musik vollführt, so bleibt uns einzelnen zunächst nur übrig, uns
auf die Kammermusik des engsten familiären Kreises zurückzuziehen und dort
auf ein innerlich und äußerlich sauberes und gewissenhaftes Musizieren peinlich
bedacht zu sein. Wenn ich bei dieser Kammermusik in Ihrem kleinen Ensemble
gelegentlich bei der zweiten Geige oder Bratsche aushelfen kann, werde ich
mich glücklich schätzen. Noch schlimmer, oder eigentlich wirklich schlimm wird
es erst dann, wenn wir auch im gänzlich unbegleiteten Solo den rechten
Ton nicht mehr finden. Dann allerdings dürfte es Zeit sein, gänzlich einzupacken, oder die Instrumente zu zerschlagen. Der Himmel behüte uns davor!
Ihre Schilderung von Paris zeigt mir, dass der Zauber des alten Paris
Leichtentritt hatte 1894 nach Abschluss seines Studiums in Harvard fünf Monate in Paris verbracht (vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 95).
wie
immer unwiderstehlich ist, der Zauber des neuen Paris aber schon etwas an den
„faulen Zauber“ grenzt und eigentlich mehr den materiellen als den spirituellen
Bedürfnissen Genüge leistet. In der Hoffnung, Sie bald wieder etwas
erfrischt von der Pariser Muße wiederzusehen, begrüße ich
Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin mit den herzlichsten
Willkommensgrüßen
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<note type="commentary" resp="#E0300314">Über das hier verwendete personalisierte Briefpapier mit <placeName key="E0500115">Amsterdamer</placeName> Adressvordruck verfügte <persName key="E0300093">Leichtentritt</persName> noch von seiner Einladung zum <persName>Mahler</persName>-Fest anlässlich des 25. Jubiläums von <persName key="E0300611">Willem Mengelberg</persName> beim <orgName key="E0600169">Concertgebouw-Orchester</orgName> (<date when-iso="1920-05-06/1920-05-21">6.–21. Mai 1920</date>); <bibl>vgl. <ref target="#E0800277"/>, S. 360 f.</bibl></note>
<fw><address><addrLine rend="strikethrough small"><placeName key="E0500673">Van Eeghenstraat 101</placeName></addrLine></address></fw>
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<salute rend="indent-2-first space-above">Lieber und verehrter Meister und Freund!</salute>
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<p rend="indent-first">Seit vier Wochen ungefähr höre ich ohne Variationen die nämliche Melodie,
<lb/>da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> Sie unmittelbar vor Ihrer Rückkehr
nach <placeName key="E0500029">Berlin</placeName> sind.
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<!-- wie sind die genauen Reisedaten? -->
Jeden dritten Tag
<lb/>fürchtete ich<reg>,</reg> mit einem etwaigen Brief nach <placeName key="E0500012">Paris</placeName> zu spät zu kommen. Ich hätte
<lb/>aber doch riskieren sollen, in den Quartsextakkord der Kadenz hineinzufahren.
<lb/>Nun bin ich aus übergroßer Vorsicht, wie es scheint<reg>,</reg> nach wirklich erfolgter Kadenz
<lb/>nur zum Trugschlu<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> gekommen, und anstatt Ihnen gut<reg> </reg>gemeinte Wünsche für
<lb/>den <placeName key="E0500012">Pariser</placeName> Aufenthalt zu übermitteln<reg>,</reg> wird es schicklicher sein, Sie in dem
<lb/>zur Zeit sehr wenig anheimelnden <placeName key="E0500029">Berlin</placeName> zu bewillkommnen<orig><subst><del rend="overwritten">.</del><add place="across">,</add></subst></orig> und Ihnen
<lb/>zu wünschen, da<choice><orig>ß</orig><reg>ss</reg></choice> die nicht zu zählenden atonalen Diskorde des täglichen
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Ihrem modern geschulten Ohr als ein wennschon nicht liebliches, so doch
<lb/>merkwürdiges und neuartiges Klanggebilde (zwar ein schwacher Trost) erscheinen
<lb/>mögen. Nachdem das große <soCalled rend="dq-du"><placeName key="E0500943">europäische</placeName> Konzert</soCalled> bankrott gemacht hat,
<note type="commentary" resp="#E0300418">Mit dem <q><placeName key="E0500943">europäischen</placeName> Konzert</q> sind vermutlich, neben der Inflation in der <placeName key="E0500144">Weimarer</placeName> Republik, der <placeName key="E0500675">Versailler</placeName> Vertrag und seine Folgen gemeint; so war es etwa, da deutsche Sachlieferungen nicht erfolgten, am <date when-iso="1923-01-09">9. Januar 1923</date> zur Ruhrbesetzung durch französische Truppen gekommen.</note>
<lb/>das große Orchester des öffentlichen Lebens in <placeName key="E0500015">Deutschland</placeName> mit üblen, schreienden
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<lb/>auf ein innerlich und äußerlich sauberes und gewissenhaftes Musizieren peinlich
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<lb/>gelegentlich bei der zweiten Geige oder Bratsche aushelfen kann, werde ich
<lb/>mich glücklich schätzen. Noch schlimmer, oder eigentlich wirklich schlimm wird
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<lb/>Ton nicht mehr finden. Dann allerdings dürfte es Zeit sein<reg>,</reg> gänzlich ein
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Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin mit den herzlichsten
Willkommensgrüßen
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
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Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2772-Beil.
Mus.ep. H. Leichtentritt 15
Nachlaß Busoni B II
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