Hans Huber an Ferruccio Busoni arrow_backarrow_forward

Basel · 16. November 1916

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Diplomatische Umschrift
Lesefassung
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Mus.ep. H. Huber 47 (Busoni-Nachl. B II)
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2273
[1]13
Musikschule
und
Konservatorium
Basel.
16 Nov. 1916

Lieber & Verehrter!

Das kleine Episödchen mit
Frau Dr. Speiser-Sarasin würde
ich ohne Bedenken begraben,
wenn Sie nicht in einer plötzlichen
Anwandlung von romanischer Liebens⸗
würdigkeit aus dem Gabentempel
Ihres großen Besitzthums eine
Bagatelle schenken wollten. Uebrigens
ist diese Dame eine große Graphologin
& hat mir die Geheimnisse Ihrer
Schrift entziffert:

„harmonische Künstlernatur, feiner
regelmäßiger Rhytmus, ausgebildeter
ästhetischer Sin̅, geistvoll im Erfassen
seines Berufs & seiner eigenen Produktionen;
ausgeprägte Sin̅lichkeit (!), dadurch
Macht im Leben, ein Doppelmensch! Sein
getheiltes B. mit dem F zusam̅enhängend
verrät eine starke Kompositionsgabe,
die zurücklaufenden Endungen sind
Beweise seiner Heimlichkeiten!“

Que voulez-vous de plus!! Frz.: Was wollen Sie mehr?

16. November 1916

Lieber und Verehrter!

Das kleine Episödchen mit Frau Dr. Speiser-Sarasin würde ich ohne Bedenken begraben, wenn Sie nicht in einer plötzlichen Anwandlung von romanischer Liebenswürdigkeit aus dem Gabentempel Ihres großen Besitztums eine Bagatelle schenken wollten. Übrigens ist diese Dame eine große Graphologin und hat mir die Geheimnisse Ihrer Schrift entziffert:

„harmonische Künstlernatur, feiner, regelmäßiger Rhythmus, ausgebildeter ästhetischer Sinn, geistvoll im Erfassen seines Berufs und seiner eigenen Produktionen; ausgeprägte Sinnlichkeit (!), dadurch Macht im Leben, ein Doppelmensch! Sein geteiltes B mit dem F zusammenhängend verrät eine starke Kompositionsgabe, die zurücklaufenden Endungen sind Beweise seiner Heimlichkeiten!“ Que voulez-vous de plus!! Frz.: Was wollen Sie mehr?

Mundi res severa? Lat.: der Ernst der Welt; Anspielung auf die im Kunstkontext geläufige, von Seneca entlehnte Devise „res severa verum gaudium“ (vgl. Seidel 1997).

Als Daten schlage ich Ihnen vor: Planungen für Abonnementkonzerte in Basel. den 17., 24.–31. Januar und 7. Februar. Wir dürfen nicht zu nahe am Neujahr anfangen.

Übrigens behandeln Sie uns in dieser Beziehung ganz autoritär. Sie dürfen und sollen frei schalten und walten!

Übrigens bewundere ich wieder Ihre absolute, reine Schaffenskraft: Kurz zuvor hatte Busoni begonnen, seine Turandot-Orchester-Suite zu einer Oper umzuarbeiten. nebst den pianistischen Großtaten diese geistige Mächtigkeit. Aber Frau Speiser liest ja alles dies aus Ihren Schriftzügen! –

Meine enorme Schultätigkeit zwingt mich leider, mit meiner mich verfolgenden Diabetis zu einem Spezialisten nach Solothurn zu gehen: Dieser Spezialist heißt: Ruhe und Freiheit. Ich reise 20. November 1916Montags für circa acht Tage in dieses reizende mittelalterliche Nest mit französischer Kultur als Unterlage und mit italianischer Kathedrale als Beigabe. Adresse Hôtel Krone! (ausgezeichnet!)

Sie sehen mich also am 21. November nicht; hoffentlich kann ich hinter meinem Glase Neuenburger Wein aus dem Schweizer Kanton Neuenburg. den Gedanken meines dadurch entstehenden künstlerischen Verlustes vergessen! Dafür erscheine ich aber am 5. Dezember!

Addio mio caro Ihr

Hans Huber

                                                                
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Mundi res severa? Lat.: der Ernst der Welt; Anspielung auf die im Kunstkontext geläufige, von Seneca entlehnte Devise „res severa verum gaudium“ (vgl. Seidel 1997).

Als Daten schlage ich Ihnen vor: Planungen für Abonnementkonzerte in Basel.
den 17. 24–31 Januar & 7 Februar.
Wir dürfen nicht zu nahe am Neujahr
anfangen.

Uebrigens behandeln Sie
uns in dieser Beziehung
ganz autoritär. Sie dürfen & sollen
frei schalten & walten!

                                                                
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Uebrigens bewundere ich
wieder Ihre absolute, reine Schaffens⸗
kraft: Kurz zuvor hatte Busoni begonnen, seine Turandot-Orchester-Suite zu einer Oper umzuarbeiten. nebst den pianistischen Großthaten
diese geistige Mächtigkeit. Aber
Frau Speiser siehtliest ja alles dieß aus
Ihren Schriftzügen! –

Meine enorme Schulthätigkeit
zwingt mich leider mit meiner
mich verfolgenden Diabetis
zu einem Spezialisten nach
Solothurn zu gehen: Dieser
Spezialist heißt: Ruhe & Freiheit.
Ich reise 20. November 1916Montags für circa
8 Tage in dieses reizende
mittelalterliche Nest mit
französischer Cultur als Unterlage
& mit italianischer Kathedrale
als Beigabe. Adresse Hôtel
Krone!
(ausgezeichnet!)

Sie sehen mich also am 21 Nov.
nicht; hoffentlich kan̅ ich
hinter meinem Glase Neuenburger Wein aus dem Schweizer Kanton Neuenburg.
den Gedanken meines

                                                                
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Addio mio caro
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Hans Huber

                                                                
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Dokument

doneStatus: zur Freigabe vorgeschlagen XML Faksimile Download / Zitation

Überlieferung
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2255 | olim: Mus.ep. H. Huber 47 (Busoni-Nachl. B II) |

Nachweis Kalliope

Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
1 Bogen, 4 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Hans Huber, Brieftext in schwarzer Tinte, in deutscher Kurrentschrift.
  • Hand des Archivars, der die Datierung mit Bleistift vorgenommen hat.
  • unbekannte Hand, welche die Briefnummer mit Rotstift eingetragen hat.
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
Bildquelle
Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz: 1234

Zusammenfassung
Huber zitiert Elisabeth Speiser-Sarasins Deutung der Handschrift Busonis; bestätigt Basler Konzertprogramme; kann wegen Diabetes-Kur in Solothurn Busonis zweiten Zürcher Klavierabend nicht besuchen.
Incipit
Das kleine Episödchen mit Frau Dr. Speiser-Sarasin

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
24. November 2017: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition