Philipp Jarnach an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

28. August 1920

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N.Mus.Nachl. 30, 118
Polling, den 28 Aug. 1920

Mein verehrter Meister und Freund!

Ich schreibe Ihnen noch diesen Brief, obwohl
unsere Rückreise unmittelbar bevorsteht und
ich hoffen will, dass wir Sie noch in Zürich
treffen werden. Wir willen Dienstag fahren, –
von Buchloe aus – und wenn wir das erste
Schiff in Lindan erreichen, so treffen wir wir um 6 Uhr abends in Zurich ein.

Ich danke Ihnen herzlich für Ihren lieben
Brief; auch wir möchten sehr gern nach
Berlin übersiedeln, und ich hoffe, dass sich
dieser Plan wird verwirklichen lassen, trotz-
dem ich noch nicht weiss, wie dies geschehen
könnte. Bayern ist für den Musiker wenig
verlockend; wie Sie ganz richtig bemerken,
bleibt Bayreuth – trotz dem materiellen
Zusammenbruch der Festspiele – vorderhand
noch das okkulte Zentrum hiesiger Kunst=

Polling, den 28. August 1920

Mein verehrter Meister und Freund!

Ich schreibe Ihnen noch diesen Brief, obwohl unsere Rückreise unmittelbar bevorsteht und ich hoffen will, dass wir Sie noch in Zürich treffen werden. Wir willen Dienstag fahren, – von Buchloe aus – und wenn wir das erste Schiff in Lindan erreichen, so treffen wir um 6 Uhr abends in Zurich ein.

Ich danke Ihnen herzlich für Ihren lieben Brief; auch wir möchten sehr gern nach Berlin übersiedeln, und ich hoffe, dass sich dieser Plan wird verwirklichen lassen, trotzdem ich noch nicht weiß, wie dies geschehen könnte. Bayern ist für den Musiker wenig verlockend; wie Sie ganz richtig bemerken, bleibt Bayreuth – trotz dem materiellen Zusammenbruch der Festspiele – vorderhand noch das okkulte Zentrum hiesiger Kunst= ausübrung. Darüber lassen die Artikel des Herrn Ehlers, sowie die Programme des Prinzregenten=Theaters keinen Zweifel. Am 13 sahen wir in München "Oberon" unter Bruno Walter. Abgesehen von der geschickten Ausstattung und einer teilweise befriedigenden Regie, war das ein betrübendes Erlebnis. Armer Weber! Wo blieb die Schlankheit, der feurige Schwung, und die Poesie?? Die schwarzen Rockschösse des Dirigenten hingen bleiern herab, ihre gewichtige Würde erdrückte das Orchester. Nach diesem Abenteuer hielt ich es für geboten, mich von einer, einige Tage später stattfindenden Aufführung des "Don Giovanni" fernzuhalten, und fuhr nach Schloss Linderhof. Dort blieb uns die Lohengrin=Grotte nicht erspart; zwischen Gips-Stalaktiten und künstlichen Korallenzweigen hängt ein Riesengemälde, den Tannhaüser im Venusberg darstellend. Ein groteskes Fahrzeug schwimmt auf einem Suppenteller voll Wasser. Nur der Schwan ist nicht zu sehen; es wurde uns aber versichert, dass er bei Königs Zeiten nicht gefehlt habe.

Schweigen wir.– Ich erinnere mich, dass wir einmal von der Verwendung des Klaviers in der Kammermusik sprachen. Ich aüsserte die Ansicht, dass es im Trio oder Quartett disproportioniert erscheine und den Stil ungünstig beeinflusse. Sie sagten dagegen, man könnte durch verfeinerte Behandlung des Instrumentes, (Vermeidung akkordlicher Breite, u.s.w.) diese Nachteile aufheben. Wie richtig das ist, empfand ich beim Lesen einer herrlichen Stelle in Mozarts Trio, K.V. 496.– In extenso schicke ich sie Ihnen. Ich habe da die Empfindung vollkommener Schönheit.– Vom 5. Takt an spielt das Klavier die Rolle der Viola und 2. Geige im Streichquartett, – und hat, diesen gegenüber den Vorzug des Klangkontrastes. Eher könnte man an Holzbläser denken. Diese so eigentümlich leuchtende Stelle hat in mir fast den Wunsch erweckt, ein Kammermusikstück zu schreiben, in welchem der Klavierpart ausschliesslich polyphon wäre. Welche überraschende Möglichkeiten liegen da noch verborgen!...

Dieser Brief wird wahrscheinlich wenige Stunden vor mir Zürich erreichen. Ich kann nicht glauben, dass ich ein solches Pech haben könnte, Sie nicht mehr dort zu treffen, habe vielmehr die frohe Zuversicht, Sie in wenigen Tagen zu sehen! Empfangen Sie, bitte, sowie Frau Busoni unsere herzlichsten Grüße.

Ihr treu ergebener

Philipp J.


                  Wolfgang Amadeus Mozart,
                  Klaviertrio Nr. 2 G-Dur KV 496, 3. Allegretto, Variation IV, T. 9–19

                  Wolfgang Amadeus Mozart,
                  Klaviertrio Nr. 2 G-Dur KV 496, 3. Allegretto, Variation IV, T. 20–22
                                                                
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Ehlers, sowie die Programme des Prinzregenten=-
Theaters keinen Zweifel. Am 13 sahen wir
in München "Oberon" unter Bruno Walter.
Abgesehen von der geschickten Ausstattung
und einer teilweise befriedigenden Regie, war
das ein betrübendes Erlebnis. Armer Weber!
Wo blieb die Schlankheit, der feurige Schwung,
und die Poesie?? Die schwarzen Rockschösse
des Dirigenten hingen bleiern herab, ihre
gewichtige Würde erdrückte das Orchester.
Nach diesem Abenteuer hielt ich es für
geboten, mich von einer, einige Tage später
stattfindenden Aufführung des "Don Giovanni"
fernzuhalten, und fuhr nach Schloss
Linderhof. Dort blieb uns die Lohengrin=-
Grotte nicht erspart; zwischen Gips-Stalaktiten
und künstlichen Korallenzweigen hängt
ein Riesengemälde, den Tannhaüser
im Venusberg darstellend. Ein groteskes

                                                                
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Fahrzeug schwimmt auf einem Suppenteller
voll Wasser. Nur der Schwan ist nicht
zu sehen; es wurde uns aber versichert,
dass er bei Königs Zeiten nicht gefehlt
habe.

Schweigen wir.– Ich erinnere mich, dass
wir einmal von der Verwendung des
Klaviers in der Kammermusik sprachen.
Ich aüsserte die Ansicht, dass es im Trio
oder Quartett disproportioniert erscheine
und den Stil ungünstig beeinflusse. Sie
sagten dagegen, man könnte durch
verfeinerte Behandlung des Instrumentes,
(Vermeidung akkordlicher Breite, u.s.w.) diese
Nachteile aufheben. Wie richtig das ist, emp-
fand ich beim Lesen einer herrlichen Stelle
in Mozarts Trio, K.V. 496.– In extenso schicke
ich sie Ihnen. Ich habe da die Empfindung
vollkommener Schönheit.– Vom 5. Takt an
spielt das Klavier die Rolle der Viola und 2. Geige

                                                                
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im Streichquartett, – und hat, diesen gegenüber
den Vorzug des Klangkontrastes. Eher könnte
man an Holzbläser denken. Diese so eigentüm-
lich leuchtende Stelle hat in mir fast den
Wunsch erweckt, ein Kammermusikstück
zu schreiben, in welchem der Klavierpart
ausschliesslich polyphon wäre. Welche über-
raschende Möglichkeiten liegen da noch
verborgen!...

Dieser Brief wird wahrscheinlich wenige
Stunden vor mir Zürich erreichen.
Ich kann nicht glauben, dass ich ein
solches Pech haben könnte, Sie nicht
mehr dort zu treffen, habe vielmehr
die frohe Zuversicht, Sie in wenigen
Tagen zu sehen! Empfangen Sie, bitte,
sowie Frau Busoni unsere herzlichsten
Grüsse.

Ihr treu ergebener

Philipp J.

Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                
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                  Klaviertrio Nr. 2 G-Dur KV 496, 3. Allegretto, Variation IV, T. 9–19
                                                                
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                  Wolfgang Amadeus Mozart,
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,118 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
, 4 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen, eine Foliierung vorgenommen und das Briefdatum ergänzt hat
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
2. Mai 2022: in Bearbeitung (in der Erfassungs-/Codierungsphase)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition