Philipp Jarnach to Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Obstalden · June 23, 1917

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N.Mus.Nachl. 30, 92

Verehrter Meister und Freund!

Vielen Dank für Ihre lieben Briefe Briefe Busonis vom 20. und 21. Juni 1917. die ich mit Freude
empfing. Ich werde gewiss in den nächsten Tagen zu Ihnen
kommen; Der persönliche Verkehr mit Ihnen wurde mir
zu einer solchen Quelle geistiger Anregungen dass ich – selbst
abgesehen von der menschlichen Zuneigung – Ihren Umgang
täglich schwerer vermisse. – Ich vergegenwärtige mir genau
wie es war, als ich das erste Mal zu Ihnen kam: Sie traten
im entscheidenden Moment in mein künstlerisches Leben, im
Augenblick wo ich, im Besitze einer gewissen Kompositionstechnik
gelangt, ziemlich ratlos im Chaos jüngster Ueberlieferungen hin
und her schwankte. Sie lehrten mich vor allem das Eine: die
unabänderlichen Wertmesser der Kunst zu erkennen. Das hätte
mir aber kein Anderer schenken können! – Sie werden nun
wohl glauben dass mir nichts ferner liegt, als eine „Lebensan⸗
schauung“
in Musik setzen zu wollen. Von einer solchen dürfte
übrigens im chinesischen Buche Busonis Libretto Das Wandbild beruht auf einem altchinesischen Märchen. kaum die Rede sein: Es scheint
mir dass „Lebensanschauung“ gleichbedeutend ist mit „System“,
d. i. Willkür – es hat mich so gefreut, dass auch Sie das Wort
ablehnen! – Vgl. Busonis Äußerungen zum Begriff „Weltanschauung“ im vorherigen Brief. während eine Tendenz, die im Wesen einer ganzen
Rasse oder eines ganzen Zeitalters liegt, eher einem Entwicklungs⸗
gesetz zuzuschreiben wäre. Demnach sind Ausdrücke wie z. B.

Verehrter Meister und Freund!

Vielen Dank für Ihre lieben Briefe, Briefe Busonis vom 20. und 21. Juni 1917. die ich mit Freude empfing. Ich werde gewiss in den nächsten Tagen zu Ihnen kommen; der persönliche Verkehr mit Ihnen wurde mir zu einer solchen Quelle geistiger Anregungen, dass ich – selbst abgesehen von der menschlichen Zuneigung – Ihren Umgang täglich schwerer vermisse. – Ich vergegenwärtige mir genau, wie es war, als ich das erste Mal zu Ihnen kam: Sie traten im entscheidenden Moment in mein künstlerisches Leben, im Augenblick wo ich, im Besitze einer gewissen Kompositionstechnik gelangt, ziemlich ratlos im Chaos jüngster Überlieferungen hin und her schwankte. Sie lehrten mich vor allem das Eine: die unabänderlichen Wertmesser der Kunst zu erkennen. Das hätte mir aber kein Anderer schenken können! – Sie werden nun wohl glauben, dass mir nichts ferner liegt, als eine „Lebensanschauung“ in Musik setzen zu wollen. Von einer solchen dürfte übrigens im chinesischen Buche Busonis Libretto Das Wandbild beruht auf einem altchinesischen Märchen. kaum die Rede sein: Es scheint mir, dass „Lebensanschauung“ gleichbedeutend ist mit „System“, d. i. Willkür – es hat mich so gefreut, dass auch Sie das Wort ablehnen! –, Vgl. Busonis Äußerungen zum Begriff „Weltanschauung“ im vorherigen Brief. während eine Tendenz, die im Wesen einer ganzen Rasse oder eines ganzen Zeitalters liegt, eher einem Entwicklungsgesetz zuzuschreiben wäre. Demnach sind Ausdrücke wie z. B. griechische Lebensanschauung“ zum mindesten ungenau?

Die Bemerkung in Ihrem ersten Brief: „die Musik ist an sich zugleich traumhaft und wirklich.“ gibt mir Aufschluss über die Richtlinie, die bei der Vertonung des „Wandbildes“ eingehalten werden muss: keine „Gespenstermusik“. Ich hatte zuerst gedacht, dem Ganzen eine verschleierte Atmosphäre zu verleihen, eine „Sinfonie im Zwielicht“ zu schaffen, sehe jetzt aber ein, dass es wohl größtenteils überflüssig wäre. Vgl. Busonis Auffassung, Musik dürfe nicht verdoppeln, was auf der Bühne geschieht (Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 14). Darüber möchte ich gern mit Ihnen sprechen. – Ihre Idee vom Antiquitätenladen gefällt mir sehr; die dadurch bewirkte scharfe Umgrenzung des phantastischen Erlebnisses erhöht zweifellos die Wirkung desselben und nimmt der Handlung den Charakter ausschließlicher Exotik: ein paralleler Gegensatz: hier die Wirklichkeit; dort, im fernen Orient, der Traum. Und es scheint mir, indem ich über Ihre Mitteilung nachdenke, dass man aus dem Antiquar selbst eine interessante Figur machen könnte, welche die ganze Exposition plastisch beleben würde …

Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie sich dieser Sache angenommen; ich freue mich so sehr, über einen Text von Ihnen zu arbeiten! – Nur hoffe ich, dass Sie damit Ihre Zeit nicht opfern? Auf baldigstes Wiedersehen, empfangen Sie die herzlichsten Grüße von uns allen, und insbesondere von Ihrem

Philipp Jarnach

Samstag, den 23.6.1917.
                                                                
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griechische Lebensanschauung“ zum mindesten ungenau?

Die Bemerkung in Ihrem ersten Brief: »die Musik ist
an sich zugleich traumhaft und wirklich.«
gibt mir Aufschluss
über die Richtlinie, die bei der Vertonung des „Wandbildes“
eingehalten werden muss: keine „Gespenstermusik“. Ich hatte
zuerst gedacht, dem ganzen eine verschleierte Atmosphäre zu
verleihen, eine „Sinfonie im Zwielicht“ zu schaffen, sehe
jetzt aber ein, dass es wohl grösstenteils überflüssig wäre. Vgl. Busonis Auffassung, Musik dürfe nicht verdoppeln, was auf der Bühne geschieht (Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 14).
Darüber möchte ich gern mit Ihnen sprechen. – Ihre Idee vom
Antiquitätenladen gefällt mir sehr; die dadurch bewirkte
scharfe Umgrenzung des phantastischen Erlebnisses erhöht
zweifellos die Wirkung desselben und nimmt der Handlung
den Charakter ausschliesslicher Exotik: ein paralleler Gegen⸗
satz: hier die Wirklichkeit; dort, im fernen Orient, der
Traum. Und es scheint mir, indem ich über Ihre Mittei⸗
lung nachdenke, dass man aus dem Antiquar selbst eine
interessante Figur machen könnte, welche die ganze Exposi⸗
tion plastisch beleben würde …

Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie sich dieser Sache
angenommen; ich freue mich so sehr, über einen Text
von Ihnen
zu arbeiten! – nur hoffe ich dass Sie damit
Ihre Zeit nicht opfern? Auf baldigstes Wiedersehen, empfan⸗
gen Sie die herzlichsten Grüsse von uns allen, und insbe⸗
sondere von Ihrem Preußischer
Staats⸗
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz

Philipp Jarnach

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zu N.Mus.Nachl. 30, 92
Zürich
25.VI.17. XI–
VIII
Brf. Exp.
Preußischer
Staats⸗
bibliothek
zu Berlin
Kulturbesitz
                                                                
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Document

doneStatus: candidate XML Facsimile Download / Cite

Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,92 |

proof Kalliope

Condition
Brief und Umschlag sind gut erhalten; Umschlagaufriss rechts (ohne Textverlust).
Extent
1 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Philipp Jarnach, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)

Summary
Jarnach hebt hervor, wie sehr er von der Bekanntschaft zu Busoni profitiert; geht auf dessen Vorschläge zum als gemeinsames Werk geplanten Wandbild ein.
Incipit
Vielen Dank für Ihre lieben Briefe

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
October 21, 2021: candidate (coding checked, proofread)
Direct context
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