Ferruccio Busoni an Philipp Jarnach arrow_backarrow_forward

Zürich · vmtl. 4. Juni 1920

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Diplomatische Umschrift
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N.Mus.Nachl. 30, 58

Mein lieber Freund, ich muss versuchen, mir die Dinge
nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen,
denn ich verzehre mich langsam daran: ich fühl’ es; Auch
das letzte Inzident In der Pause des Konzerts oder nach der Uraufführung von Jarnachs Sinfonia brevis am 31.5.1920 in Zürich muss Busoni sich „so negativ über das Werk ausgesprochen haben, daß Amalie Jarnach aufgebracht die Gruppe verließ“ (Weiss 1996, S. 75). zwischen unds, u. selbst Ihren Brief mit
Gleichmuth zu tragen, denn es würde mich sonst sehr betrüben.

Die Stellen, die in Ihrem Werke mir
gefielen, gefallen mir noch; sie stachen beim Hören nicht
ab hervor, hoben sich nicht von der Umgebung ab, sprangen
nicht in’s Ohr: dies war der Eindruck. – Man sollte athmen
„lernen“, wie der Sänger; wenngleich Athmen natürlich u. ange-
boren ist. Busoni hat im Manuskript von Jarnachs Sinfonia brevis Phrasierungs- und Dynamikhinweise eingefügt (vgl. Knyt 2017, S. 240). – Was Sie an […] mindestens 1 Zeichen: unleserlich. Können, an ethischem Ernste, Selbststrenge
besitzen u. üben, schätze u. bewundere ich ohne Einschränkung,
und ohne Übertreibung. Ich sagte Ihnen, dass ich von Ihnen
~ Mehr und Anderes ~
erwartete: ist dies nicht dasie grössere Anerkennung? –
Ich las irgendwo: die Betrachtung eines guten Kunst-
werkes muss die Vorstellung eines anderen, darüber
schwebenden, erwecken, das das gesehene übertrifft.
– Auch dieses traf bei Ihnen, undmit mir, vollkommen ein.

– Über meine ungestüme Äusserung hattbe ich
mich schon einmal entschuldigt und erklärt; ich
thu’s noch einmal; aber Sie wissen dass wie oft
ich durch meinen „Freimut“ mich selbst kompromit-
tiere, offenbaren Misverständnissen mich preisgebe.
Ich gebe auch zu, dass ich mit Beziehung auf
Jüngere, Freunde und Mitlebende, weiser sein
sollte – wenngleich ich ×es zum diplomatischen
Schweigen allenfalls, aber nicht zur Lüge bringen
[…] höchstens 1 Zeichen: unleserlich. werde. – Ich erwarte Sie also gern mit
Lünings M. S. u. wenn möglich der erbetenen
Faust-Liszt-Partitur. – Heute Abends liest
Jakob Wassermann Neues Eigenes Vermutlich aus der Erzählungen-Sammlung Der Wendekreis (Erste Folge), erschienen im Herbst 1920. bei mir vor. –

Grüßen Sie Ihre liebe Frau. In herzlicher Freundschaft

Ihr
F. Busoni

Mein lieber Freund,

ich muss versuchen, mir die Dinge nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen, denn ich verzehre mich langsam daran: ich fühl’ es; auch das letzte Inzident In der Pause des Konzerts oder nach der Uraufführung von Jarnachs Sinfonia brevis am 31.5.1920 in Zürich muss Busoni sich „so negativ über das Werk ausgesprochen haben, daß Amalie Jarnach aufgebracht die Gruppe verließ“ (Weiss 1996, S. 75). zwischen uns, und selbst Ihren Brief mit Gleichmut zu tragen, denn es würde mich sonst sehr betrüben.

Die Stellen, die in Ihrem Werke mir gefielen, gefallen mir noch; sie stachen beim Hören nicht hervor, hoben sich nicht von der Umgebung ab, sprangen nicht ins Ohr: Dies war der Eindruck. – Man sollte atmen „lernen“, wie der Sänger; wenngleich Atmen natürlich und angeboren ist. Busoni hat im Manuskript von Jarnachs Sinfonia brevis Phrasierungs- und Dynamikhinweise eingefügt (vgl. Knyt 2017, S. 240). – Was Sie an Können, an ethischem Ernste, Selbststrenge besitzen und üben, schätze und bewundere ich ohne Einschränkung, und ohne Übertreibung. Ich sagte Ihnen, dass ich von Ihnen mehr und anderes erwartete: Ist dies nicht die größere Anerkennung? – Ich las irgendwo: die Betrachtung eines guten Kunstwerkes muss die Vorstellung eines anderen, darüber schwebenden, erwecken, das das Gesehene übertrifft. – Auch dieses traf bei Ihnen, mit mir, vollkommen ein.

Über meine ungestüme Äußerung habe ich mich schon einmal entschuldigt und erklärt; ich tu’s noch einmal; aber Sie wissen, wie oft ich durch meinen „Freimut“ mich selbst kompromittiere, offenbaren Missverständnissen mich preisgebe. Ich gebe auch zu, dass ich mit Beziehung auf Jüngere, Freunde und Mitlebende, weiser sein sollte – wenngleich ich es zum diplomatischen Schweigen allenfalls, aber nicht zur Lüge bringen werde. – Ich erwarte Sie also gern mit Luenings Manuskript und wenn möglich der erbetenen Faust-Liszt-Partitur. – Heute abends liest Jakob Wassermann neues Eigenes Vermutlich aus der Erzählungen-Sammlung Der Wendekreis (Erste Folge), erschienen im Herbst 1920. bei mir vor. –

Grüßen Sie Ihre liebe Frau. In herzlicher Freundschaft

Ihr F. Busoni

                                                                
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2Diplomatische Umschrift
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Nach der Aufführung
meiner „Sinfonia brevis“
(Frühjahr 1920?)
Preußischer
Staats-
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                
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Dokument

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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,58 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
1 Blatt, 1 beschriebene Seite
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Empfängers Philipp Jarnach, der mit Bleistift einen Datierungsversuch eingetragen hat
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signatur eingetragen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 12

Zusammenfassung
Busoni entschuldigt sich erneut für seine offene Kritik an Jarnachs Sinfonia brevis; ermutigt ihn, „mehr und anderes“ zu komponieren; bedauert, „wie oft ich durch meinen ‚Freimut‘ mich selbst kompromittiere“; erwartet Jarnach mit Noten von Franz Liszt und Otto Luening.
Incipit
ich muss versuchen, mir die Dinge

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
14. Februar 2022: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition