Ferruccio Busoni to Jella Oppenheimer arrow_backarrow_forward

Zürich · October 8, 1915

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Mus.Nachl. F. Busoni B I, 892
1)
8. O. 1915

Verehrteste liebe
Frau Jella,
ich
sandte Ihnen einen
Nothschei
aus Lausanne,
und nun, in Zürich, empfange
ich – aus Amerika zurück-
geworfen – Ihren Brief vom
14. August. Nicht im Nachlass überliefert. – Er ist mir eine
grosse Wohlthat. Ich wusste,
ein halbes Jahr lang, Nichts
von Ihnen! – Hier ist, wenn
auch nicht “der Geist erhoben”, so
doch „die Aussicht frei“ (Faust II): Goethe, Faust II, V. Akt, Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde; Vers 11989 f. (Doctor Marianus):
Hier ist die Aussicht frei,
Der Geist erhoben.

es ist das erste Land, das ich
antreffe, wo man dem Kriege
durchaus verstaendnislos und
nur soweit theilnehmend
gegenüber steht, als es die
eigene Sicherheit betrifft.

Mus.ep. F. Busoni 745 (Busoni-Nachl. B I)
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Zürich, 8. Oktober 1915

Verehrteste liebe Frau Jella,

ich sandte Ihnen einen Notschei aus Lausanne, und nun, in Zürich, empfange ich – aus Amerika zurückgeworfen – Ihren Brief vom 14. August. Nicht im Nachlass überliefert. – Er ist mir eine große Wohlthat. Ich wusste, ein halbes Jahr lang, nichts von Ihnen! – Hier ist, wenn auch nicht „der Geist erhoben“, so doch „die Aussicht frei“ (Faust II): Goethe, Faust II, V. Akt, Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde; Vers 11989 f. (Doctor Marianus):
Hier ist die Aussicht frei,
Der Geist erhoben.
Es ist das erste Land, das ich antreffe, wo man dem Kriege durchaus verständnislos und nur so weit teilnehmend gegenübersteht, als es die eigene Sicherheit betrifft.

Sie sagen, ich hätte die Grenzen meiner Heimat nicht eng gesteckt: Das Ergebnis aber ist in der Tat, dass (wie man es mir zum Bewusstsein bringt) ich gar keine Heimat habe. So habe ich doppelt schwer zu tragen, aber viele haben es weit schwerer; eine Betrachtung, die nur schmerzhaft-versöhnlich ist!

Das Schicksal, das auch gütig sein will, gab mir doch einiges, das mir nicht an den Grenzen weggenommen werden kann: Ich habe ein ansehnliches Hauflein Arbeiten hinübergerettet und einige gute Pläne obendrein, die bald reifen dürften.

Nur ein Heim besitze ich nicht.

Man hat mich hier überaus herzlich empfangen, und ich erkannte Leute, von denen ich es kaum vermutete, als Freunde; derart, dass meine Heimatlosigkeit, in einem Lande, wo ich es weniger erwartete, gemildert sich gestaltet.

Auch erhoffe ich den Besuch älterer und sicherer Freunde: versteige mich zu der Annahme einer Möglichkeit, Sie selbst einmal hier zu sehen!

So will ich die Abwickelung der Ereignisse abwarten, um dann wieder hervorzutreten – vorausgesetzt, dass es damit nicht zu spät werde.

Ich freue mich, dass Sie in Ihrer Umgebung Hofmannsthal, Wassermann haben konnten. Wie sehr habe ich einen solchen Umgang in Amerika vermisst!

Ich bin sehr glücklich, dass solche Männer meiner gedachten. Kurz bevor ich Ihren Brief empfing, erkundigte ich mich, in den Buchhandlungen, nach diesen Autoren. Leider bot sich mir eine erneute Anknüpfung, in der Form von Büchern, nicht.

Ist es nicht tröstlich, dass man voneinander rascher etwas erfahren kann? Meine alte, in Amerika fast verschollene Seele vibriert wie ehemals in mir. Betrachten wir den Augenblick als einen neuen, diesmal wohl endgiltigen, Anfang.

In der schönen Erwartung Ihrer Nachrichten grüße ich Sie verehrungsvoll und in inniger Freundschaft,

als Ihr tief ergebener

Ferruccio B

                                                                
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B I, 892
2)
Zürich, ............

Sie sagen, ich hätte
die Grenzen meiner
Heimath nicht
eng gesteckt: das
Ergebnis aber ist in
der That, dass (wie man es mir zum
Bewusstsein bringt) dass ich gar
keine Heimath habe. So habe ich
doppelt schwer zu tragen, aber
Viele haben es weit schwerer;
eine Betrachtung, die nur
schmerzhaft-versöhnlich ist!

Das Schicksal, das auch
gütig sein will, gab mir doch
Einiges, das mir nicht an
den Grenzen weggenommen
werden kann: ich habe ein
ansehnliches Hauflein Arbeiten
hinübergerettet und einige
gute Pläne obendrein, die
bald reifen dürften. –

Nur ein Heim besitze
ich nicht.

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
                                                                
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3Diplomatic transcription
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3)

Man hat mich hier überaus
herzlich empfangen und ich
erkannte, in Leuten, beivon denen
ich es kaum vermuthete, als
Freunde; derart, dass meine
Heimathlosigkeit, in einem Lande,
wo ich es weniger erwartete,
gemildert sich gestaltet. –

Auch erhoffe ich den Besuch
älterer u. sicherer Freunde: ja
ich
versteige mich zu der
Annahme einer Möglichkeit,
Sie selbst einmal hier zu sehen!

So will ich die Abwickelung
der Ereignisse abwarten, um
dann wieder hervorzutreten –
vorausgesetzt, dass es damit
nicht zu spaet werde. –

Ich freue mich dass Sie
in Ihrer Umgebung
Hofmannsthal, Wassermann
haben konnten. Wie sehr
habe ich einen solchen Umgang
in America vermisst!

                                                                
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4)

Ich bin sehr glücklich, dass solche
Männer
meiner gedachten. Kurz
bevor ich Ihren Brief empfing,
erkundigte ich mich, in den
Buchhandlungen, nach diesen
Autoren
. Leider bot sich mir, eine
erneute Anknüpfung, in der
Form von Büchern, nicht.

Ist es nicht tröstlich,
dass man von Einander
rascher Etwas erfahren kann?
Meine alte, in America
fast verschollene, Seele
vibriert wie ehemals in mir.
Betrachten wir den Augenblick
als einen neuen, diesmal
wohl endgiltigen, Anfang. –

In der schönen Erwartung
Ihrer Nachrichten grüsse
ich Sie verehrungsvoll und
in inniger Freundschaft,

als Ihr tief ergebener

Ferruccio B

                                                                
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Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B I, 892 | olim: Mus.ep. F. Busoni 745 |

proof Kalliope

Condition
Der Brief ist gut erhalten.
Extent
2 Blatt, 4 beschriebene Seiten
Collation
Zuerst die Vorder-, dann die Rückseiten beschrieben.
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in blauer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
  • Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen, eine Foliierung vorgenommen und das Briefdatum ergänzt hat
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
Image source
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 1234

Summary
Busoni fühlt sich in der Schweiz gut aufgenommen, aber heimatlos; hat in Amerika den Umgang mit Literaten vermisst; hat „ein ansehnliches Hauflein Arbeiten hinübergerettet und einige gute Pläne“.
Incipit
ich sandte Ihnen einen Notschei

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
March 27, 2024: proposed (transcription and coding done, awaiting proofreading)
Direct context
Preceding Following
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Beaumont 1987, S. 221 f.