Kurt Weill an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Berlin · Oktober 1923

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Mus.ep. K. Weill 5 (Busoni–Nachl. B II)
Mus. Nachl. F. Busoni B II, 5362
[1]
[ca. Okt. 1923]
Berlin

Mein verehrter Meister,


es gibt nur eine Entschuldigung für mein langes
Schweigen: das ist der Wunsch, Sie vor Lamenta-
tionen zu bewahren. Es sah hier fast so aus, als
ob keine Hoffnung mehr sei; der Übergang von
der Million zur Milliarde war so gewaltsam, Infolge der deutschen Hyperinflation Anfang Oktober 1923 lag der Wechselkurs zum Dollar erstmals bei über einer Milliarde Mark (vgl. Feldman 1993, S. 5). dass
er selbst Leute, denen Gelddinge gleichgültig
sind, fassungslos machte. Jetzt hat man sich auch
daran gewöhnt u. greift nach neuen Strohhalmen.
Vom Ausland wird sich alles noch schlimmer
ansehen, als es ist. Schliesslich, kann dieses Land
kaum verloren hat sein, wenn es die jüngsten
Krisen überstanden hat; u. die Geduld dieser
Bevölkerung ist bewundernswürdig.


Berlin hat sich – soweit man das von hier aus Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
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Mein verehrter Meister,

es gibt nur eine Entschuldigung für mein langes Schweigen: das ist der Wunsch, Sie vor Lamentationen zu bewahren. Es sah hier fast so aus, als ob keine Hoffnung mehr sei; der Übergang von der Million zur Milliarde war so gewaltsam, Infolge der deutschen Hyperinflation Anfang Oktober 1923 lag der Wechselkurs zum Dollar erstmals bei über einer Milliarde Mark (vgl. Feldman 1993, S. 5). dass er selbst Leute, denen Gelddinge gleichgültig sind, fassungslos machte. Jetzt hat man sich auch daran gewöhnt und greift nach neuen Strohhalmen. Vom Ausland wird sich alles noch schlimmer ansehen, als es ist. Schließlich kann dieses Land kaum verloren sein, wenn es die jüngsten Krisen überstanden hat; und die Geduld dieser Bevölkerung ist bewundernswürdig.

Berlin hat sich – soweit man das von hier aus beurteilen kann – seit Ihrer Abreise Busoni brach im Oktober zu einer letzten größeren Reise auf und verbrachte 6 Wochen in Paris. kaum verändert. Die Konzertsaison hat mit demselben Wagemut wie immer begonnen. Bruno Walter, der seine Entwicklung zum amerikanischen Heldentenor jetzt zu vollenden scheint, dirigiert Mozart überpräzise, manieriert und zuckersüß. Ich kann diesen Typus „mauschelnder“ Dirigenten nicht leiden, deren Geist nichts zu tun hat, als sich einen Spiegel zu schaffen, in dem sie ihre eigene schöne Rückenlinie bewundern. Ich bin manchmal versucht, zu bezweifeln, dass Mahler von diesem Fehler ganz frei war; oder darf man aus den Kompositionen keinen Rückschluss auf den Interpreten wagen? Schnabel scheint mir gegen früher – in seinem Spiel! – männlicher, bestimmter geworden zu sein, es gelingt ihm alles, wie er es beabsichtigt, aber die Mängel liegen in der Absicht selbst und die ist Sache der Grundeinstellung, des Temperaments. Claudio Arrau müht sich redlich, in Ihrem Geiste zu spielen; das gelingt ihm weniger in Ihrer Carmen, als in Liszts Don Juan–Fantasie.

Ja, und der neue Generalissimus der Oper! Von der ausgezeichneten Fidelio–Aufführung erzählte ich Ihnen. Aida hat mir weniger gefallen, denn Verdi verträgt nicht dieses Stilisieren, dieses Hineinknien in jede Phrase und wenn einer ein deutscher Kapellmeister ist, so kann er auch durch die willkürlichsten Temposchwankungen kein italienisches Theaterblut vortäuschen. Und doch ist Kleiber ein famoser Musiker und auch der richtige Mann am Ort, weil er von unten auf das Repertoire erneuert. Vorläufig lässt er sämtliche Bayreuther Viertel–, Halb–, Dreiviertel– und Ganzgötter der Reihe nach aufmarschieren.

Ein Blick auf das Publikum der Konzertsäle genügt, um zu erkennen, dass dieses Berlin die Musik nicht aufgeben wird. Freilich sitzen in den Philharmonischen Konzerten noch die Scharen, die bei Mozart „niedlich“, bei Beethoven heroisch und bei Bach streng auszusehen versuchen; das linke Bein klopft die Viertel dazu und die rechte Hand klimpert die Achtel. Aber allen Gesichtern gemeinsam ist ein rührender Ausdruck von Glückseligkeit, dass sie bei allem Geschehen noch in einem erleuchteten Konzertsaal sitzen und Musik hören dürfen. Dadurch wird das Urteil des Laien naiver, aufrichtiger und – wertvoller für den Künstler. Und an den Kassen hört man Fantasiepreise für Billets. (Bis zu einer Milliarde am Montag abend).

Von mir gibt es wenig neues zu berichten. Den Kampf um ein Zimmer gebe ich jetzt auf und bleibe vorläufig hier in der Wohnung meiner Freunde. An Arbeiten war kaum zu denken, obwohl ich in guter Verfassung dazu wäre. Aber gelesen habe ich Manches: viel Mozart-Quartette, unter denen ich dem in C dur aus dem Jahre 1785 die Palme reiche; Sie erinnern sich an die Adagio-Einleitung mit dem berühmten Querstand am Anfang – einer der ergriffensten und dabei kühnsten Sätze, die ich kenne. Dann viel Berlioz-Partituren; da ist mir nun aufgegangen, dass es einen Instrumentations-Stil nicht gibt, sondern nur eine bestimmte Art, für Orchester zu komponieren, so wie der Maler bei einer Radierung anders zeichnet, als bei einer Bleistiftskizze.

Die 7 Lieder mit Bläserbegleitung Sieben Gedichte des Mittelalters vertont für Sopran, Flöte, Klarinette, Horn, Fagott und Viola. die ich unter dem Titel „Frauentanz“ zusammengefasst habe, gefallen allgemein. Besonders Jarnach hält sie für das beste, was er von mir kennt. Den Gedanken eines Intermezzos Eines der geplanten, dann aber nicht ausgeführten instrumentalen Zwischenstücke für den Liederzyklus Frauentanz. Ein Stück gleichen Titels hatte Weill 1917 für Klavier komponiert. Vgl. Theurich (1988), S. 25. habe ich mir aus dem Kopf geschlagen, nachdem ich für diesen Zweck vier verschiedene Stücke geschrieben hatte. Für den Fall, dass eine Aufführung zustande kommt, bin ich auf der Suche nach einer geeigneten Sängerin; wenn ich in Betracht ziehe, dass die Lieder ohne jede Sentimentalität, mit einer schlanken, leichten und doch ausdrucksvollen Stimme gesungen werden müssten, so bleibt in Berlin außer der Artôt de Padilla Lola Artôt de Padilla war von 1902-1927 an der Berliner Staatsoper engagiert. Weill ist mit ihr durch Busoni in Berührung gekommen, der Lola Artôt de Padilla sehr geschätzt hat. kaum jemand übrig. Glauben Sie, dass sie es tun würde? Was den Verleger Das Schwanken Weills zwischen dem Leipziger Verlag Breitkopf und Härtel als Busonis Verleger und der Universal Edition Wien läßt darauf schließen, daß er zu diesem Zeitpunkt noch keine festen Bindungen an einen Verlag hatte. Vgl. Theurich (1988) S. 25. betrifft, so schwanke ich noch zwischen einem Versuch bei Breitkopfs, deren vornehme, solide Art mir doch sehr sympathisch ist, und einer neuen Attacke auf die Universal-Edition.

Ich bin sehr glücklich, durch Lello Lello ist der Spitzname des zweiten Sohns von Busoni. Er war mit Weill befreundet. zu erfahren, dass Sie sich wohlbefinden, und hoffe bestimmt, dass ein schöner Pariser Herbst Ihre Rekonvaleszenz vollenden hilft. Der Plan, Sie dort einmal überraschend zu besuchen, wird immer unmöglicher auszuführen, obwohl ich das Reisegeld fast beisammen hatte und alles schön ausgedacht war. So bleibt mir nichts, als Sie von hier aus mit den schönsten Wünschen, auch für Frau Busoni, zu begrüssen als Ihr herzlich ergebener

                                                                
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Die Konzertsaison hat mit demselben Wagemut wie
immer begonnen. Bruno Walter, der seine Entwicklung
zum amerikanischen Heldentenor jetzt zu vollenden
scheint, dirigiert Mozart überpräzise, maniriert u.
zuckersüss. Ich kann diesen Typus „mauschelnder“
Dirigenten nicht leiden, deren Geist nichts zu tun
hat, als sich einen Spiegel zu schaffen, in dem sie
ihre eigene schöne Rückenlinie bewundern. Ich bin
manchmal versucht, zu bezweifeln, dass Mahler von
diesem Fehler ganz frei war; oder darf man aus den
Kompositionen keinen Rückschluss auf den Interpreten
wagen? – Schnabel scheint mir gegen früher – in
seinem Spiel! – männlicher, bestimmter geworden zu
sein, es gelingt ihm alles, wie er es beabsichtigt,
aber die Mängel liegen in der Absicht selbst, u.

                                                                
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die ist Sache der Grundeinstellung, des Temperaments.
Claudio Arrau müht sich redlich, in Ihrem Geiste zu
spielen; das gelingt ihm weniger in Ihrer Carmen,
als in Liszts Don Juan–Fantasie.

Ja, und der neue Generalissimus der Oper! Von der
ausgezeichneten Fidelio–Aufführung erzählte ich Ihnen.
Aida hat mir weniger gefallen, denn Verdi verträgt
nicht dieses Stilisieren, dieses Hineinknieen in jede
Phrase, u. wenn einer ein deutscher Kapellmeister ist,
so kann er auch durch die willkürlichsten Temposchwan-
kungen kein italienisches Theaterblut vortäuschen. Und
doch ist Kleiber ein famoser Musiker u. auch der
richtige Mann am Ort, weil er von unten auf das
Repertoire erneuert. Vorläufig lässt er sämtliche Bayreu-
ther
Viertel–, Halb–, Dreiviertel– u. Ganzgötter der
Reihe nach aufmarschieren.

Deutsche
Staats ·
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Berlin
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Ein Blick auf das Publikum der Konzertsäle genügt, um
zu erkennen, dass dieses Berlin die Musik nicht aufgeben
wird. Freilich sitzen in den Philharmonischen Konzerten
noch die Scharen, die bei Mozart „niedlich“, bei Beethoven
heroisch u. bei Bach streng auszusehen versuchen; das linke
Bein klopft die Viertel dazu u. die rechte Hand klimpert
die Achtel. Aber allen Gesichtern gemeinsam ist ein rüh-
render Ausdruck von Glückseligkeit, dass sie bei allem
Geschehen noch in einem erleuchteten Konzertsaal sitzen
u. Musik hören dürfen. Dadurch wird das Urteil des
Laien naiver, aufrichtiger u. – wertvoller für den Künstler.
Und an den Kassen hört man Fantasiepreise für Billets.
(Bis zu einer Milliarde am Montag abend).

Von mir gibt es wenig neues zu berichten. Den Kampf
um ein Zimmer gebe ich jetzt auf u. bleibe vorläufig hier
in der Wohnung meiner Freunde. An Arbeiten war kaum
zu denken, obwohl ich in guter Verfassung dazu wäre.

                                                                
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B II, 5362
Aber gelesen habe ich Manches: viel Mozart-Quartette,
unter denen ich dem in C dur aus dem Jahre 1785 die
Palme reiche; Sie erinnern sich an die Adagio-Einleitung
mit dem berühmten Querstand am Anfang – einer der er-
griffensten u. dabei kühnsten Sätze, die ich kenne. Dann
viel Berlioz-Partituren; da ist mir nun aufgegangen,
dass es einen Instrumentations-Stil nicht gibt, sondern
nur eine bestimmte Art, für Orchester zu komponieren,
so wie der Maler bei einer Radierung anders zeichnet,
als bei einer Bleistiftskizze.

Die 7 Lieder mit Bläserbegleitung Sieben Gedichte des Mittelalters vertont für Sopran, Flöte, Klarinette, Horn, Fagott und Viola. die ich unter dem
Titel „Frauentanz“ zusammengefasst habe, gefallen allgemein.
Besonders Jarnach hält sie für das beste, was er von mir
kennt. Den Gedanken eines Intermezzos Eines der geplanten, dann aber nicht ausgeführten instrumentalen Zwischenstücke für den Liederzyklus Frauentanz. Ein Stück gleichen Titels hatte Weill 1917 für Klavier komponiert. Vgl. Theurich (1988), S. 25. habe ich mir aus
dem Kopf geschlagen, nachdem ich für diesen Zweck
vier verschiedene Stücke geschrieben hatte. Für den Fall,
dass eine Aufführung zustande kommt, bin ich auf der

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Suche nach einer geeigneten Sängerin; wenn ich in Betracht
ziehe, dass die Lieder ohne jede Sentimentalität, mit einer
schlanken, leichten u. doch ausdrucksvollen Stimme gesungen
werden müssten, so bleibt in Berlin ausser der Artôt de Padilla Lola Artôt de Padilla war von 1902-1927 an der Berliner Staatsoper engagiert. Weill ist mit ihr durch Busoni in Berührung gekommen, der Lola Artôt de Padilla sehr geschätzt hat.
kaum jemand übrig. Glauben Sie, dass sie es tun würde?
Was den Verleger Das Schwanken Weills zwischen dem Leipziger Verlag Breitkopf und Härtel als Busonis Verleger und der Universal Edition Wien läßt darauf schließen, daß er zu diesem Zeitpunkt noch keine festen Bindungen an einen Verlag hatte. Vgl. Theurich (1988) S. 25. betrifft, so schwanke ich noch zwischen
einem Versuch bei Breitkopfs, deren vornehme, solide Art
mir doch sehr sympathisch ist, u. einer neuen Attacke
auf die Universal-Edition.

Ich bin sehr glücklich, durch Lello Lello ist der Spitzname des zweiten Sohns von Busoni. Er war mit Weill befreundet. zu erfahren, dass
Sie sich wohlbefinden, u. hoffe bestimmt, dass ein schöner
Pariser Herbst Ihre Rekonvaleszenz vollenden hilft. Der Plan,
Sie dort einmal überraschend zu besuchen, wird immer un-
möglicher auszuführen, obwohl ich das Reisegeld fast beisammen
hatte u. alles schön ausgedacht war. So bleibt mir nichts, als
Sie von hier aus mit den schönsten Wünschen, auch für Frau
Busoni
, zu begrüssen als Ihr herzlich ergebener

Nachlaß Busoni
                                                                
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Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 5362 | olim: Mus.ep. K. Weill 5 |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
3 Blatt, 6 Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Kurt Weill, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen, eine Foliierung vorgenommen und das Briefdatum ergänzt hat
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Bibliotheksstempel (blaue Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 123456

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
8. Juni 2021: in Bearbeitung (in der Erfassungs-/Codierungsphase)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition
Frühere Ausgaben
Theurich 1990, S. 116 f. Theurich 1998, S. 22–25